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Leo Trotzki 19350610 Stalins Verrat und die Weltrevolution

Leo Trotzki: Stalins Verrat und die Weltrevolution

Brief an die französischen Arbeiter

[Nach Unser Wort, Halbmonatszeitung der IKD, 3. Jahrgang, Nr. 7. (59), Anfang Juli 1935, S. 1 f.]

Liebe Genossen!

Heute verlasse ich Frankreich, und dieser Umstand gibt mir endlich die Möglichkeit, offen vor Euch zu sprechen: solange ich auf französischem Boden weilte, war ich zu Schweigen verurteilt.

Vor zwei Jahren gestattete mir die «linke» Daladierregierung in ihren Flitterwochen, mich in Frankreich niederzulassen mit angeblich denselben Rechten wie jeder andere Ausländer. In Wirklichkeit wurde mir verboten, in Paris zu wohnen, und ich war sogleich unter strenger Polizeiaufsicht. Kurz nach dem 6. Februar 1934 unterzeichnete Innenminister Albert Sarraut nach einer wütenden Pressekampagne die Verordnung meiner Ausweisung aus Frankreich. Es fand sich jedoch keine andere Regierung, die mich hätte aufnehmen wollen. Nur deshalb wurde das Ausweisungsdekret bis jetzt nicht vollstreckt. Auf Geheiß der Sûreté Nationale musste ich mich in einem bestimmten Departement niederlassen, in einem kleinen Dorf unter strenger Polizeiaufsicht. So war ich im letzten Jahr meines Lebens in Frankreich von der Außenwelt stärker abgeschnitten als auf der Insel Prinkipo in der Türkei unter Aufsicht der Polizei Kemal Paschas. So verwandelte sich das Visum der radikalen Regierung in eine Art Falle.

Es liegt mir fern, mich über die Regierung der Dritten Republik zu beklagen. Noch so «demokratische» Minister haben genau so wie die ganz reaktionären zur Aufgabe, die kapitalistische Sklaverei zu verteidigen. Ich gehöre der revolutionären Partei an, deren Ziel ist, den Kapitalismus zu stürzen. Aus diesem unversöhnlichen Gegensatz entsteht unweigerlich ein Kampf mit all seinen Auswirkungen. Für Klagen ist da keine Ursache!

Wenn ich mir trotzdem erlaubte. Eure Aufmerksamkeit auf eine so unbedeutende Frage zu lenken wie die meiner Lebensbedingungen in Frankreich, so nur deshalb, weil diese Episode aufs engste mit der Politik der Kommunistischen Internationale verbunden ist, die jetzt zum Haupthindernis auf dem geschichtlichen Wege des Proletariats geworden ist.

Vor zwei Jahren wiederholte die «Humanité» tagaus, tagein: «der Faschist Daladier hat den Sozialfaschisten Trotzki nach Frankreich geholt, um mit seiner Hilfe die Militärintervention in die UdSSR zu organisieren». Es fanden sich nicht wenig ehrliche, aber naive und unwissende Menschen, die diesen Unsinn glaubten, so wie im Frühling 1917 Millionen russischer Bauern, Soldaten und sogar Arbeiter Kerenski glaubten, dass Lenin und Trotzki «Agenten Kaiser Wilhelms» seien. Dumme und betrogene Menschen kann man nicht anklagen, sie heißt es aufklären. Anklagen aber kann und muss man die sehr wohl unterrichteten Schurken, die bewusst Lüge und Verleumdung verbreiten, um die Werktätigen zu täuschen. Als solche Schurken handelten die Führer der sogenannten kommunistischen (?!) Partei: Marcel Cachin, Maurice Thorez, Paul Vaillant-Couturier, Jacques Duclos & Co.

Heute haben diese Herren bekanntlich mit dem «Faschisten» Daladier eine antifaschistische »Volksfront» geschlossen. Von der Intervention des französischen Imperialismus in die UdSSR haben die Stalinisten, die sich Kommunisten nennen, endgültig zu reden aufgehört. Im Gegenteil, heute sehen sie eine Friedensgarantie in dem Militärbündnis des französischen Kapitals mit der Sowjetbürokratie. Auf Stalins Befehl rufen Cachin, Thorez & Co nunmehr die französischen Arbeiter auf, ihren nationalen Militarismus zu unterstützen, d. h. das Werkzeug der Klassenunterdrückung und der Kolonialsklaverei. So schnell und unbarmherzig haben sich diese Verleumder entlarvt: gestern nannten sie mich Daladiers Verbündeten und einen Agenten der französischen Bourgeoisie, und heute sind sie selbst ein wirkliches Bündnis eingegangen mit Daladier, Herriot und Laval und haben sich vor den Wagen des französischen Imperialismus gespannt.

