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Leo Trotzki 19350429 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 125-128]

29. April

Vorgestern sagte Edouard Herriot in Lyon: »Wir haben unsere Revolution vollendet; wir haben sogar länger als ein halbes Jahrhundert damit gewartet, Nutzen daraus zu ziehen. Heute verfügen wir über den erforderlichen Rahmen für jede denkbare Reform, jede Weiterentwicklung und jede Art des Fortschritts.«1

Deshalb weigert sich Herriot, zu einem Einvernehmen mit denen zu kommen, die sich zum »revolutionären Handeln« bekennen.

»Wir konnten seinerzeit weder denen beipflichten, die sich auf revolutionäre Maßnahmen beriefen, noch denen, die die Notwendigkeit einer den Erfordernissen angepassten Landesverteidigung in Abrede stellten.«2

Ein großes geschichtliches Zeitalter – das Zeitalter der konservativen Demokratie, das Zeitalter der »Hochblüte« des Durchschnittsfranzosen – spricht durch den Mund Herriots. Wie immer, findet auch dieses Zeitalter, das sich erfüllt hat, den klarsten Ausdruck seiner selbst kurz vor seinem Untergang. »Wir haben unsere Revolution gemacht«, so lautet die Verkündigung der Bourgeoisie (von gestern) aus dem Munde Herriots. »Aber wir haben die unsrige noch nicht gemacht« – antwortet das Proletariat. Gerade darum will sich die Bourgeoisie von heute mit den durch die Revolution geschaffenen cadres nécessaires pour toutes les réformes nicht abfinden. Herriot ist das Gestern. Die jüngste Ausgabe des Temps (vom 28. April) bringt einen geradezu ungewöhnlichen jesuitischen Leitartikel zum Thema der faschistischen Verbände. Die Jugend »gibt sich dem Rausch hin«? »Il faut l'aimer puisqu'elle est l'avenir.« Die Großbourgeoisie hat ihre Entscheidung bereits getroffen.

Wenn man den jüngsten Meldungen Glauben schenken will, so wird der Maikongress der Komintern in Moskau doch stattfinden. Offenbar war Stalin nicht mehr in der Lage, den Kongress abzusagen oder zu vertagen: es wäre ein zu großer Skandal gewesen. Nicht ausgeschlossen ist aber auch, dass die Ergebnislosigkeit des Edenbesuchs und Verhandlungsschwierigkeiten mit Frankreich eine Eingebung zur Folge hatten: den Kontrahenten mit dem Kongress Schreck einzujagen. Doch o weh, dieser Kongress wird niemandem Furcht einflößen können!

»Der Papst segnet die Gläubigen über den Rundfunk

Lourdes, 28. April – Die Pontifikalmesse war heute um 16 Uhr 20 zu Ende.

Kurze Zeit später wurde durch Lautsprecher angekündigt, dass Seine Heiligkeit, Papst Pius XL, über den Sender der Vatikanstadt den Gläubigen seinen Segen erteilen werde. Einige Minuten danach, in einem Augenblick vollkommener Stille, sprach Papst Pius XI. der Menge seinen Dank dafür aus, dass sie aus allen Teilen der Welt in so großer Zahl herbei geströmt war.«3

Im vorigen Jahr besuchten N. und ich Lourdes. Wie roh, gemein und ekelhaft ist das alles! Ein Trödlerladen der Wunder, ein Handelskontor der Gnade. Die eigentliche Grotte hinterlässt den miserabelsten Eindruck. Es handelt sich dabei natürlich um den psychologischen Kalkül der Pfaffen: der kleine Mann soll durch das Grandiose des kommerziellen Unternehmens nicht abgeschreckt werden; der kleine Mann empfindet ja Scheu angesichts zu prachtvoll ausgestatteter Schaufenster. Zugleich ist er aber auch der treueste Kunde, der den größten Gewinn garantiert. Doch das Beste von allem war der apostolische Segen, der in Lourdes vom Rundfunk übertragen wurde. O arme Wundertaten des Neuen Testaments neben dem drahtlosen Fernsprecher! Was kann aber auch absurder und abstoßender sein, als die Verbindung stolz erregender Errungenschaften der Technik mit der Zauberei des römischen Druidenprimas. Fürwahr – das Denken der Menschheit erstickt in seinen eigenen Exkrementen.

1 Eingeklebter Zeitungsausschnitt

Notre Révolution, nous l'avons faite. Nous avons même attendu plus d'un demi-siècle pour en recueillir les bienfaits. Nous possédons aujourd'hui les cadres nécessaires pour toutes les réformes possibles, pour toutes les évolutions, pour tous les progrès. Die ersten beiden Sätze sind mit Tinte unterstrichen. An- und Ausführung sind ebenfalls mit Tinte eingesetzt.

2 Eingeklebter Zeitungsausschnitt

Nous ne saurions donc nous accorder ni avec ceux qui se réclament de l'action révolutionnaire, ni avec ceux qui nient la nécessité d'organiser, selon ses besoins, la défense nationale.

3 Am Seitenrand eingeklebter Zeitungsausschnitt

LE PAPE BÉNIT PAR T. S. F. LES FIDÈLES DE LOURDES

Lourdes, 28 avril.La messe pontificale a pris fin aujourd'hui vers 16 heures 20.

Un peu après, les haut-parleurs ont annoncé qu'ils allaient faire entendre la Cité du Vatican et que Sa Sainteté Pie XI allait donner sa bénédiction aux fidèles. En effet, quelques minutes après, au milieu du plus profond silence, Pie XI addressa à la foule tous ses remerciements, toute sa reconnaissance d'être venue si nombreuse de toutes les parties du monde. Das Wort Lourdes ist mit Tinte unterstrichen

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