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Leo Trotzki 19350620 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 179-187]

20. Juni

Am 8. Juni kam Van zu uns nach Domène: er sollte uns beim Packen für die Umsiedlung nach Norwegen behilflich sein. Das Einreisevisum hatten wir noch nicht erhalten, das heißt, es war wegen der Pfingstfeiertage noch nicht in unsere Pässe eingetragen, doch lag ein Telegramm aus Oslo vor, welches besagte, dass die Regierungsentscheidung bereits gefallen war und dass das Visum nach den Feiertagen anstandslos erteilt werden würde. N. hatte Zweifel: ob nicht im letzten Augenblick Schwierigkeiten eintreten und wir nicht gezwungen sein würden, in Paris wieder umzukehren (die Behörden hatten uns die Erlaubnis erteilt, in Paris auf 24 Stunden Station zu machen)? Wir fragten nochmals fernmündlich in Paris an. Ljowa antwortete: das Einreisevisum ist sichergestellt, wir würden es Dienstag früh erhalten, wir sollen am Montag abreisen. – Die Koffer wurden in fieberhafter Eile gepackt, die Hauptlast lag auf Nataschas Schulter, Van half mit. In den Morgenstunden des Montags tauchte bei uns der Leiter der Sûreté von Grenoble auf. Eine äußerst unsympathische Erscheinung, der französischen Courtoisie bar, nannte mich aus einem unersichtlichen Grunde Excellence, etwas, was die Franzosen nie taten. Er hätte den Befehl, uns bis Paris zu begleiten. Er erklärte mir beiläufig, dass er zwei Jahre in Russland verbracht hätte, und zwar im Süden, und in Odessa während der Meuterei der französischen Flottenbesatzungen gewesen sei… Vous connaissezAndré Marty!… Moi, j'ai passé un mauvais quart d'heure. Es blieb mir nichts übrig, als ihn meines Mitgefühls zu versichern. In Paris wurden wir bei Dr. R. einquartiert, der zusammen mit seinen zwei Söhnen, die Rechtsanwälte sind, wohnt: der ältere ist Mitglied unserer Organisation. Dienstag früh ging H. M. zum norwegischen Konsulat wegen des Visums; es stellte sich heraus, dass man dort nichts wusste. Darauf rief M. unseren Genossen in Oslo an; der antwortete mit hoffnungsloser Stimme: im letzten Augenblick sei die Regierung schwankend geworden; ob Tr. sich hier nicht doch einer revolutionären Tätigkeit widmen würde; zudem könne die Regierung keine Verantwortung für seine Sicherheit übernehmen… Von einer Reise mit einem nächst fälligen Schiff (von Antwerpen aus) konnte nicht mehr die Rede sein. Beinahe mussten die Laufereien von neuem begonnen werden, dabei lief die Frist der Pariser Aufenthaltsgenehmigung am Abend ab. H. M. begab sich zur Sûreté Nationale. Stürmische Auseinandersetzung mit dem Chef; Tr. hat uns betrogen, um die Möglichkeit zu haben, nach Paris zu kommen! H. M. ist ein Meister von Verhandlungen mit Behörden: wenn Sie Krach schlagen, werden Sie die Norweger aufschrecken; stören Sie uns nicht, räumen Sie uns eine zusätzliche Aufenthaltsfrist ein, wir werden das Einreisevisum beschaffen. – »Tr. muss am Mittwoch Abend abreisen, soll er nach Belgien fahren, er hat doch ein Durchreisevisum…« »Was aber in Belgien?« – »Das ist nicht unsere Sache. Sie wollen Vandervelde betrügen, dabei haben Sie uns betrogen…« H. M. schlug nun vor: Tr. wird bis zum Erhalt des Einreisevisums in einer Klinik untergebracht. – »In einer Klinik? Das ist ein klassischer Trick! Wie kriegen wir ihn nachher aus der Klinik heraus?« – Schließlich gaben diese Herrschaften H. M. zu verstehen, dass die Rückkehr nach Domène (Isère) unmöglich sei: der außerordentliche Minister des Innern, Paganon, Abgeordneter für Isère, ist ein »Links«-Radikaler folglich ein größerer Feigling als seine Amtsvorgänger –, möchte seinen politischen Gegnern keinen Anlass zu der Beschuldigung geben, er habe Tr. in seinem Département »Asyl gewährt« …

Es blieb nichts anderes übrig, als die 48stündige Fristverlängerung für die Ausübung eines Druckes auf Oslo zu nützen. Ich setzte mich mit Scheflo (Redakteur in Christiansund, der mich in der Visumsangelegenheit temperamentvoll unterstützt hatte) fernmündlich in Verbindung, sandte ein Telegramm an den Justizminister (betreffend die »Nichteinmischung« in die Politik und die persönliche Sicherheit) und ein weiteres Telegramm an den Ministerpräsidenten. Scheflo begab sich im Flugzeug nach Oslo, um rechtzeitig zur Sitzung des Ministerrats anzukommen. Die Schiffsplätze auf dem norwegischen Dampfer mussten fernmündlich abbestellt werden. Die Gültigkeitsdauer des belgischen Durchreisevisums war unterdessen abgelaufen. Die Stimmung unserer jungen Freunde war sehr gedrückt …

