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Leo Trotzki 19350516 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 156 f.]

16. Mai

Keine sehr frohen Tage. N. fühlt sich schlecht: Temperatur 38°, anscheinend eine Erkältung, es kann aber auch in Verbindung damit ein Malariaanfall sein. Bei jeder Erkrankung N.s fühle ich, was sie mir in meinem Leben ist. Alle Leiden, körperliche und seelische, erträgt sie schweigend, still in sich gekehrt. Jetzt macht sie sich um meinen Gesundheitszustand mehr Sorgen als um ihren eigenen. »Wenn nur Du gesund wirst«, sagte sie mir, als sie im Bett lag, »ich habe keine anderen Wünsche.« So etwas spricht sie nur selten aus. Und sie sagte es so einfach, gleichmütig und leise, dabei aber aus einer solchen Tiefe des Empfindens, dass es das Innerste meiner Seele aufwühlte… Mein Zustand ist wenig erfreulich. Die Krankheitsattacken häufen sich, die symptomatischen Krankheitserscheinungen nehmen akutere Formen an, die körperliche Widerstandsfähigkeit nimmt sichtlich ab. Natürlich kann die Kurve zeitweilig nach oben ausschlagen. Aber ganz allgemein gesehen, habe ich das Gefühl, dass die Liquidation näher rückt

Zwei Wochen sind es schon, dass ich nicht mehr schreibe: es fällt mir schwer. Ich lese Zeitungen, französische Romane und das Buch von Wittels über Freud (ein schlechtes Buch eines neidischen Schülers) usw. Heute schrieb ich ein wenig über die Wechselbeziehungen zwischen der physiologischen Determiniertheit der Gehirntätigkeitsprozesse und der »Autonomie« des Denkens, das den Gesetzen der Logik gehorcht. Mein Interesse an der Philosophie ist im Laufe der letzten Jahre gewachsen, doch sind meine Kenntnisse leider ungenügend, da zu wenig Zeit für eine große und ernste Arbeit übrigbleibt. Ich muss N. ihren Tee bringen…

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