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Leo Trotzki 19351031 Romain Rolland führt einen Auftrag aus

Leo Trotzki: Romain Rolland führt einen Auftrag aus

[Nach Unser Wort, Halbmonatszeitung der IKD, 3. Jahrgang, Nr. 12 (64), Anfang Dezember 1935, S. 4]

Die «Humanité» vom 23. Oktober druckte einen Brief des Herrn Romain Rolland, der die Kritik eines Schweizer Pastoren an der Sowjetunion zurückweisen sollte. Wir hätten nicht das geringste Interesse, uns in die Auseinandersetzungen zwischen dem Apologeten des Gandhismus und dem protestantischen Pazifisten einzumischen, berührte Herr Rolland selbst nicht nebenbei – und das in überaus unpassender Form – eine Reihe von brennenden Fragen allgemeinen wie persönlichen Charakters. Wir können und wollen von Herrn Rolland nicht marxistische Analyse, politische Klarheit oder revolutionären Instinkt verlangen; aber wir haben, sollte man meinen, ein Recht, von ihm psychologischen Spürsinn zu erwarten. Leider ist, wie wir nun sehen werden, davon bei ihm auch nicht eine Spur mehr vorhanden.

Zur Rechtfertigung des Terrors, den Stalin vornehmlich gegen die eigene Partei richtet, schreibt R. Rolland. Kirow sei ermordet worden «von einem Fanatiker, heimlich unterstützt von Leuten wie Kamenew und Sinowjew». Mit welchem Recht erhebt Rolland eine solch verantwortungsvolle Bezichtigung? Jene, die sie Rolland eingaben, haben sie glatt erlogen. Gerade in dieser Frage, wo die Politik sich mit Psychologie kreuzt, sollte Rolland sich unschwer ausfinden, wenn Übereifer ihn nicht blendete. Verfasser dieser Zeilen hat nicht den geringsten Grund, die Verantwortung zu übernehmen für das Wirken von Sinowjew und Kamenew, die an der bürokratischen Entartung der Partei und der Sowjets nicht wenig mitgeholfen haben. Allein, es ist ausgeschlossen, ihnen Beteiligung an einem Verbrechen zuzuschreiben, das, jeden politischen Sinnes bar, zugleich ihren Ansichten, Zielen und ihrer ganzen politischen Vergangenheit widerspricht. Selbst wenn sie plötzlich zu Anhängern des individuellen Terrors geworden wären (eine rein phantastische Hypothese), so würden sie ,nicht Kirow als Opfer haben aussuchen können. Wer die Geschichte der Partei und ihren Personenstab kennt, für den ist nur zu deutlich, dass Kirow, verglichen mit Kamenew und Sinowjew eine drittrangige bürokratische Figur war; seine Beseitigung konnte nicht den geringsten Einfluss weder auf das Regime noch auf die Politik ausüben. Selbst im Prozess gegen Sinowjew und Kamenew (einer der unverschämtesten Prozesse, die es je gab!) wurde die anfängliche Anklageversion nicht aufrechterhalten. Welches Recht, außer dem der Beflissenheit, hat Herr Rolland, von Kamenews und Sinowjews Beteiligung an Kirows Ermordung zu sprechen?

Erinnern wir daran, dass nach der Absicht ihrer Urheber die Anklage auch auf den Verfasser dieser Zeilen ausgedehnt werden sollte. Viele erinnern sich wahrscheinlich noch der Rolle des «lettischen Konsuls», des agent provocateur der GPU, der von den Terroristen einen Brief «zur Übermittlung an Trotzki» zu erhalten versuchte. Einer der Mietschreiber von der «Humanité» (er heißt, scheint's, Duclos) schrieb in der Hitze sogar, Trotzkis Beteiligung an Kirows Ermordung sei «erwiesen». Alle Umstände dieser Affäre sind in meiner Broschüre «Die Stalin-Bürokratie und die Ermordung Kirows» dargelegt. Warum wagte es Romain Rolland nicht, diesen Teil des groben und frechen thermidorianischen Amalgams zu wiederholen? Nur deshalb, weil es mir möglich war. rechtzeitig die Provokation und ihre direkten Organisatoren. Stalin und Jagoda, aufzudecken. Kamenew und Sinowjew haben diese Möglichkeit nicht; sie sitzen im Gefängnis auf Grund einer offenkundig falschen Anklage. Sie kann man ungestraft verleumden. Doch steht das Rolland an?