Die neue Verleumdung der Stalinisten

Heute beginnen die Herren Verleumder bereits zu sagen (siehe z. B. das Blatt der belgischen Stalinisten), die Politik Trotzkis und der Bolschewiki-Leninisten erweise nicht Herriot und Daladier, sondern Hitler Dienste, d. h. nicht dem französischen, sondern dem deutschen Imperialismus. Die Melodie dieser neuen Verleumdung klingt aber allzu bekannt. Als ich während des imperialistischen Krieges auf der Position des revolutionären Internationalismus stand, beschuldigten mich die Herren Sozialpatrioten Renaudel, Vandervelde, Severac, Marcel Cachin, ich «unterstütze» den deutschen Militarismus gegen die französische Demokratie. Deshalb auch wies mich die Regierung Briand-Malvy 1916 aus Frankreich aus. Der heldenmütige Marcel Cachin aber brachte «im Interesse der französischen Demokratie» Mussolini im Auftrage der imperialistischen Regierung Geld zwecks Propaganda für Italiens Teilnahme am Kriege. All diese Tatsachen sind in der Presse unwiderleglich bezeugt und können leicht nachgeprüft und bewiesen werden. Cachin hat sie übrigens auch nie abzustreiten versucht.

Heute beginnt Marcel Cachin wieder dieselbe sozialpatriotische Arbeit, die ihn während des imperialistischen Krieges mit Schande bedeckte. Cachin folgten alle übrigen Führer der französischen kommunistischen (?!) Partei. Sie tun, was ihnen die Obrigkeit befiehlt. André Marty allein hat seinerzeit Eigenschaften eines wirklichen Revolutionärs gezeigt: seine Vergangenheit verdient Achtung. Aber das Milieu der Komintern hat auch ihn schließlich demoralisiert.

Zur Rechtfertigung ihrer sozialpatriotischen Wendung berufen sich diese Herren auf die Notwendigkeit, «die UdSSR zu verteidigen». Dieses Argument ist durch und durch falsch. Es ist bekannt genug, dass selbst der Gedanke der «Landesverteidigung» nichts weiter als eine Maske ist, mit der die Ausbeuter ihre Räuberappetite und ihre blutigen Raufereien um die Beute verdecken, während sie die eigene Nation in bloßes Kanonenfutter verwandeln. Wenn wir Marxisten immer behauptet haben, dass die imperialistische Bourgeoisie niemals die wahren Interessen des eigenen Volkes verteidigen kann und wird, wie können wir dann plötzlich glauben, sie sei imstande, die wahren Interessen der UdSSR zu verteidigen? Kann man auch nur eine Minute lang daran zweifeln, dass der französische Imperialismus bei der ersten besten Gelegenheit alle seine Kräfte aufbieten wird, um in der UdSSR das sozialisierte Eigentum zu Fall zu bringen und das Privateigentum wieder herzustellen? Wenn dem so ist, so können nur Verräter der Arbeiterklasse ihren eigenen Militarismus beschönigen, indem sie der französischen Bourgeoisie und ihrer Diplomatie einen direkten oder indirekten, offenen oder versteckten Beistand leisten. Solche Verräter sind eben Stalin und seine französischen Lakaien.

Warum sind Stalin und seine französischen Lakaien Verräter?

Zur Maskierung ihres Verrats berufen sie sich natürlich auf Lenin – mit demselben Recht, wie Lebas, Paul Faure, Longuet und andere Opportunisten sich auf Marx berufen. Die HUMANITÉ zitiert beinahe jeden Tag Lenins Brief an die amerikanischen Arbeiter, wo erzählt wird, wie Lenin Anfang 1918 die Dienste eines royalistischen französischen Offiziers annahm, um sie gegen die Deutschen zu benutzen, die erneut zum Angriff gegen uns vorgegangen waren. Die Absicht dieses überraschenden Arguments ist nicht, die Frage zu klären, sondern im Gegenteil den Arbeitern Sand in die Augen zu streuen. Wir werden uns jetzt davon mit aller Handgreiflichkeit überzeugen.

