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Leo Trotzki 19350505 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 133-140]

5. April (sic!)

Heute ist Wahltag. Die Mobilmachung aller Ordnungskräfte vollzieht sich nach dem Schlagwort des »Antikollektivismus«. Indessen haben es die beiden Arbeiterparteien nicht gewagt, das sozialistische Banner zu entrollen, um die »Mittelstandsklassen« nicht zu erschrecken. Durch ihr sozialistisches Programm erleiden also diese unglücklichen Parteien nur Einbußen.

Der Rundfunk überträgt Madame Butterfly. Es ist Sonntag und wir sind allein im Hause: Die Hausbesitzerfamilie ist entweder zu Gast oder sie erfüllt ihre Bürgerpflicht und wählt…

Eine Radfahrergruppe fuhr auf der Straße vorüber, der Radfahrer an der Spitze sang die Internationale vor sich hin; anscheinend war es eine Wählerpatrouille von Arbeitern. Zwei Arbeiterparteien und zwei Gewerkschaftsorganisationen, die bis aufs Mark ausgehöhlt sind, verfügen doch noch über die ungeheure Kraft des geschichtlichen Trägheitsmoments. Das organische Wesen sozialer, damit aber auch politischer Entwicklungsvorgänge wird in Krisenzeitaltern mit besonderer Deutlichkeit sichtbar, wenn sich die alten »revolutionären« Organisationen als bleiern hinterlastig erweisen, was sie daran hindert, die erforderliche Wende rechtzeitig zu vollziehen. Wie sinnlos sind die »Theorien« Mr. Eastmans und seiner Gesinnungsgenossen über die »Revolutionsingenieure«, die angeblich auf der Grundlage ihrer Entwurfszeichnungen aus dem vorhandenen Material neue Sozialverhältnisse konstruieren. Und dieser amerikanische Mechanismus unternimmt es zu behaupten, dass er im Vergleich zum dialektischen Materialismus einen Schritt vorwärts darstelle! Die sozialen Entwicklungsvorgänge sind ihrem Wesen nach den organischen Prozessen (diese in einem umfassenderen Sinne verstanden) viel näher als den mechanischen. Die Art des Denkens und Wirkens eines Revolutionärs, der sich auf eine wissenschaftliche Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung stützt, entspricht viel mehr dem Denken und Wirken eines Arztes, insbesondere eines Chirurgen, als dem Denken und Wirken eines Ingenieurs. (Wiewohl auch die Vorstellungen des Amerikaners Eastman vom Brückenbau ganz und gar kindlich sind!) – Wie der Arzt, ist auch der marxistische Revolutionär darauf angewiesen, sein Wirken auf das autonome Regime der Lebensprozesse zu stützen… In Frankreich erscheint der Marxist unter den gegenwärtigen Verhältnissen als ein »Sektierer«, das geschichtliche Beharrungsvermögen, darunter auch das Beharrungsvermögen der Arbeiterorganisationen steht ihm entgegen… Die Richtigkeit der marxistischen Prognosen muss offenkundig werden, doch können sich diese Prognosen auf zweierlei Art als richtig erweisen: durch das rechtzeitige Einschwenken der Massen in Richtung auf eine marxistische Politik oder aber durch die Zerschlagung des Proletariats (das sind die Alternativentwicklungen des gegenwärtigen Zeitalters).

1926 waren N. und ich um diese Zeit in Berlin. Die Weimarer Demokratie stand damals noch in voller Blüte. Die Politik der KPD war schon längst aus den marxistischen Gleisen gesprungen (soweit sie sich überhaupt jemals ganz auf diesen Gleisen bewegt hatte), doch die Partei selbst stellte immer noch eine achtunggebietende Potenz dar. Wir nahmen inkognito an den Demonstrationen anlässlich des 1. Mai auf dem Alexanderplatz teil. Eine unübersehbar große Menschenmenge, sehr viele Fahnen und Reden, die von innerer Zuversicht zeugten. Der Gesamteindruck war: es wird schwerfallen, diese Monstermaschine herumzukriegen… Um so niederdrückender war das Empfinden, das in mir der Anblick des Politbüros in Moskau am ersten Donnerstag nach meiner Rückkehr auslöste. Damals hatte Molotow die Führung in der Komintern. Er ist kein dummer Mensch, und charakterstark, aber borniert, stumpf und phantasielos. Europa ist ihm unbekannt, und Bücher in fremden Sprachen liest er nicht. Da er sich seiner Schwäche bewusst ist, verteidigt er seine »Unabhängigkeit« um so erbitterter. Ich erinnere mich, wie einmal Rudsutak, als er mir opponierte, die Richtigkeit meiner Übersetzung aus der L’Humanité als »tendenziös« anzweifelte: er nahm mir die Zeitung aus der Hand, fuhr mit dem Finger entlang den Zeilen hin und her, versprach sich und versteckte sich hinter seiner Unverschämtheit wie hinter einem Schild. Die übrigen »unterstützten« wieder einmal. Das Gesetz der solidarischen gegenseitigen Haftung war in Kraft gesetzt und galt ehern. (Kraft einer geheimen Sonderverfügung aus dem Jahre 1924 hatten sich die Mitglieder des Politbüros verpflichtet, öffentlich nie gegeneinander zu polemisieren und in der Polemik mit mir sich gegenseitig stets zu unterstützen.) Diese Menschen waren wie eine stumme Mauer, vor der ich stand. Doch das war selbstverständlich nicht das Wesentliche. Hinter der Ignoranz, Borniertheit, Verbohrtheit und Feindseligkeit der einzelnen konnten die sozialen Merkmale einer privilegierten Kaste beinahe mit den Händen abgetastet werden, einer Kaste, die außerordentlich sensibel und sehr scharfsinnig war und in allen Dingen, welche ihre ureigensten Interessen betrafen, über ein außergewöhnliches Maß an Initiative verfügte. Die KPD war von dieser Kaste ganz und gar abhängig. Eben darin bestand die Tragik der geschichtlichen Lage. Der Schlussakt spielte sich 1933 ab, als die zahlenmäßig ungeheuer große Kommunistische Partei Deutschlands, durch Lüge und Betrug ausgehöhlt, vor dem heranrückenden Faschismus in Schutt und Staub zerfiel. Molotow und Rudsutak hatten das nicht vorausgesehen, es hätte aber vorausgesehen werden können…

