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Leo Trotzki 19350609 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 177-179]

9. Juni

Van ist gestern eingetroffen, er brachte die Nachricht, dass die norwegische Arbeiterregierung die Einreisegenehmigung erteilt hat. Die Abreise von hier ist auf morgen angesetzt, ich glaube aber nicht, dass es gelingen wird, das Durchreisevisum für Belgien innerhalb von zwei Tagen zu beschaffen: Der Dampfer fährt von Antwerpen. Wir packen, während wir darauf warten, das Visum zu erhalten. Unvorstellbare Hast. Eins zum anderen: das Bauernmädchen, das täglich auf drei Stunden zu N. kam, um ihr im Haushalt auszuhelfen, ist ausgerechnet jetzt auf zwei Tage zu Bekannten gereist. Nat. kocht und packt die Sachen ein, hilft mir beim Ordnen und Sammeln der Bücher und Manuskripte, pflegt mich. Das lenkt sie wenigstens etwas von den Gedanken an Serjoscha und die Zukunft ab. Zu alledem muss noch hinzugefügt werden, dass wir ohne Geld dasitzen: ich habe den Parteiangelegenheiten zu viel Zeit gewidmet, und in den letzten zwei Monaten war ich krank und habe überhaupt schlecht gearbeitet. In Norwegen kommen wir ganz ohne Mittel an… Doch ist dies immerhin die geringste aller Sorgen…

Eine kleine Episode. Vor der Abreise musste ich mir die Haare schneiden lassen. Angesichts meiner Lage ist das ein kompliziertes Unternehmen: ich musste zusammen mit Van nach Grenoble fahren (es sind nun zwei bis drei Monate vergangen, seit ich zuletzt in der Stadt war). Die französischen Friseure sind äußerst gesprächig, familiär und schlagfertig – Figaros! Mein Haar war lang gewachsen und ich bat, es etwas kürzer zu schneiden. Mein Figaro fand, dass es zu kurz geraten und sozusagen meinen Stil beeinträchtigen würde, gehorchte aber. Bon, sagte er mit offensichtlicher Unzufriedenheit. Nachdem er sein Haarschneiden beendet hatte, sagte er im Tone einer Sentenz: »Sie haben sich sehr verändert, früher sahen Sie dem Professor Piccard (dem Belgier) ähnlich; jetzt würde ich das nicht behaupten…« Ich bat, den Schnurrbart zu stutzen (arranger). Raser? fragte er verwundert zurück: Tout à fait? In seiner Stimme schwang ein deutlich vernehmbarer Unterton des Verdachts mit: er beschloss, ich sei bestrebt, mich unkenntlich zu machen (was übrigens nicht so sehr weit weg von der Wahrheit war). Ich beruhigte ihn: arranger, égaliser, non pas raser. Seine Gesprächigkeit kehrte sofort wieder. –, Sie wollen ihn doch nicht ganz kurz gestutzt haben, à la Charlie Chaplin? Übrigens, was Chaplin anbelangt, so hört man seit seinen Lichtern der Großstadt nichts mehr über ihn… usw. usw. Und als ich schließlich auf seine Frage antwortete, nun sei alles gut, billigte er mein Aussehen nicht ohne eine Nuance von Ironie: Comme client vous n'êtes pas difficile! Na, auch das ist schon was!…

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