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Leo Trotzki 19350414 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 120-123]

14. April

In Stresa sind drei sozialistische Überläufer zu verzeichnen: Mussolini, Laval und MacDonald. Sie vertreten die »nationalen« Interessen ihrer Länder. Der Unbedeutendste und am wenigsten Begabte von ihnen ist MacDonald. Ihm haftet etwas bis auf die Knochen Lakaienhaftes an, sogar in seiner äußeren Erscheinung, wenn er mit Mussolini spricht (vgl. Zeitungsklischees). Es ist für den Charakter dieses Mannes bezeichnend, dass er bei der Bildung seiner ersten Regierung nichts Eiligeres zu tun hatte, als Mosley – diesem aristokratischen Schaumschläger, der sich unmittelbar zuvor der Labour-Party angeschlossen hatte, um sich einen kürzeren Weg zum Aufstieg zu sichern –, einen Ministersessel zur Verfügung zu stellen. Jetzt versucht derselbe Mosley, das alte vernünftige England in eine Krankenstation des europäischen Irrenhauses zu verwandeln. Wenn nicht gerade er selbst, so wird ein anderer in dieser Hinsicht bestimmt reüssieren, sobald nur der Faschismus in Frankreich siegt. Die mögliche Machtübernahme durch die Labour-Party wird der Entwicklung des britischen Faschismus einen starken Impuls verleihen und wird allen geschichtlich-philosophischen Konzeptionen der Baldwins und Webbs zum Trotz ganz allgemein ein neues und stürmisches Kapitel der Geschichte Englands einleiten. Im September 1930, also zwei oder drei Monate nach den Webbs, besuchte mich auf Prinkipo Cynthia Mosley, die Frau des Abenteurers und Tochter des sattsam bekannten Lords Curzon. Um jene Zeit führte ihr Mann seine Angriffe gegen MacDonald noch »von links«. Nach einigem Zögern erklärte ich mich mit einer Zusammenkunft einverstanden, die übrigens auf eine äußerst banale Art verlief. Die »Lady« erschien mit einer dame de compagnie; äußerte sich abfällig über MacDonald und sprach von der Sympathie, die sie gegenüber Sowjetrussland empfand. Im übrigen illustriert ihr beiliegender Brief ihre damaligen Stimmungen zur Genüge. Etwa drei Jahre darauf starb die junge Frau unerwartet. Es ist mir nicht bekannt, ob sie noch Zeit gehabt hat, in das faschistische Lager hinüber zu wechseln.

Ungefähr um dieselbe Zeit oder etwas später erhielt ich einen Brief von Beatrice Webb, in welchem sie –, aus eigener Initiative – den Versuch unternahm, die Ablehnung des Einreisevisums für mich durch die Labourregierung zu entschuldigen oder zu erklären. (Ich müsste diesen Brief heraussuchen, doch habe ich zur Zeit keinen Sekretär…) Ich beantwortete ihren Brief nicht: es wäre zwecklos gewesen.

»M. Tokatliyan Oteli

Beyoglu Istiklal Caddesi

Hotel M. Tokatlian

Pera, Rue Istiklal

Istanbul, den 4. September 1930

Lieber Genosse Trotzki!

Es ist mein größter Wunsch, Sie ein paar Minuten sprechen zu dürfen. Was aber sollte Sie wohl veranlassen, mich zu empfangen, zumal ich erstens der englischen Labour-Partei angehöre, die sich die Blöße gab, Ihnen die Einreise zu verbieten, gleichzeitig jedoch auch zur ILP gehöre, und wir taten unser Möglichstes, ihre Meinung zu ändern, und 2. bin ich die Tochter von Lord Curzon, der Außenminister in London war, als Sie in Russland waren. Andererseits bin ich eine begeisterte Sozialistin. Ich bin Mitglied des Unterhauses. Von der gegenwärtigen Regierung halte ich gar nichts. Gerade habe ich Ihre Biographie gelesen, die mich wie kein anderes Buch seit langer Zeit beeindruckt hat. Ich bewundere Sie sehr. In dieser Zeit, in der große Männer so selten sind, wäre es eine große Gunst, eine der historischen Persönlichkeiten unserer Zeit zu treffen. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass Sie mir diese Gunst gewähren. Ich brauche kaum zu betonen, dass ich als Privatperson käme, nicht als Journalistin oder irgend etwas anderes. Ich bin auf dem Wege nach Russland und fahre am Montag mit dem Schiff nach Batum-Tiflis-Rostow-Charkow und Moskau ab. Ich bin heute Nachmittag nur nach Prinkipo gekommen um zu versuchen, Sie zu sehen. Aber wenn es Ihnen nicht passt, könnte ich bis Montag auch zu anderer Zeit kommen. Ich hoffe jedoch, dass Sie diesen Nachmittag ein paar Minuten Zeit für mich haben.

In Brüderlichkeit, Ihre

Cynthia Mosley«1

1 Eingeklebter maschinengeschriebener Brief

M. TOKATLIYAN OTELI

Beyoglu Istiklal Caddesi

Hotel M. Tokatlian

Pera, Rue Istiklal

Instanbul, September 4, [mit Tinte:] 1930

Dear Comrade Trotsky.

I would like above all things to see you for a few moments. There is no good reason why you should see me as 1) I belong to the Labour Party in England who were so ridiculous and refused to allow you in, but also I belong to the I.L.P. and we did try our very best to make them change their minds, and 2) I am daughter of Lord Curzon who was Minister for Foreign Affairs in London when you were in Russia! On the other hand I am an ardent Socialist. I am a member of the House of Commons. I think less than nothing of the present Government. I have just finished reading your life which inspired me as no other book has done for ages. I am a great admirer of yours. These days when great men seem so very few and far between it would be a great privilege to meet one of the enduring figures of our age and I do hope with all my heart you will grant me that privilege. I need hardly say I came as a private person, not a Journalist or anything but myself – I am on my way to Russia, I leave for Batoum – Tiftis – Rostov – Kharkov and Moscow by boat Monday. I have come to Prinkipo this afternoon especially to try to see you, but if it were not convenient I could come out again anyday till Monday. I do hope however you could allow me a few moments this afternoon.

Yours fraternally

CYNTHIA MOSLEY

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