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Leo Trotzki 19350325 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 69-74]

25. März

Erst nach der Eintragung vom 23. März (über N.) wurde ich mir bewusst, dass alle vorangegangenen Seiten eher ein politisches und literarisches als ein persönliches Tagebuch darstellen. Konnte es aber überhaupt anders sein? Politik und Literatur bilden ja den eigentlichen Inhalt meines persönlichen Lebens. Sobald meine Hand die Feder ergriffen hat, richten sich die Gedanken von selbst auf das Ziel einer mitteilenden publizistischen Darstellung… Das lässt sich nicht mehr ändern, besonders mit 55 Jahren. Nebenbei bemerkt, Lenin stellte einmal im Gespräch mit Krzischanowsky die Frage (indem er die gleiche Frage Turgenjews wiederholte): »Wissen Sie, was das größte Laster ist?« Krzischanowsky wusste es nicht.

»Älter als 55 zu sein.« Lenin selbst erlebte dieses »Laster« nicht…

Bei den Wahlen im Bezirk von C. Chautemps in Blois (Departement Loire-et-Cher) erhielt der Führer der Front Paysan, Dorgères, 6760 Stimmen; der Kandidat der Radikalen – 4848. Eine Wiederholung des Wahlgangs steht bevor. Chautemps erhielt im Mai 1932 11.204 Stimmen und wurde im ersten Wahlgang gewählt. Das sind außerordentlich symptomatische Abstimmungszahlen! Später, im Februar 1934, sagte ich einmal, die Zeitspanne des Zusammenbruchs des französischen Radikalismus, damit aber auch der Dritten Republik hätte begonnen… Die Bauern verlassen die demokratischen Schwätzer und Betrüger. Die Bildung einer großen faschistischen Partei nach nazistischem Vorbild ist in Frankreich nicht zu erwarten. Es genügt, wenn die Dorgères die »Demokratie« an verschiedenen Stellen unterminieren – in Paris wird sich dann schon jemand finden, der sie endgültig umwirft. Die Gemeindewahlen haben den Untergang der Radikalen ohne jeden Zweifel offenkundig werden lassen. Ein Teil der Wähler wird nach rechts, ein anderer nach links, zu den Sozialisten abrücken. Diese letzteren werden dies und jenes an die Kommunisten verlieren: es ist schwer vorherzusagen, ob die Sozialisten ihre Bilanz mit einem Plus oder einem Minus abschließen werden; in jedem Falle werden die Veränderungen kaum von größerer Bedeutung sein. Die Radikalen dürften viel einbüßen. Die Kommunisten werden zweifellos gewinnen. Gewinnen werden auch die reaktionären Bauern-Demagogen. Doch werden die Stimmzahlen der Gemeindewahlen nur in sehr beschränktem Maße den tiefgreifenden und dynamischen Prozess der Abkehr der kleinbürgerlichen Massen von der Demokratie widerspiegeln. Ein kühner militärischer Vorstoß der Faschisten kann offenkundig machen, wie weit dieser Prozess bereits gediehen ist – in jedem Falle hat er weiter geführt, als es den Routiniers des Parlamentarismus erscheinen mag. Die »Führer« der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften sind blind, verstehen nichts und sind völlig unfähig. Welch ein kläglicher und feiger Ignorantenhaufen! Am 15. Juni 1885 schrieb Engels dem alten Becker:

»Du hast ganz recht, in Frankreich schleift sich der Radikalismus kolossal rasch ab. Es ist eigentlich nur noch einer zu verschleißen, und das ist Clemenceau. Wenn der drankommt, wird er einen ganzen Haufen Illusionen verlieren, vor allem die, man könne heutzutage eine bürgerliche Republik in Frankreich regieren, ohne zu stehlen und stehlen zu lassen!« Der tugendhafte Temps aber zuckt immer noch bei jedem neuen, unerwarteten Finanzskandal zusammen! Marx und Engels warteten lange darauf, dass Clemenceau sich mit dem Programm des Radikalismus nicht zufriedengeben würde – dafür erschien er ihnen zu kritisch und zu entschlussstark –, sondern dass er Sozialist werden würde. Tatsächlich hat Clemenceau auf den Positionen des Radikalismus (der für Leute vom Schlage eines Herriot geschaffen worden war) nicht lange verharren können, doch trat er von ihm nicht zum Sozialismus, sondern zur Reaktion über, eine um so zynischere Reaktion, als sie jeder Hülle der Illusionen und der Mystik bar ist. Der wichtigste Bremsklotz, der Clemenceau (wie viele andere französische Intellektuelle auch) gehindert hat, den Weg vom Radikalismus vorwärts zu beschreiten, war der Rationalismus. Der bornierte, knauserige, platte Rationalismus hat der Kirche gegenüber seine Kraft längst eingebüßt, doch dafür hat er sich in einen zuverlässigen Panzer des gegen die kommunistische Dialektik gerichteten Stumpfsinns verwandelt. Über Clemenceaus Rationalismus habe ich irgendwann etwas geschrieben, ich müsste es auffinden.

