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Leo Trotzki 19350525 Offener Brief an das Weltproletariat

Leo Trotzki: Offener Brief an das Weltproletariat

[Nach Unser Wort, Halbmonatszeitung der IKD, 3. Jahrgang, Nr. 6 (58), Mitte Juni 1935, S. 1 f. mit Ergänzungen auf einem separaten Blatt]

Stalin hat gemeinsam mit dem französischen Außenminister Laval den Totenschein der III. Internationale unterzeichnet. Es gibt heute keinen einzigen Arbeiter mehr, mag er auch politisch noch so rückständig sein, der nicht wüsste, dass die Sowjetbürokraten nunmehr öffentlich und endgültig das internationale Proletariat verraten haben. Zum ersten Mal hat Stalin öffentlich ausgesprochen was ist, d.h., er hat angesichts der Welt die revolutionäre Internationale verraten und ist auf die Platform des Sozialpatriorismus getreten. {Er hat seinen öffentlichen Verrat seinen Lakaien in Frankreich durch Vermittlung eines bürgerlichen Ministers kundgetan, der in seinem eigenen Land die Arbeiterklasse verraten hat.}1

Die besoldeten Bürokraten des französischen Stalinismus haben sofort die nötigen Folgerungen daraus gezogen, und Vaillant-Couturier fügt in seinem Artikel zum Verrat noch die Niedertracht.

Im Augenblick, in dem die Arbeitermassen sich anschicken den Weg der Revolution zu betreten, in dem die erschütterten Bauernschichten kraftvoll den politischen Kampf aufnehmen, in dem die Kleinbourgeoisie, die von der sich immer verschärfenden ökonomischen Krise hart betroffen ist, in ihrer Gesamtheit immer radikaler wird, wagt dieser Bürokrat zu schreiben, es gäbe für die unabhängige Aktion des Proletariats im revolutionären Kampf gegen die Bourgeoisie keinen Ausgang mehr, alle Versuche seien gescheitert, und um einen Angriff auf die UdSSR unmöglich zu machen, gäbe es nichts anderes, als sich dem französischen Imperialismus in die Arme zu werfen. So häufte er auf den Verrat seines Meisters noch die Niedertracht.

Die III. Internationale ist in den Augen Aller der diplomatische Agent des Stalinismus geworden, mit Fehlern und Verbrechen überhäuft; nun tut dieser noch offen den entscheidenden Schritt zum Burgfrieden.

Fassen wir die Tatsachen zusammen.

Brest-Litowsk und der Pakt

Der Pakt zwischen Stalin und Laval liegt auf derselben Ebene wie der Friede von Brest-Litowsk. Die Sowjet-Regierung geht ein militärisches Bündnis mit einer imperialistischen Regierung ein, nicht, weil ihr das Spaß macht, sondern weil sie sonst erdrückt würde. Auf alle Fälle ist das die einzig mögliche Rechtfertigung für sie. Aber hier fängt auch der Versuch an, die Arbeiter dumm zu machen. Der Friede von Brest-Litowsk war eine Niederlage; jedem aber, der es hören will, erklärt man, der Pakt bedeute einen großen Sieg der UdSSR. Es ist nicht nötig das Kräfteverhältnis von 1918 mit dem heutigen zu vergleichen. Die Tatsachen sprechen für sich selbst. Welches auch die Unterschiede in der Weltlage und im Kräfteverhältnis sind, jedenfalls liegt der Vertrag zwischen Frankreich und den Sowjets prinzipiell und politisch absolut auf der gleichen Eben wie der Vertrag von Brest-Litowsk. {Durch ihre Abstimmung im Parlament haben die sozialistischen und kommunistischen Abgeordneten sich nicht über die Gründe und Motive der Aktion der Sowjetregierung auszusprechen, sondern ausschließlich über die Motive und Gründe der Regierung Flandin-Laval. Wenn sie ihr das Vertrauen aussprechen, dann wären sie genau solche Kanaillen wie die deutschen Sozialdemokraten von 1918.}

