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Leo Trotzki 19350306 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 54 f.]

6. März

Seit über zwei Wochen habe ich mich mit dem Tagebuch nicht mehr befasst: bin krank, außerdem gab es eilige Arbeit.

Der jüngste Conseil National der französischen Sozialistenpartei zeugt von der Stärke des Drucks, dem die Parlamentsspitze ausgesetzt ist. Léon Blum musste zugeben, dass er das Problem der Machteroberung im Jahre 1920 in Tours nicht ganz klar erkannte, als er der Meinung war, dass die Voraussetzungen für den Sozialismus zuvor geschaffen werden müssten, und erst danach… Doch was für einen Sinn hat es nun, um die Macht zu kämpfen, wenn die »Voraussetzungen für den Sozialismus« auch ohne den Besitz der Macht geschaffen werden können? Oder meint Blum die wirtschaftlichen, und nicht die politischen Voraussetzungen? Doch diese Voraussetzungen werden durch einen schleppenden Kampf um die Macht nicht geschaffen, sondern zerstört: der Kapitalismus entwickelt sich nicht, sondern verfällt der Fäulnis. Auch jetzt, nachdem er sich von seinen Ansichten aus der Zeit von Tours distanziert hat, versteht Blum die Lage nicht. Nach seinen Äußerungen erwachse für ihn die Notwendigkeit des Revolutionskampfes um die Macht nicht aus der allgemeinen Verfassung des Kapitalismus, sondern aus der Bedrohung seitens der Faschisten, die von ihm nicht als die Folgeerscheinung des kapitalistischen Zerfalls, sondern als eine von außen her wirkende Gefahr angesehen werden, durch welche der friedliche Sozialisierungsprozess der Demokratie in Frage gestellt wird (eine überholte Illusion von Jaurès.).

Wenn die Führer der Bourgeoisie gegenüber den Gesetzmäßigkeiten des Niederganges des Kapitalismus blind sind, so ist es verständlich: einem Sterbenden ist es zuwider und er vermag auch nicht, sich selbst über die einzelnen Stufen, die zu seinem Ableben führen, klarzuwerden. Doch die Blindheit der Blum & Co. liefert vielleicht den besten Beweis dafür, dass diese Herren nicht die Vorhut des Proletariats, sondern lediglich den linken und am meisten verängstigten Flügel der Bourgeoisie repräsentieren. Nach dem Weltkrieg vertrat Blum die Meinung (im Grunde vertritt er sie ja auch noch heute), dass die Voraussetzungen für die Sozialisierung noch nicht erfüllt seien. O welch kindliche Träumer waren dann Marx und Engels, die in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts in der Erwartung der sozialistischen Revolution lebten und sich für sie bereithielten! Nach Blum gibt es (sofern für ihn in diesem Bereich überhaupt irgend etwas Gültigkeit besitzt) eine undefinierbare absolute wirtschaftliche »Reife« der Gesellschaft für den Sozialismus, die durch sich selbst und die ihr eigenen objektiven Merkmale allein bestimmt wird. Gegen diese mechanistische, fatalistische Auffassung habe ich schon 1905 gekämpft (vgl. Schlussfolgerungen und Aussichten). Danach kam die Oktoberrevolution (wenn schon alles übrige unerwähnt bleiben soll!), doch diese parlamentarischen Sterngucker haben nichts zugelernt!

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