Rakowski war im Grunde genommen meine letzte Verbindung zur Generation der alten Revolutionäre. Nach seiner Kapitulation ist niemand mehr geblieben. Wenn auch der Schriftwechsel mit Rakowski seit der Zeit meiner Exilierung aus Zensurgründen aufhörte, so wirkte nichtsdestoweniger die Gestalt Rakowskis als ein Symbol der Verbindung mit den alten Revolutionären. Jetzt ist niemand mehr geblieben. Das Bedürfnis des Gedankenaustausches und der gemeinsamen Erörterung von Problemen findet schon seit langem keine Befriedigung mehr. Ich muss mich damit abfinden, ein Zwiegespräch mit der Presse, das heißt mit den Tatsachen und Meinungen auf dem Wege über die Zeitungen, zu führen.

Und doch glaube ich, dass meine gegenwärtige Arbeit, so ungenügend und fragmentarisch sie auch sein mag, die bedeutendste Leistung meines Lebens darstellt, wichtiger als meine Tätigkeit im Jahre 1917, wichtiger als die Arbeit in der Zeit des Bürgerkrieges usw. Um es ganz klar auszusprechen: wäre ich 1917 nicht in Petersburg gewesen, so würde die Oktoberrevolution dennoch ausgebrochen sein – unter der Voraussetzung, dass Lenin anwesend gewesen wäre und die Führung übernommen hätte. Wären aber sowohl Lenin als auch ich von Petersburg abwesend, so hätte es keine Oktoberrevolution gegeben: Die Führung der bolschewistischen Partei hätte ihren Ausbruch verhindert (daran zweifle ich nicht im geringsten!). Wäre Lenin damals nicht in Petersburg gewesen – ich würde den Widerstand der bolschewistischen Spitze wohl kaum gemeistert haben, der Kampf gegen den »Trotzkismus« (d.h. also gegen die proletarische Revolution) hätte bereits im Mai 1917 begonnen, und der Ausgang der Revolution wäre in Frage gestellt gewesen. Ich wiederhole aber, dass angesichts Lenins die Oktoberrevolution sowieso zum Siege geführt hätte. Dasselbe lässt sich im großen und ganzen vom Bürgerkrieg behaupten, obwohl in dessen erster Phase, und besonders nach dem Verlust von Simbirsk und Kasan, Lenin wankend wurde und zu zweifeln begann; doch war das sicherlich nur eine vorübergehende Anwandlung, und er hat es sogar wohl kaum jemandem außer mir gestanden.* So gesehen, kann ich nicht einmal hinsichtlich der Zeitspanne von 1917 bis 1921 von der »Unersetzlichkeit« meiner Arbeit sprechen. Dagegen ist meine gegenwärtige Arbeit im wahren Sinne des Wortes »unersetzlich«. Dieser Gedanke enthält auch nicht eine Spur von Hochmut: der Zusammenbruch zweier Internationalen hat ein Problem entstehen lassen, zu dessen Lösung kein einziger Führer dieser Internationalen auch nur im Geringsten geeignet ist. Im Vollbesitz schwerwiegender Erfahrungen, bin ich durch die besonderen Umstände meines persönlichen Schicksals mit diesem Problem konfrontiert. Gegenwärtig gibt es niemanden außer mir, der die Aufgabe erfüllen könnte, die neue Generation mit der Kenntnis der Methode der Revolution über die Köpfe der Führer der Zweiten und Dritten Internationale hinweg auszurüsten. Und ich stimme mit Lenin (eigentlich mit Turgenjew) darin voll überein, dass es das größte Laster ist, älter als 55 zu sein. Zur Gewährleistung der Kontinuität brauche ich noch mindestens fünf Jahr ununterbrochener Arbeit.

* Es wird notwendig sein, darüber eingehender zu berichten.

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