Die deutschen Sozialdemokraten stimmten im Reichstag für die Ratifizierung, indem sie erklärten, wenn die Bolschewisten einverstanden seien, hätten sie keinen Grund. Widerstand zu leisten. Die Bolschewisten erwiderten ihnen: «Ihr seid Canaillen. Wir sind physisch gezwungen zu unterzeichnen, um nicht erdrückt zu werden; ihr aber seid politisch frei, für oder gegen zu stimmen, und eure Abstimmung bedeutet Vertrauen oder Misstrauen in eure eigene Bourgeoisie.»

Wenn wir annehmen, dass die Sowjetregierung wirklich gezwungen ist, mit dem französischen Imperialismus ein Militärbündnis zu schließen, so ist doch das französische Proletariat keineswegs in dieser Zwangslage. {Sollen darum also die Kommunisten und die Sozialisten im Parlament für die Ratifizierung des französisch-russischen Vertrags stimmen? Und das, unabhängig von der Frage, ob die Sowjet-Diplomatie wirklich gezwungen war diesen Vertrag zu unterzeichnen, oder nicht?

Wenden wir uns zum historischen Beispiel von Brest-Litowsk zurück.}

Der Stalinismus und der Burgfrieden

Gestern noch behaupteten Thorez und Genossen: «Wir lieben unser Vaterland, aber unter dem kapitalistischen Regime können wir keine nationale Verteidigung anerkennen.»

Wenn diese Formel einen Sinn hat. so bedeutet sie: wir können unserer Bourgeoisie die Aufgabe nicht anvertrauen «unser Land.» zu verteidigen (das übrigens nicht «unser« ist). Heute sagt man: «Beklommenen Herzens werden wir gemeinsame Sache mit unserer Bourgeoisie machen, um die USSR zu verteidigen.» Wir fragen: Wie ist es möglich, dass die französische Bourgeoisie, die nicht gut genug ist, «unser geliebtes Land» zu verteidigen, für die Verteidigung der UdSSR gut genug ist? Hier liegt die ganze Frage. Man kann nicht auf halbem Wege stellen bleiben. Morgen werden die gleichen Leute genötigt sein, zu proklamieren: «Beklommenen Herzens werden wir gemeinsame Sache mit unserer Bourgeoisie machen, um unser Volk gegen die Barbarei Hitlers zu verteidigen, denn schließlich hat das französische Volk ein Recht auf dasselbe Opfer seiner Heroen wie das russische.

Die neue Stellung der kommunistischen Partei bedeutet in Wirklichkeit nichts Neues: es handelt sich einfach um Sozialpatriotismus.

Hat die Kriegsgefahr nur nationalen Charakter?

«Aber», wird man uns sagen, «die unmittelbare Gefahr kommt vom deutschen Faschismus, man muss also einen Block gegen ihn bilden.» Das ist ein Argument, das für diese oder jene diplomatische Kombination der Moskauer Regierung ausreichen mag. Aber eine solche Auffassung hat nichts mit Marxismus zu tun. Wir haben immer erklärt, dass die Kriegsgefahr das unvermeidliche Ergebnis der imperialistischen Weltgegensätze ist. Was den deutschen Faschismus wie die Kriegsgefahren entwickelt, das sind die ungeheuren Produktivkräfte des deutschen Kapitalismus, die Absatzgebiete suchen, suchen müssen, welches auch das politische Regime des Landes sein mag. Überall in Europa erstickt der fortgeschrittenste Kapitalismus in dem zu engen Rahmen des Nationalstaats. Frankreich marschiert Hand in Hand mit dem faschistischen Italien, mit dem quasi demokratischen England, gegen das faschistische Deutschland.

