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Leo Trotzki 19350601 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 166-173]

1. Juni

Die Tage ziehen sich in einer lastenden Reihenfolge dahin. Vor drei Tagen erhielten wir einen Brief von meinem Sohn: Serjoscha ist verhaftet, sitzt im Gefängnis, jetzt ist es schon nicht mehr eine fast sichere Annahme, sondern eine unmittelbare Mitteilung aus Moskau … Offenbar wurde er um die Zeit verhaftet, als der Briefwechsel mit ihm aufhörte, d. h. Ende Dezember – Anfang Januar. Seither ist bald ein halbes Jahr vergangen… Armer Junge… Und meine arme, arme Natascha…

»In letzter Zeit haben in ziemlich weiten Kreisen der Genossen Gerüchte Verbreitung gefunden, denen zufolge Stalin diesmal unseren Sohn Sergej als Werkzeug seiner Rache ausgewählt haben soll. Unsere Freunde fragen uns: ist das wahr? Ja, es ist wahr; Serjoscha wurde unmittelbar nach Jahresbeginn verhaftet. Konnte man sich noch in der ersten Zeit der Hoffnung hingeben, dass es sich dabei um eine zufällige Verhaftung gehandelt habe und dass unser Sohn von heute auf morgen wieder auf freien Fuß gesetzt werden würde –, so ist es jetzt schon ganz klar geworden, dass die Absichten der Urheber der Verhaftung viel ernster sind. Da viele der Genossen für diesen neuerlichen Schlag, von dem unsere Familie betroffen worden ist, ein lebhaftes Interesse bekunden, wird es vielleicht nützlicher sein, wenn ich in einem für die allgemeine Unterrichtung bestimmten Schreiben den Stand der Angelegenheit schildere.

Serjoscha wurde 1909 geboren. Die Oktoberrevolution erlebte er als achtjähriger Bub und wuchs dann im Kreml auf. In Familien, deren ältere Angehörige in der Politik aufgehen, wurden die Jungen häufig von der Politik abgestoßen. So war es auch in unserer Familie. Serjoscha befasste sich nie mit politischen Problemen, er war nicht einmal Mitglied des kommunistischen Jugendverbands (Komsomol).

Er war in der Schulzeit begeisterter Sportler, schwärmte für den Zirkus und entwickelte sich zu einem hervorragenden Turner. Auf der Hochschule standen Mathematik und Mechanik im Mittelpunkt seines Interesses; nach Abschluss des Studiums wurde er als Ingenieur dem Lehrkörper der Technischen Hochschule zugeteilt, entfaltete eine vielseitige pädagogische Tätigkeit und veröffentlichte vor kurzem, zusammen mit zwei Kollegen, ein fachwissenschaftliches Werk unter dem Titel: Leichte Gasgeneratoren des Autotraktorentyps. Dieses im Verlag des wissenschaftlichen Instituts für den Traktorenbau erschienene Buch fand die Anerkennung hervorragender Fachleute. Serjoscha war noch Student, als wir in die Verbannung gingen. Die Behörden erlaubten unseren Familienangehörigen, die Entscheidung frei zu treffen, ob sie uns begleiten oder in der UdSSR zurückbleiben wollten. Serjoscha beschloss, in Moskau zu bleiben, um eine Arbeit nicht aufzugeben, von der sein Dasein erfüllt war. Er lebte in sehr schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen, sie unterschieden sich indessen nicht wesentlich von den Lebensbedingungen der nicht privilegierten sowjetischen Jugend. Die niederträchtigen verleumderischen Behauptungen, welche von der Sowjetpresse über L. D. Trotzki fortlaufend verbreitet wurden, mussten Serjoscha natürlich seelisch leiden lassen. Doch darüber kann ich nur Vermutungen anstellen. Die Briefe, die ich mit meinem Sohn gewechselt habe, beschränkten sich auf »neutrale« Fragen des Alltags und berührten nie Probleme der Politik oder die besonderen Lebensverhältnisse unserer Familie (es muss erwähnt werden, dass auch diese Briefe den Empfänger nur in Ausnahmefällen erreichten). Um den Behörden auch nicht den geringsten Anlass zur Verfolgung oder auch nur zu einfachen Schikanen zu geben, korrespondierte L.D. in den Jahren der Verbannung mit unserem Sohn überhaupt nicht. Serjoscha hat denn auch tatsächlich im Laufe aller sechs Jahre unseres jetzigen Aufenthalts in der Emigration seine angespannte wissenschaftliche und pädagogische Tätigkeit ohne irgendwelche Behinderungen behördlicherseits fortsetzen können. Die Lage veränderte sich nach der Ermordung Kirows und dem bekannten Gerichtsprozess gegen Sinowjew und Kamenew. Der Briefwechsel brach gänzlich ab. Serjoscha wurde verhaftet. Von einem Tag zum anderen erwartete ich das Wiederaufleben des Briefwechsels. Doch nun geht bereits ein halbes Jahr seinem Ende entgegen, seit sich Serjoscha im Gefängnis befindet. Eben dieser Umstand lässt die Annahme zwingend erscheinen, dass die Urheber der Verhaftung irgendwelche besonderen Absichten im Schilde führen.