Im angeblichen Zusammenhang mit der Kirowaffäre tötete die Bürokratie mehrere Dutzend der Revolution vorbehaltlos ergebener, doch der Willkür und den Privilegien der herrschenden Kaste ablehnend gegenüberstehender Menschen. Will Herr Rolland das vielleicht leugnen? Wir schlagen eine in der Zusammensetzung vorwurfsfreie internationale Kommission vor zwecks Untersuchung der Verhaftungen, Prozesse. Erschießungen. Verbannungen usw., und sei es nur im Zusammenhang mit der Kirowaffäre allein. Erinnern wir nochmals daran, dass, als wir 1922 die Sozialrevolutionäre wegen der terroristischen Anschläge verurteilten, wir Vandervelde, Kurt Rosenfeld und andere ganz erklärte Gegner des Bolschewismus zum Gericht zuließen. Indessen war die Lage der Revolution damals ungleich schwieriger. Wird Herr Rolland jetzt unseren Vorschlag akzeptieren? Das ist zu bezweifeln, denn diesen Vorschlag wird – und kann – Stalin nicht akzeptieren. Die Terrormaßnahmen, die in der ersten, sozusagen «jakobinischen». Periode der Revolution zur Anwendung kamen, ergaben sich aus der eisernen Notwendigkeit ihres Selbstschutzes. Von diesen Maßnahmen konnten wir der gesamten Weltarbeiterklasse offen Rechenschaft ablegen. Der Terror der heutigen, thermidorianischen Periode dient dem Schutz der Bürokratie nicht so sehr vor dem Klassenfeind, als vielmehr vor den fortgeschrittenen Elementen des Proletariats selbst. Romain Rolland wird somit zum Anwalt des thermidorianischen Terrors.

In den allerletzten Tagen meldete die Sowjetpresse die Aufdeckung einer neuen Verschwörung, in der angeblich «Trotzkisten» sich mit Weißgardisten und dunklen Elementen zusammengetan hätten in der Absicht … die Sowjeteisenbahnen zu zerstören. Nicht ein ernster Mensch in der Sowjetunion wird die neue freche Unterschiebung glauben, die auf alle früheren Amalgame ein mörderisches Licht wirft. Das hindert jedoch die Stalinclique nicht, einige junge, der Beleidigung der Bürokratie schuldige Bolschewiki zu erschießen. Wie aber wird sich Herr Rolland dazu verhalten? Wird er etwa versuchen, die zweifelnden Pastoren davon zu überzeugen, dass die «Trotzkisten» tatsächlich die Sowjeteisenbahnen zerstören?

Auf dem Gebiet der allgemeinen politischen Fragen sind Herrn Hollands Behauptungen nicht weniger kategorisch und nicht einwandfreier. Um die heutige Politik der Sowjets und der Komintern zu verteidigen, greift R. Rolland, dem alten Ritual zufolge, zur Brest-Litowsker Erfahrung, Hören wir zu! «1918 in Brest-Litowsk», schreibt er, «sagte Trotzki zu Lenin: «wir müssen ritterlich sterben». Lenin antwortete; «Wir sind keine Ritter, wir wollen leben und wir werden leben». Woher hat Herr Rolland diese Kunde? In Wirklichkeit ist Lenin gar nicht in Brest-Litowsk gewesen. Ging das Gespräch vielleicht über die direkte Leitung vor sich? Aber alle Dokumente jener Periode liegen gedruckt vor und enthalten selbstverständlich nicht den, sagen wir es aufrichtig, etwas blöden Satz, den einer von Hollands Informatoren ihm zwecks Weiterverbreitung eingab. Wie aber brachte, davon abgesehen, der alte Schriftsteller nicht den psychologischen Instinkt auf, den karikiert falschen Charakter des ihm mitgeteilten Dialoges heraus zu fühlen?

Mit Rolland in nachträglichen Streit über die Brest-Litowsker Unterhandlungen zu treten, wäre nicht angebracht. Da aber Rolland heute Stalin fast ebenso vertraut wie früher Gandhi, so gestatten wir uns, auf die Erklärung hinzuweisen, die Stalin am 1. Februar 1918 abgab, d.h. in den letzten Stunden der Brest-Litowsker Beschlüsse: «Den Ausweg aus der schweren Lage gab uns der mittlere Standpunkt, die Position Trotzkis». Ich zitiere nicht Erinnerungen, nicht Unterhaltungen mit Gesprächspartnern, und sei es noch so hochgestellten, sondern die offiziellen Protokolle der ZK-Sitzungen, herausgegeben 1929 vom Staatsverlag. Das angeführte Zitat (S. 214) kommt, für Holland gewiss überraschend. Aber es müsste ihn überzeugen, wie unvorsichtig es ist, wenn einer über Dinge schreibt, von denen er nichts versteht.