Inzwischen hatte ich viele Begegnungen mit den Pariser Genossen. Die Wohnung des ehrwürdigen Arztes hatte sich plötzlich in den Fraktionsstab der Bolschewisten-Leninisten verwandelt: in allen Räumen fanden Beratungen statt, läuteten Telefone, und es meldeten sich immer neue Freunde. Die Zeitungen brachten eine Fülle von Stimmen zum sozialistischen Kongress in Mulhouse, wobei die »Trotzkisten« zum ersten mal in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der großen Presse getreten waren. »Putschisten!« – schrieb der Temps im Einklang mit der Humanité! Unter diesen Umständen musste mein Pariser Aufenthalt die Nervosität der Polizei in doppeltem Maße steigern. In Paris sahen wir Sjowuschka nach drei Jahren Getrenntsein : er ist gewachsen, erstarkt und… hat das Russische ganz und gar vergessen. Das russische Buch Die drei Dicken, das er auf Prinkipo verschlang, nimmt er nur widerwillig in die Hand (er hat das Buch noch), als wäre es etwas Fremdes und Beunruhigendes. Er besucht eine französische Schule, in der seine Mitschüler ihn Boche nennen…

Am Mittwoch, um etwa 9½ Uhr abends, teilte Held fernmündlich aus Oslo mit, dass die Regierung beschlossen habe, das Visum auf die Dauer von 6 Monaten zu erteilen. Die »6 Monate« sind eine Vorsichtsmaßnahme, um gegenüber den politischen Gegnern freie Hand zu behalten. Bei unseren jungen Freunden schlug die bedrückte Stimmung in wilde Begeisterung um..

Allein, am darauffolgenden Morgen ergab sich eine neue Schwierigkeit: der norwegische Konsul erklärte, da das Visum auf eine bestimmte Dauer erteilt werde, brauche Tr. ein französisches Rückreisevisum. Übrigens werde er, der Konsul, fernmündlich in Oslo rückfragen. Die Erwirkung eines französischen Rückreisevisums erschien so gut wie aussichtslos; in jedem Falle war es gleichbedeutend mit einem beträchtlichen Zeitverlust. Neue Scherereien, Telefonate, Aufregungen und… Ausgaben. Um die Mittagszeit hatten wir das norwegische Visum in der Hand und die Frist des belgischen Durchreisevisums verlängert. Letzte Begegnungen und Abschiednehmen. Neuer Polizeibeamter, der uns bis Brüssel begleiten soll.

Bis nach Antwerpen wurden wir außer von Van von dem französischen Genossen Rous aus Perpignan, einem Katalanen, begleitet. Es stellte sich heraus, dass der uns zugeteilte Polizeibeamte ein Landsmann von ihm war. Zwischen den beiden kam es im Nebenabteil zu einem interessanten Gespräch. Der Polizeibeamte pflegt seine Stimme den Sozialisten zu geben. Indessen, das Vertrauen, das die Sozialisten und die Radikalen bei der Polizei genossen, ist geschrumpft: diese Parteien wollen die Macht nicht und werden sie auch nicht übernehmen. Der Einfluss der Croix de feu ist gestiegen. Die Linken sagen den Faschisten: »Aber ihr habt doch gar kein Programm!« – »Macht nichts«, erwidern die Rechten, »zuerst muss alles umgestürzt werden, dann wird man das Weitere sehen…« Eine ausgezeichnete Formel für die Hüter der Ordnung! In letzter Zeit machen sich bei der Polizei Sympathiegefühle gegenüber den Kommunisten bemerkbar: sie bekennen sich zum Grundsatz der Nationalverteidigung und haben vielleicht zugleich die Fähigkeit, energisch vorzugehen… Folglich vollzieht sich der Prozess der politischen Polarisation auch in den Reihen der französischen Polizei. Die Hoffnungen, die auf die Energie der Kommunisten gesetzt werden, sind selbstverständlich illusorisch: gerade dadurch, dass sie die nationale Verteidigung anerkennen, haben sie sich selbst jeder Möglichkeit revolutionären Wirkens beraubt. Eine Arbeiterpartei, die ihrer eigenen Bourgeoisie erklärt: sei unbesorgt, ich unterstütze dich im Kriegsfall! – gibt damit ihre Existenz als Revolutionspartei auf.

In Antwerpen mussten wir uns anderthalb Tage aufhalten. Ich benutzte diese Gelegenheit, um mich mit den belgischen Genossen zu treffen. Die fünfköpfige leitende Gruppe, durchweg Arbeiter – kam aus Charleroi. Wir versammelten uns bei einem Antwerpener Arbeiter namens Polk, einem Diamantenschleifer (Spinozas Nationalität und Beruf!), wo wir viele Stunden im Gespräch verbrachten.