Haben wir vergessen, dass die revolutionäre Arbeit während des letzten Kriegs gerade darin bestand, die Propaganda der Entente bloßzustellen, die behauptete, die Demokratie gegen die preußischen Junker und die Hohenzollern zu verteidigen. Jetzt greift man wieder zu den alten Klischees, um die imperialistischen Gegensätze hinter angeblichen Konflikten politischer Systeme zu verstecken.

Auf diesem Wege gelangt man rasch dazu, die französische Demokratie zu idealisieren, wie wenn sie wirklich eine wäre, und sie dem Deutschland Hitlers entgegenzustellen.

Auch hier kann man nicht auf halbem Wege halt machen. Wir wiederholen: «Das ist die Politik des Sozialpatriotismus.»

Die Bauernfängertheorie vom «Angreifer»

Der Begriff des «Angreifers» ist für de Diplomatie bei ihrem höllischen Spiel sehr nützlich, das Proletariat aber kann er verhängnisvoll in die Irre führen. Um sich eines angeblichen Angreifers zu erwehren, deckt Frankreich Mussolini, lässt ihm Aktionsfreiheit nicht nur in Bezug auf Abessinien. sondern auch in Bezug auf Österreich. Aber gerade der wachsende Einfluss, den Italien auf Österreich nimmt. kann den deutschen Nationalismus bis zur Weißglut erhitzen und den Kriegsbeginn beschleunigen. Es handelt sich da um permanente Gegensätze, die sich andauernd vertiefen und verschärfen. Sie führen unvermeidlich zur Explosion, und die Präventivmaßnahmen der kapitalistischen Staaten müssen sich notgedrungen so auswirken, dass d!e Katastrophe hereinbricht.

Der Sozialpatriotismus stößt die UdSSR dem Untergang entgegen

«Das alles kann richtig sein», wird man uns erwidern, «aber wird es nicht dennoch nötig sein, sich vor der unmittelbaren Gefahr zu schützen, die schließlich doch von Hitler-Deutschland kommt?» Beachten wir vor allem eines: gestern noch propagierte die Komintern in Deutschland die Losung von der »nationalen Befreiung», die schließlich ohne Krieg nicht möglich war. Heute will man den Status quo von Versailles verteidigen, um den Krieg zu vermeiden. Wenn man den Standpunkt des Klassenkampfs und der internationalen Revolution aufgibt und das Heil außerhalb des revolutionären Kampfs im eigenen Land und gegen die eigene Regierung zu suchen beginnt, ist man verloren. Heute wird man den Verrat mit der Notwendigkeit verdecken, «den Frieden zu retten», morgen, wenn der Krieg trotzdem ausbrechen wird, wird man den Verrat fortsetzen, um die Demokratie zu retten oder um die UdSSR zu retten. Obgleich weder der Friede, noch die Demokratie, noch die UdSSR dadurch gerettet werden können, dass das Proletariat abdankt.

Wenn sich nach einer neuen Niederwerfung Deutschlands Frankreich, Italien und England gegen ihren vorübergehenden Verbündeten zusammenschlössen, glaubt man dann, dass man auf einmal das Proletariat von der Bourgeoisie trennen könnte, die, mit Hilfe der Arbeiterparteien, sich zum Herrn des Staates aufgeschwungen hätte, nachdem es ihr gelungen war, mittels des Burgfriedens die Arbeiterklasse mundtot zu machen und zu demoralisieren?

Das einzige Kapital zu verschwenden, über das wir verfügen, nämlich die revolutionäre Unabhängigkeit des Proletariats, und das zu Gunsten von zweifelhaften und schwankenden diplomatischen Kombinationen, das hieße, den Weg zur revolutionären Zukunft total versperren. Das Grundverbrechen des Reformismus besteht ja gerade darin, dass er, schattenhaften Reformen zuliebe, durch die Zusammenarbeit der Klassen das Proletariat zermürbt. Diese Politik ist zehn-, hundert-, tausendmal verbrecherischer, wenn es sich nicht um eine friedliche Periode parlamentarischer Kombinationen handelt, sondern um den Krieg, der alle Mittel zur Niederdrückung in den Händen der Bourgeoisie konzentriert und dem Proletariat nur eine einzige Waffe lässt: seine politische Unabhängigkeit, seinen Hass gegen die Bourgeoisie, seinen revolutionären Willen.

