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Leo Trotzki 19350504 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 129-132]

4. Mai

Das französisch-sowjetische Abkommen ist unterzeichnet worden. Alle französischen Pressekommentare, ungeachtet der verschiedenen Schattierungen, stimmen in folgendem überein: die Bedeutung des Vertrags besteht darin, dass er die UdSSR bindet und ihr kein Liebäugeln mit Deutschland gestattet; unsere –, wirklichen »Freunde« sind nach wie vor Italien und England plus Kleine Entente und Polen. Die UdSSR wird eher als eine Geißel denn als ein Verbündeter angesehen. Der Temps entwirft ein faszinierendes Bild der Moskauer Militärparade am 1. Mai, fügt aber vielsagend hinzu: die tatsächliche Stärke einer Armee wird nicht auf Grund von Paradeeindrücken, sondern auf Grund des Industriepotentials und der Transport- und Versorgungsfaktoren usw. beurteilt. Potemkin hatte einen Telegrammwechsel mit Herriot, »dem Freunde meines Landes«. Zu Beginn des Bürgerkriegs geriet Potemkin – offenbar im Zuge einer der zahllosen Aushebungen für den Truppenersatz –, an die Front. An der Südfront saß damals Stalin, der den Potemkin zum Chef der Politabteilung einer der Armeen (oder einer Division?) ernannte. Während einer Frontbesichtigungsfahrt besuchte ich diese Politabteilung. Potemkin, dem ich damals zum ersten Mal begegnete, empfing mich mit einer ungewöhnlich ergebungsvollen und unaufrichtigen Ansprache. Die bolschewistischen Arbeiter und Kommissare waren sichtbar peinlich berührt. Beinahe stieß ich Potemkin vom Rednerpult zurück, und ohne auf seine Begrüßungsansprache einzugehen, begann ich über die Frontlage zu sprechen… Nach einiger Zeit befasste sich das Politbüro unter Stalins Teilnahme mit der Überprüfung der Mitarbeiter der Südfront. Potemkin kam an die Reihe. »Ein unerträglicher Kerl«, sagte ich, »offenbar ist er ein uns ganz und gar wesensfremder Mensch.«

Stalin setzte sich für ihn ein: er habe, seht mal, irgendeine Division an der Südfront »auf Vordermann gebracht«, das heißt die Disziplin wiederhergestellt. Sinowjew, der Potemkin von den alten Petersburger Zeiten her oberflächlich kannte, unterstützte mich: »Potemkin hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Professor Reisner, nur ist er schlimmer als der.« Damals, scheint es mir, habe ich zum ersten Mal erfahren, dass Potemkin auch ein ehemaliger Professor ist. »Ja, inwiefern ist er denn eigentlich schlecht?« – fragte Lenin. – »Ein Höfling!« – antwortete ich. Offenbar hatte Lenin meine Antwort dahin verstanden, dass ich auf das servile Verhalten Potemkins gegenüber Stalin anspielte. Doch war mir diese Frage überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Ich dachte einfach an die peinliche Begrüßungsansprache, mit der Potemkin mich empfangen hatte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich dieses Missverständnis nachträglich aufgeklärt habe…

In Frankreich verliefen die Maifeiern im Zeichen der Erniedrigung und der Schwäche. Der Innenminister verbot Demonstrationen, sogar im Walde von Vincennes, und tatsächlich fanden trotz aller Prahlereien und Drohungen der L’Humanité keine Demonstrationen statt. Diese Maifeiern sind lediglich die Fortsetzung und die Widerspiegelung des gesamten Ablaufs des Kampfes. Wenn die führenden Organisationen noch im März und April alles zurückhalten, bremsen, verwirren und demoralisieren – kann natürlich ein Ausbruch offensiver Entschlossenheit zu einem festgelegten Kalenderzeitpunkt, dem 1. Mai, auch mit Wundermitteln nicht hervorgerufen werden. Léon Blum und Marcel Cachin wirken nach wie vor systematisch bahnbrechend für den Faschismus.

Das Leben verläuft nach wie vor in den Bahnen eines gelockerten Gefängnisregimes: innerhalb der vier Wände und ohne Kontakt mit Menschen. Einmal täglich ein Spaziergang den Fußpfad entlang, zwischen Gärten und Höfen auf der einen und den Berghängen auf der anderen Seite. Der Pfad führt von beiden Seiten zu den Dörfern hinab, so dass der Spaziergang nur kurz ist, etwa 30 Minuten lang; um auf eine volle Stunde zu kommen, muss man den Weg hin und zurück zweimal zurücklegen. Auch das erinnert an Gefängnisspaziergänge… Man kann freilich den Berg hinaufsteigen, wir haben es manchmal getan, aber es ist ermüdend und wirkt sich aufs Herz aus. Ein- oder zweimal fährt N. nach Grenoble, um einzuholen; ich fahre fast nie hin… Doch das sind alles Bagatellen im Vergleich mit der Erkenntnis, dass die faschistische Reaktion mit jedem Tage näher rückt.

Morgen finden die Gemeinderatswahlen statt, denen eine wichtige symptomatische Bedeutung zukommen wird. Die Radikalen haben sich gespalten. Die Linksminorität tritt für das Wählerkartell ein. Die Rechtsmajorität für den nationalen Block. Diese Spaltung stellt eine äußerst bedeutsame Stufe im Zerfallsprozess des Radikalismus dar. Doch auf dieser Stufe kann der Prozess durch den Stimmenzuwachs in den Städten paradoxe Formen annehmen: die gesamte Bourgeoisie und das reaktionäre Kleinbürgertum werden ihre Stimmen den Radikalen geben. Allein, der Radikalismus wird seinem Schicksal nicht entrinnen.

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