Herr Rolland lehrt uns – mich im Besonderen –, der Sowjetstaat könne nötigenfalls auch mit den Imperialisten Abkommen schließen. Lohnte es, wegen solcher Offenbarungen nach Moskau zu fahren? Jeder französische Arbeiter ist täglich gezwungen, mit den Kapitalisten, solange sie existieren, Kompromisse zu schließen. Dem Arbeiterstaat kann man nicht ein Recht abstreiten, das einer jeden Gewerkschaft zukommt. Wenn aber der Gewerkschaftsführer beim Abschluss des Kollektivvertrages öffentlich erklärt, er anerkenne und billige das kapitalistische Eigentum, so würden wir von einem solchen Führer sagen, er ist ein Verräter. Stalin schloss nicht bloß ein praktisches Abkommen, sondern billigte darüber hinaus und unabhängig davon die Verstärkung des französischen Militarismus. Jeder bewusste Arbeiter weiß, dass das französische Heer vor allem zur Hütung des Eigentums einer Handvoll Ausbeuter und zur Aufrechterhaltung der Herrschaft des bürgerlichen Frankreich über sechzig Millionen Kolonialsklaven da ist. Wenn unter dem Einfluss der berechtigten Empörung, die Stalins Erklärung unter den Arbeitern hervorrief, heute Versuche unternommen werden, darunter auch durch Vermittlung Rollands, zu erklären, «fast» alles bleibe beim Alten, so glauben wir davon nicht ein Jota. Die freiwillige und demonstrative Billigung des französischen Militarismus durch Stalin hatte, so muss man annehmen, nicht zur Absicht, die französische Bourgeoisie aufzuklären, die keinerlei Ermunterung bedurfte und die Erklärung überaus ironisch aufnahm. Stalins Erklärung konnte nur ein einziges Ziel die Solidarität der französischen Kompartei mit der Außenpolitik Leon Blums, des gestrigen «Sozialfaschisten», der sich jedenfalls treu geblieben ist, — verfolgen: den Widerstand des französischen Proletariats gegen den eigenen Imperialismus zu schwächen und um diesen Preis das Vertrauen der französischen Bourgeoisie zur Festigkeit des Bündnisses mit Moskau zu erkaufen. Diese Politik wird, trotz allem Gerede auch heute beharrlich durchgeführt. Der «Humanité» Geschrei gegen Laval ändert absolut nichts an der Tatsache, dass die Komintern eine politische Agentur des Völkerbundes geworden ist, desselben Völkerbundes, wo Laval oder sein Spießgeselle Herriot oder sein britischer Partner Baldwin, der nicht um ein Haar besser ist als Laval, schalten und walten.

Mit gering begründeter Autorität dekretiert Romain Rolland, die neue Kominternpolitik bleibe streng in Übereinstimmung mit Lenins Lehre. Danach wäre das Bauchkriechen vor Eduard Herriot, der das französische Kapital durchaus nicht zu verraten gedenkt, — die Unterstützung des Völkerbundes, dieses Generalstabs der imperialistischen Verschwörer, durch die Komintern — so wäre dies alles Ausfluss der Lehre Lenins? Nein, Herr Rolland sollte sich lieber wieder mit Gandhi befassen.

Die sehr kluge, gehaltene und treffende Warnung Marcel Martinets hat auf Rolland leider keine Wirkung gehabt. Statt stehen zu bleiben und kritisch Umschau zu halten, ist er endgültig unter die offiziellen Apologeten der thermidorianischen Bürokratie gegangen. Vergeblich halten diese Herren sich für «Freunde» der Oktoberrevolution! Die Bürokratie ist eines, die Revolution etwas anderes. Auch für den konservativen Bourgeois Herriot ist der Volkskommissar Litwinow «mein Freund». Daraus folgt nicht, dass die proletarische Revolution Eduard Herriot als ihren Freund zu betrachten habe.

Den zukünftigen Tag der Revolution kann man nicht anders vorbereiten als im unversöhnlichen Kampf gegen das Regime des bürokratischen Absolutismus, der zur schlimmsten Bremse der revolutionären Bewegung wurde. Die Verantwortung für die terroristischen Stimmungen der Sowjetjugend trägt einzig und allein die Bürokratie, die die Vorhut der Arbeiterklasse unter einem Bleideckel erstickt und von der Jugend nichts als blinden Gehorsam und Lobgesang auf die Führer verlangt.

Die Bürokratie hat in ihren Händen grandiose Mittel konzentriert, über die sie niemandem Rechenschaft ablegt. Diese unkontrollierten Mittel geben ihr unter anderem die Möglichkeit, königlich einige nützliche «Freunde» zu werben und zu beschenken. Viele von ihnen unterscheiden sich ihrem psychischen Gepräge nach wenig von jenen französischen Akademikern und Journalisten, die berufsmäßig Mussolinis Freunde sind. Wir wollen Romain Rolland mit diesem Typus nicht in eine Reihe stellen. Aber wozu verwischt er selbst so unvorsichtig die Grenzlinie? Wozu übernimmt er einen Auftrag, der ihm nicht ansteht?

31. Oktober 1935.

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