Wer hat übrigens das Recht zu behaupten, dass die Unterwerfung des französischen Proletariats unter seine Bourgeoisie unvermeidlich den deutschen Faschismus erschrecken und zum Zurückweichen bringen muss? Das lässt sich leicht behaupten; in Wirklichkeit aber wird sich auf die Dauer das Gegenteil als richtig herausstellen.

Hitler hat den Geist des deutschen Proletariats noch nicht gebändigt. Um das fertigzubringen bedient sich seine Propaganda des Arguments: «Man kreist uns ein, man hasst uns, man will uns erdrücken, es handelt sich um einen Kampf der Rassen.» Schon allein die Tatsache, dass der Arbeiterstaat gezwungen ist, sich mit der französischen Bourgeoisie gegen Deutschland zu verbinden, verstärkt die Stellung der Nazi gegenüber dem deutschen Proletariat. Wenn das französische Proletariat entschieden diesem Bündnis beitritt und auf seine Klassenunabhängigkeit verzichtet, so wird in Deutschland die Theorie vom Rassenkampf sich ungeheuer entwickeln, und die Theorie vom Klassenkampf trägt die Kosten. Vom unwiderstehlichen nationalen Aufschwung getrieben, den er selbst entfesselt hat, kann Hitler genötigt sein, den Krieg zu beginnen.

Eine offene, unwiderstehliche, unzweideutige Oppositionsstellung aber, die das französische Proletariat dem französischen Imperialismus gegenüber einnehmen würde, bedeutete eine Missbilligung des Rassenkampfes und würde der deutschen Revolution einen mächtigen Antrieb geben.

Der Verrat Stalins und die Krise in der UdSSR

Die USSR hat sich in Genf eifrig an der Ausarbeitung von Maßnahmen gegen den Terrorismus und die Terroristen beteiligt. Der Ausgangspunkt für diese Wirksamkeit war die Ermordung des jugoslawischen Königs. Wir Marxisten sind Gegner des individuellen Terrors, haben aber immer die nationale Terroristen gegen die imperialistische Unterdrückung in Schutz genommen. Diese elementare Tradition ist jetzt aufgegeben worden, im nationalen Kampfe wird jetzt die UdSSR ein Stützpfeiler der bestehenden Ordnung und des Status quo.

Im Lichte des Kommuniqués von Stalin und Laval fangen die internationalen Arbeiter besser zu begreifen an, warum Stalin eine neue blutige Verfolgung der Bolschewisten-Leninisten und der Sinowjewgruppe begonnen hat. Bevor [er] endgültig der Bourgeoisie den Kremlin ausliefert, muss er alles niederschlagen und vernichten, was dagegen Protest erheben könnte.

{Der Stalinismus als Unterstützung des Sozialpazifismus

Der Stalinismus – das ist der Feind! Aber man darf auch den Reformismus nicht vergessen und nicht verkennen. Die verräterische Politik der Stalinisten bedeutet für ihn eine ungeheure Hilfe. Jetzt schon treten die Parteispitzen der französischen Sozialdemokratie, Blum und Paul Faure offen für den Gedanken der Verteidigung der «Heimat» ein, weil auch diese Pharisäer sich immerhin nicht zur «bedingungslosen» Verteidigung bekennen können. Die Dummheit, die Landesverteidigung des bürgerlichen oder proletarischen nationalen Staates an «Bedingungen» knüpfen zu wollen, ist offenbar. Wenn unser Land so wie es ist, wert ist verteidigt zu werden, muss man es verteidigen, welches auch der Ursprung des Krieges sein mag; es wäre absurd, «unser Land» für die Dummheiten oder Verbrechen von Laval und Konsorten zu bestrafen. Für uns ist der Klassencharakter entscheidend, und nicht die Politik der Regierung. Die Bolschewiki-Leninisten verweigern den demokratischsten Regierungen des bürgerlichen Staates das Budget und verteidigen die USSR trotz Stalin und seiner Schandtaten und gegen ihn.