Es wäre selbstverständlich Unsinn, der Sowjetregierung das Recht zu bestreiten, die Gegnerschaft im Lager der Imperialisten auszunützen oder im Notfalle den Imperialisten diese oder jene Zugeständnisse zu machen. Streikende Arbeiter nützen ebenfalls die Konkurrenz der kapitalistischen Unternehmungen aus und machen den Kapitalisten Zugeständnisse, ja kapitulieren sogar vor ihnen, wenn sie nicht siegen können. Aber folgt daraus etwa ein Recht der Gewerkschaftsführer, freundschaftlich mit den Kapitalisten zusammenzuarbeiten, sie zu beschönigen und zu ihren Bedienten zu werden? Streikende Arbeiter, die gezwungen sind, sich zu ergeben, wird niemand Verräter nennen. Jouhaux aber, der im Namen des Friedens und der Freundschaft mit den Kapitalisten den Klassenkampf des Proletariats paralysiert, haben wir nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, als Verräter zu erklären. Der Unterschied zwischen der Brest-Litowsker Politik Lenins und der französisch-russischen Politik Stalins ist derselbe wie der zwischen der Politik eines revolutionären Gewerkschaftlers, der sich nach einer Teilniederlage zu Zugeständnissen an den Klassenfeind gezwungen sieht, und der Politik eines Opportunisten, der freiwillig zum Verbündeten und Lakaien des Klassenfeindes wird.

Was bedeutet der Kompromiss mit de Lubersac?

Lenin nahm einen reaktionären französischen Offizier in Dienst. Ich ebenfalls nahm ihn in jenen Tagen in Anspruch und zu demselben Zweck: Lubersac übernahm die Sprengung der Brücken auf unseren Rückzügen, damit die Deutschen nicht an unsere Kriegsvorräte herankämen. Höchstens ein völlig blöder Anarchist wird in einem solchen «Handel» Verrat erblicken. In den gleichen Tagen besuchten mich offizielle Agenten Frankreichs und schlugen weitergehende Hilfe vor – Artillerie und Verpflegung. Wir begriffen sehr gut, dass ihre Absicht war, uns von Neuem mit Deutschland in einen Krieg zu verwickeln. Aber die deutschen Heere griffen uns tatsächlich an, und wir waren schwach. Hatten wir das Recht, unter diesen Umständen die «Hilfe» des französischen Stabes anzunehmen? Unbedingt! Eben einen solchen Vorschlag machte ich im Zentralkomitee der Partei am 22. Februar 1918. Der schriftliche Text dieses Vorschlags steht zu lesen in den offiziellen Protokollen des Zentralkomitees, herausgegeben in Moskau 1929. Hier ist er:

«Als Partei des sozialistischen Proletariats, das sich an der Macht befindet und mit Deutschland Krieg führt, ergreifen wir, auf staatlichem Wege, alle Maßnahmen, unsere revolutionäre Armee aufs Beste mit allen notwendigen Mitteln zu bewaffnen und auszustatten, und hierzu sie dort zu nehmen, wo es möglich ist, folglich auch bei den kapitalistischen Regierungen. Dabei bewahrt unsere Partei völlige Unabhängigkeit in ihrer Außenpolitik, geht den kapitalistischen Regierungen gegenüber keinerlei politische Verpflichtungen ein und betrachtet ihre Vorschläge in jedem einzelnen Falle vom Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit».

Lenin war auf dieser Sitzung des ZK nicht anwesend. Er schickte einen Zettel, dessen Originaltext lautet: «Bitte meine Stimme für die Wegnahme der Kartoffeln und Waffen bei den Räubern des anglo-französischen Imperialismus hinzuzählen« (Protokolle S. 246). So stand das damalige ZK der Bolschewiki zur Ausnützung der kapitalistischen Antagonismen: praktische Vereinbarungen mit den Imperialisten («die Kartoffeln wegnehmen») sind durchaus zulässig; absolut unzulässig aber ist eine politische Solidarisierung mit den «Räubern des Imperialismus».

