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Leo Trotzki 19350411 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 118-120]

11. April

Dem Baldwin erscheint Europa als Irrenhaus; nur England hat seine Vernunft bewahrt: es hat nach wie vor seinen König, das Parlament und die Lords. England hat Revolution, Tyrannenherrschaft und Verfolgungen vermeiden können (vgl. seine Rede in Llandrindod).

Was die Sache selbst anbelangt, so hat Baldwin keine blasse Ahnung davon, was sich vor seinen Augen abspielt. Der Abstand, der Baldwin von Lenin trennt, wenn man beide vom typologischen Standpunkt aus als Intellektuelle betrachtet, ist größer als der Abstand zwischen einem keltischen Druiden und Baldwin… England ist nichts mehr als die letzte Krankenstation des europäischen Irrenhauses, und es ist leicht möglich, dass es sich dabei um die Tobsüchtigen-Station handeln wird.

Vor der Bildung der letzten Labour-Regierung, gerade als die Wahlen stattfanden, besuchten uns auf Prinkipo die beiden Webbs, Sidney und Beatrice. Diese »Sozialisten« waren mit dem »Sozialismus in einem Lande« von Stalin, was Russland anbelangt, sehr einverstanden. Für die Vereinigten Staaten erhofften sie sich nicht ohne Schadenfreude den Ausbruch eines erbitterten Bürgerkrieges. Aber für England (und Skandinavien) behielten sie sich das Privileg eines friedlichen, evolutionären Sozialismus vor. Um die peinlichen Tatsachen (Oktoberrevolution, Ausbrüche des Klassenkampfes, Faschismus) irgendwie unterzubringen, gleichzeitig aber auch ihren Fabiervorurteilen und Schwächen frönen zu können, schufen die beiden Webbs für die Zwecke ihres angelsächsischen Empirismus eine »Typen«-Theorie der sozialen Entwicklung, wobei sie der Weltgeschichte speziell für England den friedlichen Evolutionstypus abhandelten. Justament in jenen Tagen bereitete sich Sidney Webb darauf vor, von seinem König den Titel eines Lord Passfield zu empfangen, um als Minister Seiner Majestät an den friedlichen Umbau der Gesellschaftsordnung zu gehen.* Selbstverständlich stehen die beiden Webbs Baldwin näher als Lenin. Obwohl die beiden Webbs hochgebildete Menschen sind, hörte ich ihnen mit einem Gefühl zu, als handelte es sich um Geister aus dem Jenseits. Allerdings hoben sie rühmend hervor, dass sie keiner Kirche angehörten.

*Dabei fällt mir eine Episode ein. S. Webb teilte mir mit besonderem Nachdruck mit, dass er nur deshalb die Möglichkeit gehabt habe, England auf einige Wochen zu verlassen, weil er bei den Parlamentswahlen nicht kandidierte. Offensichtlich erwartete er meinerseits die Frage: warum?, um mir dann die Mitteilung von seiner bevorstehenden Erhebung in den Adelsstand zu machen. Sein Blick verriet mir, dass er auf diese Frage wartete, ich hielt mich aber zurück, um nicht irgendeinen Fauxpas zu begehen: die Geschichte mit dem Lordtitel kam mir überhaupt nicht in den Sinn, ich bin eher geneigt zu glauben, dass Webb aus Altersgründen auf eine aktive Rolle in der Politik verzichtet hatte und dieses Thema verständlicherweise nicht vertiefen wollte. Erst später, als die neue Regierung gebildet worden war, wurde mir klar, worum es sich dabei gehandelt hatte: der Verfasser von Forschungsstudien über die industrielle Demokratie lebte im stolzen Vorgefühl, alsbald den Titel eines Lords zu führen!

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