Aber die absurde Idee von der «bedingten» Verteidigung des bürgerlichen Staates hat immerhin eine ernsthafte politische Bedeutung. Wenn Blum der Bourgeoisie alles zubilligte, was sie verlangt, würde er sich in nichts von den bürgerlichen Demokraten oder sogar von einigen Rechten unterscheiden. Er verlöre das Vertrauen des Proletariats und würde zu einem Nichts werden. Indem er für den Pazifismus bis an die Schwelle des Krieges eintritt, behält er die Möglichkeit, der Bourgeoisie während des Krieges einen doppelten Dienst zu erweisen: ein großer Teil des Proletariats wird sich sagen: «wenn dieser erprobte Pazifist jetzt den Burgfrieden schließt, so bedeutet das. dass uns der Krieg aufgezwungen und die Verteidigung berechtigt ist.» Um diese Mission erfüllen zu können, muss Blum die Befehle Stalins zurückweisen. Dieses perfide Spiel wird durch die sozialpatriotische Wendung der Stalinisten ungeheuer erleichtert.}

Der Völkerbund und der Glaube Blums

Leon Blum und Genossen beklagen sich, dass das Kommuniqué nicht gehörig Notiz vom Völkerbund nimmt. Immerhin hat der Parteivorstand der französischen Sozialdemokratie im Januar das famose Programm herausgebracht, das die Notwendigkeit konstatiert, die Rüstung des bürgerlichen Staats zu zerstören und ihm die Interessen des arbeitenden Volkes, das Interesse am Frieden mit einbegriffen, entgegenzustellen. Was ist der Völkerbund? Auch er ist ein Rüstzeug des bürgerlichen Staates oder mehrerer verbündeter und zu gleicher Zeit entgegengesetzter politischer Staaten. Wenn das Rüstzeug des bürgerlichen Staats nur Zerstörung verdient, wie kann man dann die Hoffnung auf eine bessere Zukunft auf den Völkerbund gründen, der gerade aus diesem Rüstzweck hervorgeht?

Der Jaurèsismus lehrte, dass die Demokratie oder der demokratische Staat («das bürgerliche Rüstzeug») allmählich einem besseren Geschick entgegengeht und langsam, aber stetig auf den Sozialismus zu marschiert. Von diesem Gesichtspunkt aus musste man natürlich dem Völkerbund die Stellung einräumen, die internationalen Beziehungen der Demokraten regeln zu können.

Jetzt sind nicht nur die Zentristen Pivert und Zyromsky, sondern auch Blum und Paul Faure genötigt, zu erkennen, dass man die Rüstung des bürgerlichen Staats zerstören und vernichten muss. Wie können sie unter diesen Bedingungen den Glauben an den Völkerbund bewahren?