Stalins Verbrechen ist nicht, diese oder jene praktischen Vereinbarungen mit dem Klassenfeind getroffen zu haben: diese Vereinbarungen mögen richtig oder falsch sein, im Prinzip aber kann man sie nicht ablehnen. Sein Verbrechen ist, dass er die Politik einer imperialistischen Regierung, die vor dem Raub- und Plünderfrieden von Versailles Wache steht, billigte. Stalin hat den Räubern des Imperialismus noch keine «Kartoffeln» weggenommen, sich aber bereits mit ihnen politisch so solidarisiert.

Ihre Armee, die 60 Millionen Kolonialsklaven unterdrückt, ausbauen, das kann die französische Bourgeoisie selbstverständlich auch ohne Stalins Billigung. Wenn sie diese Billigung brauchte, so um den Klassenkampf des französischen Proletariats zu schwächen und zu demoralisieren. Indem er dem französischen Militarismus seine Huldigung darbringt, handelt Stalin nicht wie ein Streiker, der zeitweilig gezwungen ist dem Kapitalisten nachzugeben, sondern wie ein Streikbrecher, der den Kampf der Arbeiter paralysiert.

Die Quelle des Verrats

Der Verrat Stalins und der Kominternführung erklärt sich aus dem Charakter der heute in der UdSSR herrschenden Schicht, das ist die privilegierte und unkontrollierte Bürokratie, die sich über das Volk erhebt und es unterdrückt. Der Marxismus lehrt: das Sein bestimmt das Bewusstsein. Die Sowjetbürokratie fürchtet am meisten Kritik, Bewegung, Risiko: sie ist konservativ, verteidigt habsüchtig ihre Privilegien. Sie erwürgt die Arbeiterklasse in der UdSSR und hat den Glauben an die Weltrevolution langst verloren. Sie verspricht, den «Sozialismus in einem Lande» aufzubauen, wenn die Werktätigen nur schweigen, dulden und sich unterwerfen wollen

Zur Verteidigung der UdSSR verlässt sich die Bürokratie auf ihre politische Geschicklichkeit, auf Litwinows Diplomatie, auf das Militärbündnis mit Frankreich und der Tschechoslowakei, und nicht auf das Revolutionäre Proletariat. Im Gegenteil, sie fürchtet, die französischen oder tschechischen Arbeiter könnten mit unvorsichtigen Handlungen die neuen Verbündeten erschrecken. Sie macht sich zur Aufgabe, den Klassenkampf des Proletariats in den «verbündeten» Ländern zu bremsen. Somit bildet die Quelle des stalinschen Verrats der nationale Konservativismus der Sowjetbürokratie, direkte Feindschaft gegen die weltproletarische Revolution.

Die Konsequenzen des Verrats

Stalins Verrat hat sich sofort ausgewirkt in dem zynischen Wechsel der Politik der KPF, die geleitet wird nicht durch von den franz. Arbeitern gewählte Führer, sondern von Agenten Stalins. Gestern plapperten diese Herrschaften vom «Revolutionären Defätismus» im Falle des Krieges. Heute stehen sie auf dem Standpunkt der Landesverteidigung … im Interesse der Erhaltung des Friedens. Wort für Wort wiederholen sie die Formeln der kapitalistischen Diplomatie. Sind doch entschieden alle Räuber des Imperialismus «für den Frieden», schließen Bündnisse, vergrößern ihre Heere, fabrizieren Giftgase, züchten Bakterien – nur und ausschließlich «im Interesse des Friedens». Wer sagt; «das französisch-russische Bündnis ist eine Friedensgarantie», der übernimmt die Verantwortung nicht nur für die Sowjetregierung, sondern auch für die französische Börse, für ihren Generalstab, für die Gase und Bakterien dieses Stabes.

Die HUMANITÉ schreibt: die französische Regierung wird «unter der Kontrolle der französischen Arbeiter» stehen. Aber das ist eine hohle Phrase erbärmlicher Demagogen. Wo und wann hat ein unterdrücktes Proletariat die Außenpolitik der Bourgeoisie und die Taten ihrer Armee «kontrolliert»? Wie kann es das, wo doch alle Macht in Händen der Bourgeoisie ist? Um die Armee zu führen, heißt es die Bourgeoisie stürzen und die Macht erobern. Einen andern Weg gibt es nicht. Doch die neue Politik der Komintern bedeutet Verzicht auf diesen einzigen Weg.