Lässt es sich annehmen, dass unser Sohn sich letzthin unter dem Druck der Ereignisse in die oppositionelle Tätigkeit verwickeln ließ? Ich wäre glücklich für ihn, wenn ich solche Gedanken hegen könnte, denn er hätte es dann unendlich leichter, den Schlag zu ertragen, von dem er betroffen worden ist. Allein eine solche Annahme ist gänzlich auszuschließen. Aus den verschiedensten Quellen wussten wir sehr gut, dass Serjoscha im Laufe der letzten Jahre der Politik ebenso fern stand wie auch in früheren Zeiten. Doch ich selbst bedarf auch dieser Nachrichten nicht, da mir seine psychologische Haltung und die Richtung, in welcher seine geistigen Interessen verlaufen, nur zu gut bekannt sind. Aber auch die Behörden mit Stalin an der Spitze sind darüber sehr genau unterrichtet: denn – ich wiederhole – Serjoscha ist im Kreml aufgewachsen und Stalins Sohn war oft Gast der Buben in ihrem Zimmer; späterhin wurde er zunächst als Student, dann als junger Hochschullehrer von der GPU und den Universitätsbehörden mit verdoppelter Aufmerksamkeit überwacht. Er wurde nicht wegen irgendwelcher oppositioneller Betätigung verhaftet (die nicht vorlag und unter den obwaltenden Umständen auch nicht vorliegen konnte), sondern ausschließlich als Sohn von L. D. in der Absicht, Rache an der Sippe zu nehmen. Das ist die einzig mögliche Erklärung.

Alle Genossen werden sich der Versuche der GPU erinnern, L. D.s Namen in die Mordaffäre Kirow zu verwickeln: der Konsul Lettlands, der die Terroraktion finanzierte, forderte zugleich die Terroristen auf, Trotzki einen von ihnen verfassten Brief zu übergeben. Dieser Plan scheiterte jedoch auf halbem Wege und hat nur dazu beigetragen, die Drahtzieher des Gerichtsverfahrens zu kompromittieren. Doch gerade deshalb sagten wir uns nach dem Gerichtsverfahren im Familienkreise: »Damit werden sie sich nicht begnügen; sie werden gezwungen sein, irgendeine neue Affäre zu starten, um das Fiasko des Tricks mit dem Konsul auszustechen.« Der gleiche Gedankengang wurde von L. D. auch in den von ihm verfassten Artikeln in den Spalten des russischen Bulletins entwickelt. Wir wussten lediglich nicht, welchen Weg dazu die GPU diesmal wählen würde. Doch jetzt kann auch nicht der geringste Zweifel mehr bestehen: indem Stalin den an der Sache völlig unbeteiligten Sergej verhaften ließ und ihn viele Monate im Gefängnis hält, verfolgt er zweifelsohne ganz offensichtlich das Ziel, ein neues »Amalgam« zu kreieren. Zu diesem Zweck muss er von Sergej eine Aussage, die diesem Zweck dienen könnte, erpressen, letzten Endes wenigstens die Erklärung, dass er sich von seinem Vater »lossagt«. Über die Mittel, mit deren Hilfe Stalin sich die von ihm benötigten Aussagen zu verschaffen sucht, will ich kein Wort verlieren. Ich verfüge in dieser Hinsicht über keinerlei Informationen. Doch die obwaltenden Umstände sprechen für sich selbst… Es wäre äußerst einfach, den Inhalt des erwähnten Briefes zu überprüfen. Genügen würde zum Beispiel die Gründung eines internationalen Ausschusses, der sich aus zuverlässigen und über Autorität verfügenden und selbstverständlich als ausgesprochene Freunde der UdSSR bekannten Persönlichkeiten zusammensetzen sollte. Ein solcher Ausschuss müsste sich mit der Überprüfung aller mit dem Kirow-Mord in Verbindung stehenden Unterdrückungsmaßnahmen befassen; dabei würde er auch die Angelegenheit unseres Sohnes Sergej durchleuchten. Dieser Vorschlag beinhaltet nichts Außergewöhnliches oder Unannehmbares. 1922, als die Gerichtsverhandlung gegen die Mitglieder der Sozialrevolutionären Partei stattfand, hat das Zentralkomitee der bolschewistischen Partei unter Leitung von Lenin und Trotzki – Vandervelde, Kurt Rosenfeld und anderen Gegnern der Sowjetregierung das Recht der Teilnahme an dem Gerichtsprozess als Verteidiger der angeklagten Terroristen eingeräumt. Das geschah namentlich in der Absicht, jeden Zweifel an der Unbefangenheit und Integrität der Prozessführung in der öffentlichen Meinung des internationalen Proletariats zu zerstreuen.