Die gleiche Frage erhebt sich in Beziehung auf die Abrüstung. Zyromsky gab seinem Bedauern darüber Ausdruck, dass sein neuer Freund Litwinow das Losungswort «Entwaffnung» zu Gunsten der kollektiven Sicherheit aufgab. Der gleiche Zyromsky hat in seinem letzten Artikel den «Sozialpazifismus» in der inneren Politik abgelehnt, d. h. die Hoffnung, die soziale Frage friedlich zu lösen. Zyromsky begreift nicht, dass der äußere Sozialpazifismus die Kehrseite der Medaille vom inneren Sozialpazifismus darstellt. Wenn die Bourgeoisie sich entwaffnen lässt, um den Frieden zu sichern, so wird sie zugleich in ihrem Kampf gegen das Proletariat entwaffnet sein. Wir sehen hier den gleichen Widerspruch wie in der Frage vom Völkerbund. Man erkennt, wenigstens mündlich, die Notwendigkeit an, dass das Proletariat sich bewaffnen und mächtige Stützpunkte im bürgerlichen Heer suchen muss, um den inneren Klassenkampf siegreich zu beenden. Gleichzeitig verpflichtet man sich, den Frieden unter dem kapitalistischen Regime durch allgemeine Entwaffnung zu sichern. Warum also eine Revolution gegen eine humanitär gesinnte Bourgeoisie machen, die sich auf Grund einer Vereinbarung des Völkerbunds entwaffnen lassen wird?

Die Lösung dieses Rätsels ist sehr einfach: diese Leute haben nicht das mindeste Vertrauen weder in die Revolution noch in die Zerstörung der Rüstung der bürgerlichen Armee. Sie beweisen es übrigens, indem sie das Losungswort von der «Entwaffnung der faschistischen Verbände» wiederholen. Zyromsky begreift nicht, dass diese famose revolutionäre Forderung die stupideste Betätigung des Sozialpazifismus darstellt.

Sollen wir die der Arbeiterregierung nützlichen Bündnisse unterstützen?

Man wird uns entgegenhalten: «Aber doch erkennt ihr Bolschewisten-Leninisten an, dass die Sowjetregierung das Recht hat, wenn es ihr unmittelbares Heil erfordert, Bündnisse mit den imperialistischen Staaten zu schließen. Müssen dann nicht auch wir, Arbeiter, für diese Bündnisse eintreten, wenn sie der Arbeiterregierung nützlich sind?»

Keineswegs! In keinem Fall! Wir haben schon angegeben, warum die deutschen Sozialisten die Pflicht gehabt hätten, den Frieden von Brest-Litowsk zu bekämpfen, obgleich er in einem bestimmten Augenblick für die Existenz der Sowjets unbedingt nötig war.

Fassen wir die gleiche Frage konkreter und von einem mehr praktischen Gesichtspunkt aus. Der revolutionäre Defätismus bedeutet keineswegs die Sabotage der Pseudo-Landesverteidigung durch eine handelnde Minderheit. Es wäre absurd, anzunehmen, die revolutionären Arbeiter sollten im Kriegsfall die Brücken sprengen, die Eisenbahnen zerstören usw. Die revolutionären Arbeiter müssen, wenn sie die Minderheit darstellen, am Krieg als Sklaven des Imperialismus teilnehmen, die sich ihrer Sklaverei bewusst sind. Zugleich müssen sie durch das Wort die Umwandlung des imperialistischen Kriegs in einen sozialen vorbereiten.

Wenn es der USSR gelingt (was übrigens keineswegs sicher ist), sich im Fall eine» Angriffs durch den deutschen Imperialismus die militärische Hilfe des bürgerlichen Frankreich zu sichern, so wäre diese durch die Bourgeoisie geleistete Hilfe nicht durch die Tatsache behindert, dass die revolutionäre Minderheit weiterhin ihre Pflicht tut, indem sie unablässig den Sturz der Bourgeoisie vorbereitet, welches auch die militärische Hilfeleistung des imperialistischen Generalstabs ist. Diese wird immer unsicher, zweideutig, verräterisch sein.

Eine weit wirksamere Hilfe für die UdSSR sowohl wie für die Entwicklung der weltrevolutionären Bewegung wäre das revolutionäre Echo, das in Deutschland durch eine revolutionäre Entwicklung in Frankreich ausgelöst würde.