Die weitere Entwicklung aller Ereignisse beweist, dass es sich dabei nicht um die Folgen der individuellen Beschränktheit und der persönlichen Kurzsichtigkeit Molotows handelte. Die Bürokratie ist sich selbst treu geblieben. Ihre Hauptwesenszüge haben eine weitere Vertiefung erfahren. Die Komintern verfolgt eine Politik, die in Frankreich nicht weniger verhängnisvoll ist als in Deutschland. Indessen ist das geschichtliche Beharrungsvermögen noch immer lebendig. Es ist fast gewiss, dass diese jungen Menschen auf den Fahrrädern, die die Internationale vor sich hin sangen, der Kominternfahne treu sind, die ihnen aber nichts als Niederlagen und Erniedrigungen bringen kann. Ohne das bewusste und entscheidende Eingreifen der »Sektierer«, d. h. der marxistischen, gegenwärtig zur Seite gedrängten Minderheit, ist es überhaupt unmöglich, den großen Marsch zu beginnen. Es handelt sich aber um das Eingreifen in einen organischen Prozess. Seine Gesetze müssen ebenso bekannt sein, wie die »Naturheilkräfte« dem Arzt bekannt sein sollen.

Nach zweiwöchiger angestrengter Arbeit war ich krank und habe mehrere Romane durchgelesen. Clarisse et sa fille von Marcel Prévost. Ein in seiner Art tugendhafter Roman, doch sind es Tugenden einer alternden Dirne. Prévost als »Psychoanalytiker«! Wiederholt bezeichnet er sich selbst als einen »Psychologen«. Als eine Autorität in Fragen der Herzenskunde nennt er auch Paul Bourget. Es ist mir noch gut erinnerlich, mit welch wohlbegründeter Verachtung, ja sogar mit welchem Abscheu Bourget von Octave Mirbeau erwähnt wurde. Und wirklich, was ist doch das für eine oberflächliche, verlogene und angefaulte Literatur!

Die russische Novelle Kolchis von Paustowski. Anscheinend ist der Verfasser ein alter Seemann und Bürgerkriegsteilnehmer. Ein Mensch, der begabt ist und, was das schriftstellerische handwerkliche Können anbelangt, hoch über den sogenannten proletarischen Schriftstellern steht. Bei der Schilderung der sowjetischen Lebensverhältnisse (in Transkaukasien) erinnert er an einen guten Parterreakrobaten, der Ellenbogen an Ellenbogen gefesselt ist. Doch finden sich bei ihm bewegende Bilder der Arbeit, des Opferwillens und der Begeisterung. So seltsam es klingen mag, am besten ist ihm die Gestalt des englischen Matrosen gelungen, der irgendwo im Kaukasus steckengeblieben und dort dem allgemeinen Arbeitsrhythmus verfallen ist.