Wenn eine Partei des Proletariats erklärt, im Kriegsfalle gedenke sie ihren nationalen Militarismus zu «kontrollieren» (d. h. zu unterstützen) und nicht ihn zu stürzen, so wird sie damit zum Haustier des Kapitals. Eine solche Partei zu fürchten, ist gar kein Grund: das ist kein revolutionärer Tiger, sondern ein zahmer Esel. Ihn kann man hungern lassen, peitschen, anspeien – er wird seine patriotische Bürde gleich wohl weiter schleppen. Nur von Zeit zu Zeit wird er kläglich schreien: «entwaffnet doch um Himmels willen die faschistischen Verbände!» Als Antwort auf das Geschrei bekommt er noch einen Knutenhieb mehr. Und so hat er es verdient!

Wem gehört der Sieg?

Die Komintern stellt den Eintritt der UdSSR in den Völkerbund und den Abschluss des französisch-russischen Bündnisses als gewaltigen Sieg des Proletariats und des Friedens dar. Was ist der wirkliche Inhalt dieses Sieges?

Das 1923 angenommene Programm der Komintern sagt: «Hauptziel (des Völkerbundes) ist, das unaufhaltsame Wachstum der revolutionären Krise zum Stillstand zu bringen und die UdSSR vermittels einer Blockade oder eines Krieges zu erwürgen». Ganz natürlich, dass unter solchen Umständen die Vertreter der UdSSR in den Völkerbund nicht eintreten konnten, d. h. in den Generalstab der weltimperialistischen Konterrevolution.

Was hat sich seither geändert? Warum hielt es die UdSSR für notwendig, dem Völkerbund beizutreten? Wem gehört da der Sieg? Die Führer der Komintern betrügen auch hier die Arbeiter. Die französische Bourgeoisie würde kein Abkommen mit der UdSSR treffen, wenn sie nach wie vor in ihr einen revolutionären Faktor erblickte. Nur die ungemeine Schwächung der Weltrevolution machte die Einbeziehung der UdSSR in das System der sich bekämpfenden Lager des Imperialismus möglich.

Natürlich, wenn die Sowjetindustrie nicht bedeutende Erfolge gezeitigt hätte, wenn die Sowjettanks und das Sowjetflugwesen nicht existierten, so würde niemand mit der UdSSR rechnen. Doch rechnen kann man mit ihr ja auf verschiedene Weise. Wäre die UdSSR eine Festung des internationalen Proletariats, fühlte die Komintern einen siegreichen Angriff, so würden die herrschenden Klassen Frankreichs, Englands und Italiens ohne Zögern Hitler zum Krieg gegen die UdSSR ermächtigen. Heute aber, nach der Niederschlagung der Revolution in China, Deutschland, Österreich, Spanien, nach den Erfolgen de» europäischen Faschismus, nach dem Niedergang der Komintern und der nationalen Entartung der Sowjetbürokratie, gibt die Bourgeoisie Frankreichs, Englands und Italiens Hitler zur Antwort: «Wozu einen Kreuzzug gegen die UdSSR riskieren? Stalin erwürgt auch ohnehin mit Erfolg die Revolution. Man muss versuchen, mit ihm zu verhandeln.»

Der Pakt bindet die Sowjetunion, aber nicht Frankreich!

Das französisch-russische Bündnis ist keine Friedensgarantie – welch frecher Unsinn! – sondern eine Abmachung für den Kriegsfall. Die Vorteile dieser Abmachung für die UdSSR sind zumindest fraglich. Frankreich ist nur dann «verpflichtet», der UdSSR zur Hilfe zu kommen, wenn seine Verbündeten von Locarno, d. h. England und Italien, damit einverstanden sind. Das bedeutet: falls der französische Imperialismus es im letzten Augenblick für vorteilhafter hält, mit Hitler auf Kosten der UdSSR zu verhandeln, so werden England und Italien stets helfen, diesen «Verrat» zu legalisieren. Von diesem Sicherheitsventil des Paktes schweigt die HUMANITÉ beflissentlich. Allein, hier steckt der Haken. Der Vertrag bindet die UdSSR, nicht aber Frankreich!

