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Leo Trotzki 19350326 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 74-76]

26. März

Spaak ist Minister in Belgien geworden. Ein elendes Subjekt! Im vorigen Jahr besuchte er mich in Paris, um »sich zu beraten«. Wir unterhielten uns eingehend (etwa zwei Stunden lang) über die Lage innerhalb der belgischen Partei. Seine politische Oberflächlichkeit hat mich verblüfft. So hatte er sich zum Beispiel früher nie Gedanken über die Arbeit in den Gewerkschaften gemacht. »Ja, ja, das ist sehr wichtig!« – er nahm einen Schreibblock und begann, sich Notizen zu machen. Und das soll ein Revolutionsführer sein? – war mein Gedanke. Im Laufe der Unterredung war Spaak »derselben Meinung« (und machte immer wieder Notizen). Doch in seiner Zustimmung schwang ein leichter Ton mit, der Zweifel hervorrief. Es war nicht so, dass er mir als unaufrichtig erschien. Im Gegenteil, er war zu mir mit den besten Absichten gekommen: um sich unterrichten zu lassen und Stärkung am Vorabend des Kampfes zu suchen. Aber anscheinend erschreckten ihn meine Formulierungen. »Ah, so ist es also? Das ist aber viel ernster, als ich es mir vorgestellt hatte!« Dieser Unterton klang in allen seinen Gegenäußerungen an, obwohl er mit seinen Worten immer wieder »zustimmte«. Im Allgemeinen erschien er mir als ein ehrlicher »Freund des Volkes« aus den Kreisen der aufgeklärten Bourgeoisie – und nicht mehr. Aber eben ein ehrlicher Freund des Volkes: Offensichtlich empfand er die Korruption in der Umgebung von Vandervelde und Anseele als abstoßend… Nach einiger Zeit erhielt ich von ihm einen Brief. Die Gewerkschafter forderten die Schließung der Action und drohten, dass sie sich von der Partei abspalten würden. Das Zentralkomitee der Partei gab dieser Erpressung willig nach. Spaak bat nun um Rat: soll nachgegeben werden oder nicht. Ich antwortete, ein Nachgeben würde gleichbedeutend mit einem politischen Harakiri sein. (Schon während unserer Unterredung hatte ich Spaak seine Bereitwilligkeit, nachzugeben – und insbesondere seine Haltung auf dem Parteikongress von 1933, der die »Plan«-Entschließung angenommen hatte –, zum Vorwurf gemacht. Spaak war auch hierin »der gleichen Meinung«…) Die Action blieb erhalten: die Rechte musste nach einer Skandalaffäre mit der Genossenschaftlichen Bank vorübergehend den Rückzug antreten. Doch das Verhalten von Spaak selbst war im Laufe der ganzen Zeit labil, unsicher und unaufrichtig… Und nun ist dieser »Revolutionsheld« Verkehrsminister in dem »Nationalen Kabinett« geworden. Ein kläglicher Wicht!

Was war für Spaak entscheidend: die Furcht vor dem Anwachsen der Massenbewegung oder seine kleine Eitelkeit (»Minister« zu werden!)? Im Endergebnis ist der Unterschied nicht sehr groß, da sich diese beiden Motive in der Mehrzahl solcher Fälle gegenseitig ergänzen. –

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