Wenn die revolutionäre Bewegung in Frankreich im Kriegsfall zu einer solchen Macht würde, dass sie die militärische Maschinerie der Bourgeoisie direkt bedrohte und ihr Bündnis mit der UdSSR kompromittierte, so würde das bedeuten, dass das französische Proletariat imstande ist, die Macht in offenem Kampf zu erobern. Will man es in einer solchen Lage zurückhalten? Dann soll man es sagen. Wäre denn nicht eine Niederlage zu riskieren? Sicherlich. Die Revolution schließt wie der Krieg ein Risiko in sich, da für beide die Gefahr ein wesentliches Element darstellt. Aber nur jämmerliche Philister möchten aus einer internationalen Lage voller Todesgefahren ohne jedes Risiko herauskommen.

So verhindert also der revolutionäre Defätismus die Sowjetregierung nicht, sich unter eigener Verantwortung irgendwelche Pakte oder imperialistische militärische Hilfsleistungen zu nutze zu machen. Aber diese vorübergehenden Abmachungen können und sollen keineswegs das Weltproletariat zurückhalten, dessen Aufgabe, besonders während eines Kriegs, es ist, die Liquidation des Imperialismus mittels der triumphierenden Revolution vorzubereiten.

Der Pakt ist das Resultat der Niederlage des Weltproletariats

Der Pakt ist charakteristisch für die Schwäche der UdSSR, und nicht für ihre Stärke. Dieser neue Vertrag ist das Resultat der Niederlage in China, Deutschland, Österreich, Spanien.

Da der weltrevolutionäre Faktor geschwächt ist, sieht sich die Regierung der UdSSR genötigt, sich dem imperialistischen Faktor anzupassen. Das ist die einzige richtige Formulierung des französisch-russischen Vertrags.

Die Kremlbürokraten, die nur an die Stärkung der UdSSR denken, bestimmen so die Unabhängigkeit des Arbeiterstaats von der Weltbewegung der Arbeiter: je mehr Niederlagen die letztere erleidet, umso stärker wird angeblich die internationale Stellung der UdSSR. Das ist ein Scharlatanstandpunkt, der angeprangert werden muss.

Aber wenn, wegen der Niederlagen in einer Reihe von Ländern, die Sowjetregierung gezwungen Ist, sich vorübergehend mit den Bedrückern des französischen Proletariats zu verbrüdern, so ist das kein Grund, die Arbeiterklasse weiter zu schwächen, indem man sie demoralisiert, und so die internationale Lage zu verschlimmern, die Revolution zurückzudrängen und folglich die UdSSR direkt zu bedrohen.

Das Heil liegt in der revolutionären Politik des Proletariats

Wenn es sich um Ereignisse im Weltmaßstab handelt, so hat die revolutionäre Partei nicht das Recht, sich von sekundären, episodischen, zufälligen und immer problematischen Betrachtungen leiten zu lassen. Sie muss auf weite Sicht arbeiten; wenn sie die revolutionäre Stärke der Klasse wahrt und mehrt, kann sie auch auf alle Fragen zweiten Rangs einen um so nachhaltigeren Einfluss ausüben: revolutionäre Politik ist immer die praktischste Politik. Der Stalinismus — das ist der Feind! Er hat die UdSSR geschwächt, weil er de Arbeiter und Bauern Chinas der Bürokratie den Kuomintang, die englischen Arbeiter der Bürokratie der Trade Unions ausgeliefert hat usw. Durch die Resultate erschreckt, hat er die abenteuerliche Karte der «dritten Periode» ausgespielt. Dadurch sind die Resultate noch verhängnisvoller geworden. Jetzt haben Stalin u. Gen. alles Vertrauen in die revolutionären Kräfte verloren. Sie machen reine, will sagen die schmutzigste Diplomatie. Sie wollen nur noch Kombinationen mit diesem oder jenem Imperialismus, gegen irgend einen anderen Imperialismus. Sie haben eine Höllenangst, die französischen Arbeiter könnten ihre Kombinationen kompromittieren. Der französische Thälmann, Thorez u. Gen. machen diese schändliche Auffassung zu der ihren. Auch sie sehen in der weltrevolutionären Bewegung ein Hindernis für das Heil der UdSSR. Sie folgen der Anordnung, die Revolution zu bestrafen und zu unterdrücken.