Was sollen die sozialistischen und kommunistischen Abgeordneten tun?

Nehmen wir jedoch an, der Sowjetbürokratie bliebe nach all ihren Fehlern und Verbrechen tatsächlich nichts anderes übrig, als dieses zweideutige und unzuverlässige Militärbündnis mit Frankreich abzuschließen. In diesem Falle bliebe den Sowjets nichts anderes übrig, als den Vertrag Stalins mit Laval zu ratifizieren. Ganz anders aber steht die Sache in Frankreich. Das französische Proletariat darf seiner Bourgeoisie nicht erlauben, sich hinter dem Rücken der Sowjetbürokratie zu verstecken. Das Ziel der französischen Imperialisten bei der Unterschrift des Pakts mit den Sowjets bleibt das gleiche: den alten Raub zu befestigen, neuen vorzubereiten, die neue Mobilisierung des französischen Volkes zu erleichtern, das Blut des Sowjetproletariats auszunutzen. Wenn die kommunistischen und sozialistischen Abgeordneten im Parlament für das französisch-russische Bündnis stimmen, so würden sie damit nochmals ihren Verrat am Proletariat kund tun!

Kampf gegen den Krieg ist undenkbar ohne Kampf gegen den eigenen Imperialismus. Kampf gegen den Imperialismus ist undenkbar ohne Kampf gegen dessen Agenten und Verbündete. Reformisten und Stalinisten. Nötig ist eine unerbittliche Säuberung der politischen und gewerkschaftlichen Arbeiterorganisationen von den sozialpatriotischen Verrätern der Arbeiterklasse, wie sie auch heißen mögen: Leon Blum oder Thorez, Jouhaux oder Monmousseau.

Die Rolle der Bolschewiki-Leninisten

In Frankreich vertritt nur eine Gruppe ehrlich, konsequent und tapfer die Prinzipien der proletarischen Revolution: das ist die Gruppe der Bolschewiki-Leninisten. Ihr Organ ist die Wochenzeitung LA VÉRITÉ. Jeder denkende Arbeiter hat die Pflicht, sich mit dieser Zeitung bekannt zu machen.

Die Bolschewiki-Leninisten haben klar und deutlich die Aufgabe des Proletariats im Kampf gegen den Krieg in einer besonderen Broschüre dargelegt: «Die Vierte Internationale und der Krieg». Die Kenntnis dieser Broschüre und die sorgfältige Erörterung der in ihr aufgeworfenen Fragen ist gleichfalls Pflicht jedes fortgeschrittenen Proletariers, sich selbst und seiner Klasse gegenüber.

Der Verrat der Stalinisten, der sich dem alten Verrat der Reformisten hinzugesellt, fordert eine völlige Erneuerung aller proletarischen Organisationen. Nötig ist eine neue revolutionäre Partei. Nötig ist eine neue, Vierte Internationale! Dienst an dieser großen geschichtlichen Aufgabe, das eben bildet den Inhalt des Wirkens der internationalen Organisation der Bolschewiki-Leninisten.

Der Grund, warum die Bürokratie die «Trotzkisten» hasst

Stalins Verrat kam für uns nicht überraschend. Wir haben ihn 1924 vorausgesagt, als die Sowjetbürokratie auf die Theorie Marxens und Lenins verzichtete zugunsten der Theorie des «Sozialismus in einem Lande». Intriganten und Philister sagten, unser Kampf gegen Stalin sei ein «persönlicher« Kampf. Heute müssen selbst die Blinden sehen, dass es in diesem Kampf um die Grundprinzipien des Internationalismus und der Revolution geht.

Wir haben in den letzten Jahren hunderte von Malen gesagt: «Kratzt den Stalinisten, und ihr werdet den Opportunisten finden». Heute braucht man nicht einmal mehr zu kratzen. Die Stalinisten stehen faktisch auf dem äußersten rechten Flügel der Arbeiterbewegung und insofern sie fortfahren, sich mit der Autorität der Oktoberrevolution zu decken, sind sie weit gefährlicher als die alten traditionellen Opportunisten.