Der dritte Roman, den ich las, ist Das große Fließband von Jakow Iljin. Dies ist nun schon ein echtes Stück der sogenannten proletarischen Literatur, und zwar nicht das schlechteste Stück. Der Verfasser legt den »Roman« eines Traktorenwerks vor, vom Baubeginn bis zur Inbetriebnahme. Eine Fülle von Einzelheiten und technischen Problemen, noch mehr aber Auseinandersetzungsstoff, der sich auf alles das bezieht. Die Darstellung ist verhältnismäßig flüssig, wiewohl immer noch schülerhaft. In diesem »proletarischen« Kunstwerk ist der Platz des Proletariats irgendwo tief im Hintergrund – in der vordersten Reihe befinden sich Organisatoren, Manager, Techniker, leitende Persönlichkeiten – und Werkbänke. Der Bruch zwischen der Oberschicht und den Massen zieht sich wie ein roter Faden durch diese Epopöe eines amerikanischen Fließbandes an der Wolga. Der Verfasser ist außergewöhnlich generallinienfromm, sein Verhalten der Parteiführung gegenüber wird durch überquellende offizielle Huldigungsdemut bestimmt. Es fällt schwer, die Stärkegrade und die Aufrichtigkeit dieser Gefühle zu ermessen, da sie, ebenso wie das Gefühl der Feindseligkeit gegenüber der Opposition, allgemeinverbindlich und zwangsläufig sind. Ein bestimmter, wenn auch zweitrangiger Platz wird im Roman den Trotzkisten eingeräumt, denen der Verfasser mit großer Sorgfalt Ansichten zuschreibt, welche von ihm aus den Leitartikeln der Prawda entliehen werden. Und dennoch, trotz dem Gesamttenor streng gewahrter Staats- und Parteifrömmigkeit, hat der Roman stellenweise den Klang einer gegen das stalinistische Regime gerichteten Satire. Das großartige Industriewerk wird vor dem Abschluss der Bauarbeiten in Betrieb genommen: die Werkbänke sind zwar da, aber die Arbeiter haben kein Dach über dem Kopf; die Arbeit ist nicht organisiert, die Wasserversorgung klappt nicht und überall herrscht Anarchie. Die Stilllegung des Werks wird zwingend. Stilllegung? Was wird aber Stalin sagen? Man ist doch die Verpflichtung eingegangen, zum Parteitag usw. Abstoßender Byzantinismus anstatt sachlicher Überlegungen. Im Endergebnis – monströser Raubbau an der menschlichen Arbeitskraft und minderwertige Traktoren. Der Verfasser gibt die Rede Stalins wieder, die dieser auf einer Tagung von Wirtschaftsfunktionären gehalten hatte: »Tempoherabsetzung? Unmöglich. Und was wird der Westen sagen?« (Im April 1927 erstattete Stalin Bericht darüber, dass das Problem des Aufbautempos keinerlei Beziehung zum Problem des Aufbaus des Sozialismus inmitten der kapitalistischen Umzingelung hätte: das Tempo ist unsere »innere Angelegenheit«.) Mithin: das von oben bestellte Tempo »darf nicht« gedrosselt werden. Warum ist dann aber die Zuwachsraten-Kennziffer auf 25, und nicht auf 40 oder nicht auf 75 festgesetzt worden? Die festgelegten Zuwachsraten-Kennziffern werden ohnehin nicht erreicht, jede Annäherung an diese Werte muss dagegen mit minderwertiger Qualität und Abnutzung menschlicher Arbeitskraft sowie technischer Ausrüstung bezahlt werden. Das wird bei Iljin trotz der offiziellen Ehrwürdigkeit sichtbar. Einige Einzelheiten rufen Erstaunen hervor. Ordschonikidse duzt (im Roman) einen Arbeiter, der wiederum sagt »Sie« zu ihm. In diesem Stil wird das ganze Zwiegespräch geführt, was dem Verfasser selbst durchaus in Ordnung zu sein scheint.

Doch die düsterste Seite des Fließbandromans ist die politische Rechtlosigkeit und die Entpersönlichung der Arbeiter, im Besonderen der Proletariatsjugend, der lediglich das Gehorchen beigebracht wird. Einem jungen Ingenieur, der sich gegen die überhöhten Auflagen auflehnt, wird vom Parteikomitee seine kürzliche »trotzkistische« Verfehlung in Erinnerung gebracht, wobei ihm Ausschluss aus der Partei angedroht wird. Junge Parteiangehörige setzen sich über das Thema auseinander: warum innerhalb der jungen Generation niemand auf irgendeinem Gebiet hervorragende Leistungen aufzuweisen habe? Die Gesprächspartner trösten sich, indem sie reichlich verworrene Überlegungen anstellen. Kommt es nicht daher, dass wir unterdrückt werden? – das ist der Ton, der bei einem von ihnen verräterisch aufklingt. Man fällt über ihn her: wir brauchen keine freie Diskussion, wir haben die Leitung seitens der Partei, wir haben die Hinweise Stalins. Parteileitung – ohne Diskussion, eben das sind die Hinweise Stalins, die ihrerseits nichts anderes als die empirische Subsummierung der Bürokratieerfahrungen sind. Das Dogma von der Unfehlbarkeit der Bürokratie bringt die Jugend zum Ersticken, indem es ihre Moral mit den Elementen der Liebedienerei, des Byzantinismus und der verlogenen »Weisheit« vergiftet. Höchstwahrscheinlich leben und schaffen irgendwo im Versteck bedeutende Menschen. Doch diejenigen, die der jungen Generation die offizielle Couleur verleihen, tragen den unverwischbaren Stempel von Halbwüchslingen.

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