Sie werden öffentlich zur Stalin-Polizei zur Beaufsichtigung des französischen Proletariats; noch mehr: die Stalin-Polizei wird gleichzeitig zur Polizei des französischen Imperialismus.

Der Sozialismus in einem Land führt zum Burgfrieden

Als wir Bolschewisten-Leninisten die Theorie vom Sozialismus in einem Land zu bekämpfen begannen, konnte es scheinen, als handle es sich nur um eine akademische Frage. Jetzt sieht man die historische Funktion dieser Formel: sie hatte die Aufgabe, das Schicksal der UdSSR von dem des Weltproletariats loszulösen. Sie hat für die Sowjetbürokratie eine nationale Basis geschaffen, die ihr gestattete, die gesamte Macht in ihrer Hand zu konzentrieren. Das neue Gesetz, das Todesstrafe für zwölfjährige Kinder vorsieht, beweist mit erschreckender Beredsamkeit nicht nur, dass die UdSSR sehr weit vom Sozialismus entfernt ist, sondern auch, dass unter dem Kommando der allmächtigen Bürokratie die soziale Zersetzung breiter Arbeiter- und Bauernschichten in furchtbarem Maß zunimmt, trotz aller von den Arbeitern und Bauern so teuer erkauften technischen Fortschritte. Und gerade im Augenblick, in dem die Kriegsgefahr den von der Oktoberrevolution geschaffenen Staat bedroht, zieht die Regierung der UdSSR die letzte Folgerung aus der Theorie vom Sozialismus in einem einzigen Land, indem sie das ABC des Marxismus prostituiert, indem sie die Komintern noch unter die Linie der Scheidemann, Noske, Renaudel, Vandervelde u. Gen. herunterbringt.

Die III. Internationale ist tot. Es lebe die IV. Internationale!

Als wir nach der Kapitulation der Komintern vor Hitler proklamierten: dies ist der «4. August» der III. Internationale, da wurde von vielen Seiten Protest erhoben: der «4. August», sagte man uns, sei ein bewusster Verrat gewesen, während die Kapitulation vor Hitler nur die unvermeidliche Folge einer falschen Politik sei. Jetzt sehen wir, wie oberflächlich eine solche, rein psychologische Beurteilung ist. Die Kapitulation war der Ausdruck einer inneren Fäulnis, die durch die angehäuften Fehler und Verbrechen entstand. Diese Fäulnis bedeutete die Kapitulation vor dem imperialistischen Krieg und vorher noch die vor der imperialistischen Bourgeoisie, die den Krieg vorbereitet. Darum beruht der «4. August» der III. Internationale schon in der Kapitulation vor Hitler. Es ist das große Verdienst der Bolschewisten-Leninisten, dies rechtzeitig festgestellt zu haben.

Der Leninismus ist durch den Stalinismus verraten und in den Staub getreten worden.

Die dringende Aufgabe heute ist es, die Avantgarde des internationalen Proletariats zu konstituieren. Hierzu brauchen wir eine Fahne und ein Programm, und das kann nur die Fahne und das Programm der IV. Internationale sein.

Die III. Internationale ist tot. Es lebe die IV. Internationale!

Das Internationale Sekretariat der IKL (B.-L.)

Genf, Ende Mai 1935.

1 Auf einem separaten Blatt wurden vier „Ergänzungen zum offenen Brief an das Weltproletariat“ veröffentlicht mit der Fußnote: „Diese Stellen konnten aus naheliegenden Gründen in «U.W.» nicht veröffentlicht werden.“ Sie werden hier an den dort angegebenen Stellen in geschweiften Klammern ergänzt

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