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Leo Trotzki 19350427 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 123-125]

27. April

Wieder eine lange Unterbrechung: Ich habe mich mit den Angelegenheiten der Vierten Internationale befasst, insbesondere mit den programmatischen Unterlagen der Lateinamerikanischen Sektion. Allenthalben haben sich Brennpunkte des revolutionären marxistischen Denkens gebildet, unsere Gruppen widmen sich dem Studium, der Kritik, sie lernen und denken – darin besteht ihre ungeheure Überlegenheit sowohl gegenüber den Sozialisten als auch gegenüber den Kommunisten. Diese Überlegenheit wird ihren Ausdruck in großen Ereignissen finden.

Gestern machte ich mit N. einen Spaziergang bei feinem Sprühregen. Unterwegs überholten wir eine Gruppe, die so aussah: eine junge Frau, die ein einjähriges Kind auf dem Arm trug, vor ihr ein kleines Mädchen, etwa 2 bis 3 Jahre alt, die Frau selbst mit einem mächtigen Bauch, also kurz vor der Entbindung; in der Hand hielt sie einen Strick, an dem sie eine Ziege führte, neben der Ziege ein junges Zicklein. So bewegten sie sich zu fünft, oder richtiger zu sechst, langsam den Weg entlang. Die Ziege trachtete andauernd danach, zur Seite auszubrechen, um am Laub des Buschwerks zu knabbern; die Frau zerrte am Strick, das Mädchen blieb unterdessen zurück oder lief voraus, das Zicklein verwickelte sich im Gezweig des Buschwerks. Auf dem Rückwege stießen wir wieder auf diese Familiengruppe, die ihren Weg langsam auf das Dorf zu fortsetzte. Das noch frische Gesicht der Frau trug den Stempel der Schicksalsergebenheit und der Geduld. Sie war eine Spanierin oder eine Italienerin, möglicherweise auch eine Polin – hier gibt es zahlreiche ausländische Arbeiterfamilien.

Noch keine Nachrichten über Serjoschas Schicksal.

In seinen Moskauer Drahtmeldungen vermerkt Le Temps, dass in den Aufrufen zum 1. Mai dieses Jahres lediglich der Kampf gegen die Trotzkisten und Sinowjewanhänger, dagegen die rechte Opposition überhaupt nicht erwähnt wird. Diesmal wird die Rechtswendung weiter denn jemals ausholen, viel weiter, als Stalin es annimmt.

Nicht ohne Verwunderung sah ich auf dem letzten (dem 43sten) Heft des von mir herausgegebenen Bulletin der russischen Opposition den Vermerk: 7. Jahrgang. Das bedeutet: das siebente Jahr der dritten Emigration. Die erste dauerte zweieinhalb Jahre (1902-1905), die zweite zehn Jahre (1907-1917), die dritte… wie lange wird die dritte dauern?

In der Zeit der ersten und zweiten Emigration (bis zum Kriegsbeginn) fuhr ich kreuz und quer durch Europa und hielt ungehindert Vorträge über das Herannahen der sozialen Revolution. Nur in Preußen mussten Vorsichtsmaßregeln beachtet werden; im übrigen Deutschland herrschte Polizeileutseligkeit. Ganz zu schweigen von den anderen Ländern, darunter auch die Balkanstaaten. Ich reiste auf Grund irgendeines fragwürdigen bulgarischen Passes, den ich, scheint mir jetzt, nur ein einziges Mal vorzeigen musste: an der preußischen Grenze. Waren das goldene Zeiten! In Paris schlugen die verschiedenen Fraktionen der Emigranten Redeschlachten, die bis Mitternacht und bis in die Morgenstunden hinein dauerten, über die Probleme des Terrors und des bewaffneten Aufstandes… Zwei Polizeibeamte hielten sich in der Straße auf (ich glaube, es war die Avenue Choisy Nr. 110), den Saal betraten sie nie und überprüften auch niemals die Versammlungsteilnehmer. Nur dann und wann wurde die Beleuchtung nach Mitternacht vom Kaffeehausbesitzer ausgeschaltet, um die ungezügelten Leidenschaften zu dämpfen – eine andere Art der Kontrolle ihrer zerstörerischen Tätigkeit war den Emigranten unbekannt. Um wie viel stärker und selbstsicherer fühlte sich doch das kapitalistische Regime in jenen Jahren!

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