Könnten denn wirklich Romain Rolland, Charles [sic] Gide, Bernard Shaw und andere Freunde der Sowjetunion nicht die Initiative zur Schaffung eines solchen Ausschusses auf der Grundlage eines Übereinkommens mit der Sowjetregierung ergreifen? Das würde das beste Mittel zur Überprüfung sowohl der erhobenen Anklagen als auch der in den Arbeitermassen weitverbreiteten Verdachtsgründe sein. Die sowjetische Bürokratie kann nicht über der öffentlichen Meinung der Arbeiterklasse der Welt stehen. Was aber die Interessen des Arbeiterstaates anbelangt, so wäre damit diesen Interessen im Endergebnis einer ernsten Überprüfung seiner Handlungen nur gedient. Einem solchen mit der notwendigen Autorität ausgestatteten Ausschuss würde ich für mein Teil alle nötigen Informationen und dokumentarischen Unterlagen, die sich auf die Person meines Sohnes beziehen, zur Verfügung stellen.

Mit vorliegendem Brief richte ich gleichzeitig einen unmittelbaren Appell an die Arbeiterorganisationen und an die ausländischen Freunde der UdSSR; natürlich nicht an die befangenen Interessenvertreter der sowjetischen Bürokratie, sondern an die ehrlichen und unabhängigen Freunde der Oktoberrevolution. Wenn ich –, nach langem Zögern – Sergejs Angelegenheit zur offenen Diskussion stelle, so geschieht das nicht allein deshalb, weil er mein Sohn ist: eine derartige Begründung mag für eine Mutter mehr als erschöpfend sein, zur Entfaltung einer politischen Initiative genügt sie nicht. Sergejs Sache stellt aber einen ganz klaren, einfachen und unbezweifelbaren Fall bewusster und verbrecherischer Willkür dar, einen Fall, der sich sehr leicht überprüfen ließe: ein allgemein als loyal bekannter, völlig schuldloser und hochqualifizierter sowjetischer Schaffender wird von der bürokratischen Spitze einzig und allein zum Zwecke der Befriedigung niedrigster Racheinstinkte, ohne jede politische Rechtfertigung unterdrückt und gepeinigt, denn es ist doch ganz offensichtlich, dass die physische Verfolgung des Sohnes keinerlei Einfluss auf die Richtung des politischen Wirkens des Vaters ausüben kann, eines Wirkens, mit dem Serjoscha niemals auch nur das Geringste zu tun hatte. Aus diesem Grunde möchte ich mir gestatten anzunehmen, dass die Angelegenheit meines Sohnes die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit verdient. Wie dem auch sei, wer handeln will, muss unverzüglich handeln, denn Schweigen und Straflosigkeit würden bewirken, dass Stalins Racheakte bald die Art nicht wiedergutzumachender Handlungen annehmen können.

1. Juni 1935

N. I. Trotzkaja1

1 Rohentwurf eines handgeschriebenen Briefes von Frau Trotzki. Viele Korrekturen und Einfügungen, einige davon von Trotzki.

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