Auf einem kleinen norwegischen Dampfer (zwei Tage und drei Nächte) schenkte uns niemand Aufmerksamkeit. In dieser Hinsicht verlief die ganze Reise – zum Unterschied von unserem vorhergegangenen Ortswechsel – ideal. Weder Polizei noch Presse oder Publikum bekundeten Interesse für uns. N. und ich reisten auf Grund von Emigrantenpässen, die von der türkischen Regierung ausgestellt worden waren; da Van und Frankel mit uns waren, definierte der Schiffsoffizier, der sich mit Schiffskarten und Pässen befasste, unsere Gruppe folgendermaßen: »ein Franzose, ein Tschechoslowake und zwei Türken.« Erst auf dem Pier in Oslo haben einige Reporter und Photographen der Arbeiter-, d. h. der Regierungspresse unser Inkognito gelüftet. Doch fuhren wir zusammen mit Scheflo, der uns an der Anlegestelle erwartete, im Wagen schnell davon.

Die Regierung äußerte den Wunsch, wir sollten uns etwa zwei Stunden Fahrt von Oslo entfernt auf dem Lande niederlassen. Die Zeitungen entdeckten unseren Aufenthaltsort mühelos. Im allgemeinen ergab sich allerhand Sensation: die Norweger hatten diesen Besuch am wenigsten erwartet. Doch scheint es, dass alles einen günstigen Verlauf zu nehmen verspricht. Selbstverständlich sind die Konservativen empört, bringen aber ihre Empörung auf eine verhältnismäßig zurückhaltende Art zum Ausdruck. Die Boulevardpresse verhält sich neutral. Die Bauernpartei, von der – auf parlamentarischer Ebene – die Existenz selbst der Regierung abhängt, hatte keine Einwände gegen die Erteilung des Visums gefunden. Die Arbeiterpresse hat sich, wenn auch nicht für mich persönlich, so doch für das Asylrecht ziemlich energisch eingesetzt. Die Konservativen beabsichtigten, im Storting eine Anfrage einzubringen, nahmen aber davon Abstand, nachdem sie damit bei den anderen Parteien auf wenig Gegenliebe gestoßen waren. – Lediglich die Faschisten veranstalteten eine Protestversammlung unter dem Schlagwort: »Was will das Haupt der Weltrevolution in Oslo?« Zum 1001. Male erklärten mich die Stalinisten gleichzeitig zum Haupt der Weltgegenrevolution.

»Die Arbeiterklasse des Landes und alle recht denkenden und vorurteilsfreien Menschen werden übrigens den Beschluss der Regierung freudig begrüßen. Asylrecht soll kein toter Buchstabe, sondern eine Realität sein. Das norwegische Volk fühlt sich darum auch nicht – wie Höire (die Konservativen) – beleidigt, sondern geehrt durch Trotzkis Aufenthalt hier im Lande. Zu seiner Politik nehmen die norwegischen Arbeiter und ihre Partei nicht Stellung. Uns fehlen nämlich die Voraussetzungen dazu, uns eine gründliche Meinung über den Konflikt, der zwischen Stalin und Trotzki entstanden ist, zu bilden. Es kann sein, dass Stalin die Verhältnisse richtiger und realpolitischer gesehen hat als sein Rivale. Aber das berechtigt den siegenden Flügel nicht, einen Mann wie Leo Trotzki zu trakassieren und aus dem Lande zu weisen, einen Trotzki, dessen Name in der Geschichte der russischen Revolution neben dem Lenins stehen wird. Wenn er trotz seiner großen und unbestreitbaren Verdienste aus dem Lande gewiesen wird, muss es jedes demokratische Volk als eine liebe Pflicht ansehen, ihm Behausung zu geben, besonders, wenn er noch dazu krank und nieder gebrochen ist und einen Erholungsaufenthalt nötig hat.«1

Tranmael hat im Arbeiderbladet einen Artikel voller Mitgefühl veröffentlicht. Am bemerkenswertesten ist dabei, dass, während ich gegen Stalins Verfolgung verteidigt werde, Tranmael sich mit der Gesamtpolitik Stalins auf eine unmissverständliche Art solidarisch erklärt. Diese Aufgliederung persönlicher und politischer Interessen lässt die Sache im Lichte der notwendigen Klarheit erscheinen.

In der UdSSR spielen sich alarmierende Prozesse ab. Der Ausschluss des friedfertigen und charakterlosen Jenukidse ist ein Schlag, der auf Kalinin zielt. Das Motiv: »Du sollst nicht mit deiner Güte prahlen!« spricht ebenfalls dafür. Es wird keine Überraschung sein, wenn Kalinin diesmal nicht standhält. Vorgestern brachte der Telegraph Meldungen über die Ermordung des Vorsitzenden der sowjetischen Kontrollkommission Antipow. (Bestätigungen liegen nicht vor.) Das ZK verlangt, dass die Propagandisten auch im Sommer während der Ferienzeit den Trotzkismus, die Sinowjewanhänger usw. usw. nicht in Vergessenheit geraten lassen. Niemand verliert auch nur ein einziges Wort über die Einberufung des VII. Kongresses der Komintern. Stalins Diktatur nähert sich einem neuen Rubikon.

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