Leo Trotzki‎ > ‎1935‎ > ‎

Leo Trotzki 19350327 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 76-78]

27. März

1903 wurde in Paris Das Nachtasyl von Gorki zugunsten der Iskra aufgeführt. Man versuchte, der N. eine Rolle zu geben – ich möchte fast glauben, auf Grund einer Initiative von mir: es schien mir, dass sie ihren Part gut und »innig« spielen würde. Doch daraus wurde nichts, die Rolle wurde einer anderen übertragen. Ich war verwundert und betrübt. Erst später habe ich eingesehen, dass N. in keinem Lebensbereich »spielen« kann. Immer und in allen Verhältnissen – im Laufe des ganzen Lebens, in jeder Lage (und wir haben ihrer fürwahr genug gemeistert) blieb sie sich selbst treu und hielt ihr inneres Leben von den Einflüssen der Umwelt frei.

Als wir heute einen Spaziergang machten, gingen wir bergauf. N. wurde müde, ließ sich auf einem Haufen Herbstlaub nieder (der Boden ist noch feucht) und erbleichte. Sie ist auch jetzt noch gut zu Fuß, ohne zu ermüden. Doch in den letzten Monaten macht sich das Herz von Zeit zu Zeit bemerkbar – sie arbeitet zu viel und mit Hingabe (so tut sie alles) –, und heute bei dem steilen Bergaufstieg wirkten sich die Folgen aus. N. setzte sich mit einem mal, es war zu sehen, dass sie nicht weiter konnte, dabei umspielte ein schuldhaftes Lächeln ihren Mund. Wie leid tat mir die Jugend, ihre Jugend… Eines Nachts liefen wir aux pas gymnastiques von der Opéra in Paris zu uns nach Hause, in die Rue Gassendi 46, es war im Jahre 1903. Dabei hielten wir uns an den Händen. Zusammen waren wir 46 Jahre alt. – N. war wohl die Unermüdlichere. – Einmal machten wir zusammen mit einer größeren Gruppe einen Ausflug irgendwohin in die Umgebung von Paris; wir kamen an eine Brücke. Zwei kleine Jungen, die über das Brückengeländer geklettert waren, standen auf dem aus großer Höhe steil abfallenden Betonpfeiler der Brücke und beobachteten die Passanten von oben. Unerwartet begann N. den steilen und glatten Hang des Brückenpfeilers zu ihnen hinaufzusteigen. Ich erstarrte. Es schien mir, dass der Aufstieg unmöglich sei. Doch sie ging auf den hohen Absätzen ihrer Stöckelschuhe in ihrer harmonischen Haltung und mit einem Lächeln auf ihrem Gesicht, das den beiden Jungen zugewandt war. Die beiden erwarteten sie neugierig. Wir alle blieben gespannt stehen. Ohne sich umzublicken, stieg N. bis nach oben, unterhielt sich eine Zeitlang mit den Kindern und stieg dann – anscheinend ohne eine einzige überflüssige Anstrengung und auch ohne jede falsche Bewegung – ebenso wieder hinab… Es war Frühling, und die Sonne strahlte wie heute, als N. sich ins Gras niedersetzte…

»Dagegen ist nun einmal kein Kraut gewachsen«, schrieb Engels über das Alter und den Tod. Längs diesem gnadenlosen, alles überspannenden Bogen verteilen sich von der Wiege bis zum Grabe alle Ereignisse und Erlebnisse des menschlichen Daseins. Dieser Bogen bildet eben das, was Leben heißt. Ohne diesen Bogen würde es kein Alter, aber auch keine Jugend geben. Das Alter ist »notwendig«, weil in ihm Ruhe und Weisheit beschlossen sind. Die Jugend ist im Grunde genommen gerade darum herrlich, weil es Alter und Tod gibt. Vielleicht kommen mir alle diese Gedanken, weil der Rundfunk Wagners Götterdämmerung überträgt.

Kommentare