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Leo Trotzki 19350213 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 31-33]

13. Februar

Die »Führer« des Proletariats überbieten sich gegenseitig in dem Bestreben, ihre Feigheit, ihre Verkommenheit und ihre fürwahr hündische Bereitwilligkeit, die Hand zu lecken, die über ihnen die Peitsche schwingt, der Reaktion vor Augen zu führen. Blum nimmt dabei selbstverständlich den ersten Platz ein. Wie prachtvoll war die Haltung der Pariser Bevölkerung am 10.! Wie ruhig! Und wie diszipliniert! Die Regierung musste einsehen, de quel côté était la volonté populaire. Flandin wurde in Notre Dame beschimpft, während wir Régnier mit keinem einzigen Wort verletzt haben. Und so weiter. Kurzum: »Unsererseits habt ihr nichts zu befürchten. Könnt ihr also die Entwaffnung der Faschisten ablehnen?« Hat denn aber die Bourgeoisie jemals denjenigen Konzessionen gemacht, von denen sie nichts zu befürchten hatte?

In der Reihe der großen Männer ist Engels ohne Zweifel eine der lautersten, in sich geschlossensten und in ihrem Wesen edelsten Persönlichkeiten. Es ist eine dankbare Aufgabe, zugleich aber auch eine historische Pflicht, das Bild seiner Persönlichkeit wiedererstehen zu lassen. Auf Prinkipo habe ich an dem Buch Marx-Engels gearbeitet, doch ging die vorläufige Materialsammlung in einem Schadenfeuer verloren. Ich werde dieses Thema wohl kaum wieder aufgreifen können. Es wäre schön, das Buch über Lenin zu Ende zu führen, um dann auf aktuellere Arbeiten – über den Zerfall des Kapitalismus – umzuschalten. Das Christentum hat die Gestalt Christi geschaffen, um den ungreifbaren Gott Zebaoth zu vermenschlichen und ihn den Sterblichen näher zu bringen. Neben dem Olympier Marx erscheint Engels »menschlicher«, näher. Wie sie sich gegenseitig ergänzen; vielmehr: wie bewusst ergänzt doch Engels durch sich selbst Marx; und wie er sich im Laufe seines ganzen Lebens in der Ergänzung Marxens verzehrt! Darin erblickt er seine Lebensbestimmung, darin findet er Genugtuung – ohne die geringste Spur eines persönlichen Opfers –, stets sich selbst treu, stets lebensbejahend, stets seinem Milieu und seiner Zeit überlegen, inmitten schier grenzenloser geistiger Interessen, Hüter des echten Funkens der Genialität in der nie erkaltenden Glut des Gedankens. Vor dem Hintergrund des alltäglichen Lebens gewinnt die Gestalt von Engels an Marxens Seite ungemein an Wert (wobei die Persönlichkeit von Marx nicht das geringste einbüßt). Ich entsinne mich, Lenin einmal nach der Lektüre des Marx-Engelsschen Briefwechsels, in meinem Frontzuge meine Begeisterung für die Persönlichkeit von Engels gerade in dem Sinne ausgedrückt zu haben, dass im Gesamtbild seines Verhältnisses zu dem Titanen Marx der treue Fred nicht nur nichts einbüßt, sondern eher gewinnt. Lenin stimmte diesem Gedanken mit größter Lebhaftigkeit, ja, ich möchte sagen, mit Genuss zu: er empfand eine heiße Liebe für Engels, gerade wegen dessen Charaktergeschlossenheit und vielschichtiger Menschlichkeit. Ich erinnere mich, dass wir damals ein Jugendbildnis von Engels nicht ohne innere Bewegung betrachteten, wobei wir diejenigen Züge seines Wesens zu entdecken suchten, die im Verlaufe seines späteren Lebens in einer so überwältigenden Weise zur Entfaltung kamen. Hat man einmal genug von der Prosa der Blum, Paul Faure, Cachin und Thorez gelesen und somit genügend Bakterien der Bedeutungslosigkeit, Impertinenz, Kriecherei und Ignoranz geschluckt, so gibt es zur Durchlüftung der geistigen Lunge nichts Besseres als die Lektüre des Briefwechsels von Marx und Engels, sowohl zwischen ihnen selbst als auch mit anderen. Wie viel Instruktives, geistig Frisches, welche Höhenluft enthalten doch die epigrammatischen Anspielungen und persönlichen Charakterisierungen, die hier und da paradox erscheinen mögen, jedoch stets durchdacht und treffend sind! Die beiden lebten eben immer in großen Höhen.

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