Der Hass der Stalinisten gegen die Bolschewiki-Leninisten («Trotzkisten») ist der Hass des konservativen Bürokraten gegen den echten Revolutionär. Zitternd um Macht und Einkünfte, macht die Bürokratie im Kampf gegen die Bolschewiki-Leninisten vor keiner Gemeinheit und Niedertracht Halt.

Bevor er seinen letzten offenen Verrat beging, holte Stalin zu einem neuen, hundertsten Schlage aus gegen den linken Flügel in der UdSSR. Er veranstaltete eine Reihe falscher Prozesse gegen die Oppositionellen indem er ihre wirklichen Anschauungen verbarg und ihnen Taten unterstellte, die sie nie begangen haben. So wurde der ehemalige Vorsitzende der Komintern, Sinowjew, zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, nur weil er nach einer Reihe von Schwankungen und Bußgängen schließlich die Verderblichkeit der Politik des Stalinismus anerkennen musste.

Die Sowjetbürokratie hat den Versuch gemacht, mich durch einen Provokateur in den Prozess der Terroristen, die Kirow ermordeten, zu verwickeln. Zu Anfang dieses Jahres hat Stalin meinen Sohn verhaftet, einen jungen, studierten, loyalen Sowjetarbeiter, der an politischem Kampf absolut unbeteiligt gewesen ist. Der Zweck der Verhaftung ist unbarmherziger Terror nicht nur gegen die Bolschewiki-Leninisten, sondern auch gegen ihre Familienmitglieder. Die Bürokratie kennt kein Mitleid, wenn sie ihrer Herrschaft und ihren Privilegien Gefahr drohen sieht. Auf diesem Gebiet finden die Stalinisten ständige Unterstützung seitens der kapitalistischen Polizei der ganzen Welt.

Stalins Fraktion in der sozialistischen Partei

Ganz vor kurzem, im April, schickte Stalin Führer des russischen Kommunistischen Jugendverbandes nach Paris, um die französische revolutionäre Jugend zu überzeugen, die patriotische Position zu beziehen. Diese jungen Bürokraten organisierten innerhalb der Sozialistischen Partei eine besondere stalinistische Fraktion, deren Hauptlosung ist: «Ausschluss der Trotzkisten!» Unnötig hinzuzufügen, dass bei dieser Zersetzungsarbeit die Stalinclique mit Geld nicht sparte noch spart: ist sie auch arm an Ideen, an Valuta herrscht bei ihr kein Mangel.

Aber Revolutionäre ergeben sich nicht vor dem Terror. Im Gegenteil, sie antworten mit zweifachem Angriff. Der Stalinismus ist heute das Hauptgeschwür der Weltarbeiterbewegung. Dieses Geschwür heißt es ausbeizen, ausschneiden, ausbrennen mit glühendem Eisen. Es gilt, das Proletariat von neuem unter dem Banner Marxens und: Lenins zu einigen.

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Liebe Genossen!

Ich habe Euch längst nicht alles gesagt, was ich möchte, und längst nicht so, wie ich es möchte. Aber ich muss mich beeilen: jede Stunde kann der Polizeibeamte eintreffen, um mich und meine Frau, die treue Gefährtin meines Kampfes und meiner Irrfahrten, über Frankreichs Grenze zu bringen. Ich reise mit heißer Liebe zum französischen Volk und mit dem unerschütterlichen Glauben an die große Zukunft des französischen Proletariats; aber auch mit ebenso großem Hass gegen die Heuchelei, Habgier und Grausamkeit des französischen Imperialismus.

Ich denke, das werktätige Volk wird mir früher oder später die Gastfreundschaft erteilen, die mir die Bourgeoisie verwehrt. Für mein höchstes Glück würde ich es halten, wenn das französische Proletariat mir in naher Zukunft die Möglichkeit gäbe, an seinen Entscheidungskämpfen teilzunehmen. Arbeiter und Arbeiterinnen Frankreichs! Solange meine physischen Kräfte es erlauben, bin ich jederzeit bereit, mit Wort und Tat Eurem revolutionären Ruf zu gehorchen.

Lasst mich heiß und brüderlich eure Hand drücken und diesen Brief mit dem Ruf enden, der fast vierzig Jahre lang all mein Denken und Handeln beseelt: Es lebe die proletarische Weltrevolution!

10. Juni 1935.

L. Trotzki

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