Leo Trotzki‎ > ‎1935‎ > ‎

Leo Trotzki 19350321 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 64-66]

21. März

Frühling, die Sonne brennt, schon seit etwa zehn Tagen blühen die Veilchen, die Bauern machen sich in den Weinbergen zu schaffen. Gestern haben wir bis um Mitternacht die Übertragung der Walküre aus Bordeaux mitangehört. Zweijährige Militärdienstzeit. Wiederaufrüstung in Deutschland. Vorbereitung des neuen »letzten« Krieges. Die Bauern schneiden friedlich die Weinreben und düngen den Boden zwischen den Weinstöcken. Alles ist in Ordnung. Sozialisten und Kommunisten schreiben Artikel gegen die zweijährige Militärdienstzeit und bedienen sich dabei, um gewichtiger zu erscheinen, des größtmöglichen Schriftbildes. In der Tiefe ihrer Herzen hegen die Führer die Hoffnung: Alles wird schon irgendwie ins Lot kommen. Auch hier ist alles in Ordnung… Und doch hat diese Ordnung sich selbst untergraben, hoffnungslos. Sie wird unter Gestank einstürzen…

Jules Romain bereitet dies alles offenbar Sorgen, denn er offeriert sich selbst als Retter (Gesellschaft des 9. Juli). In einem der letzten Bände seiner Epopöe erscheint offenbar Romain selbst unter dem Namen des Schriftstellers Strigelius (ich glaube, so heißt er). Dieser S. kann und vermag alles, was auch andere Schriftsteller können, doch kann er außerdem dies und jenes darüber hinaus. Aber sein Können ist nicht nur das Können eines Schriftstellers. Er hat erkannt, dass das »Können« (Genialität) universal ist. Sein Können erstreckt sich auch auf andere Bereiche – im besonderen auf die Politik – und ist besser als das Können der anderen. Daher die Gesellschaft des 9. Juli und das Buch von J. R. über die deutsch-französischen Beziehungen.

Ohne jeden Zweifel ist dieser hochbegabte Schriftsteller in Verwirrung geraten. Er versteht vieles in der Politik, doch mehr im Sinne der Anschauung, also oberflächlich. Die tiefliegenden sozialen Triebfedern der Erscheinungen bleiben ihm verborgen. Im Bereich der Individualpsychologie ist er ausgezeichnet, doch ebenfalls ohne Tiefgang. Ihm fehlt es als Schriftsteller (und um so mehr als Politiker) offenbar an Charakter. Er ist bloß Zuschauer, nicht aber ein innerlich Teilnehmender. Aber nur der innerlich Teilnehmende kann als Zuschauer Tiefgang haben. Zola war innerlich teilnehmend. Darum steht er trotz aller seiner Vulgaritäten und seines gelegentlichen Abgleitens hoch über Romain und ist tiefer, wärmer und menschlicher. J. Romain sagt über sich selbst (nunmehr ohne Pseudonym, in seinem eigenen Namen) distant. Das ist richtig. Aber die distance ist bei ihm nicht nur optisch, sondern auch sittlich. Das Licht seiner Sittlichkeit erlaubt es ihm, alles nur in einer bestimmten, unveränderlichen Entfernung wahrzunehmen. Deshalb scheint er dem kleinen Bastide zu fern, dem Mörder Quinette aber zu nah zu stehen. Die distance des innerlich Teilnehmenden verändert sich entsprechend der Art seiner Teilnahme, die distance des Zuschauers bleibt unverändert. Der Zuschauer Romain kann ein ausgezeichneter Schriftsteller, er kann aber kein großer Schriftsteller sein.

Ich habe meine Eintragung über unsere vorjährige »Katastrophe« in Barbizon nicht beendet. Die »Geschichte« ist in den Spalten der Presse zur Genüge behandelt worden. Was für ein reißender Strom von Erfindungen und waschechtem Hass! Der Staatsanwalt der Republik war köstlich! Man soll diese hohen Würdenträger nie in zu großer Nähe ansehen. Er erschien bei mir aus Anlass des angeblich gestohlenen Motorrades (unseres Motorrades, auf dem Rudolf gefahren war), fragte mich aber sofort nach meinem wirklichen Familiennamen (mein Pass lautet auf den Namen Sedow – den Namen meiner Frau, was nach sowjetischen Gesetzen durchaus zulässig ist, aber der Staatsanwalt von Melun ist nicht verpflichtet, sowjetische Gesetze zu kennen). – Sie sollten sich aber doch auf Korsika niederlassen? – Schön, doch in welchem Zusammenhang steht das mit dem gestohlenen Motorrad? Non, non, je parle d'homme à homme. –, Dies wurde übrigens schon als eine Art Rückzug ausgesprochen, als es sich erwies, dass in meinem Pass der Sichtvermerk der Sûreté Générale eingetragen war. Rudolf wurde 36 Stunden lang festgehalten, man legte ihm die menottes an, beschimpfte ihn (sale boche), schlug ihn, oder richtiger gesagt, man stieß ihn unter Maulschlägen herum. Als man ihn endlich zu mir brachte, rückte ich ihm einen Stuhl heran (er war kreidebleich), aber der Staatsanwalt schrie ihn an: Non, débout! Rudolf setzte sich, ohne dieses Geschrei auch nur zu bemerken. Von allen diesen Besuchern machte nur der alte Greffier (Justizbeamter) einen günstigen Eindruck. Dagegen die anderen… Im übrigen ist dies alles einer so ausführlichen Eintragung nicht wert.

Kommentare