Leo Trotzki‎ > ‎1935‎ > ‎

Leo Trotzki 19350626 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 188-191]

26. [Juni]

Ich kränkele immer weiter. Erstaunlich, wie sich der Unterschied zwischen den Zuständen des Gesund- und Krankseins an mir äußert: zwei verschiedene Menschen, sogar in der äußeren Erscheinung – und das manchmal innerhalb von nur 24 Stunden. Daraus ergibt sich natürlicherweise die Annahme, dass es sich um die Nerven handelt. Aber schon vor langer Zeit, 1923, hatten die Ärzte eine Infektion festgestellt. Es ist möglich, dass die »Nerven« dem äußeren Erscheinungsbild der Erkrankung derart scharfe Züge verleihen. In dieser Nacht, vielmehr gegen Morgen, träumte ich von einer Unterhaltung mit Lenin. Nach der Umgebung zu urteilen, war es auf einem Dampfer, an Deck III. Klasse. Lenin lag auf einer Pritsche, ich stand oder saß neben ihm. Er fragte mich ärgerlich über meine Erkrankung aus. »Anscheinend leiden Sie an einer nervösen Übermüdung, die sich langsam angespeichert hat. Sie müssen sich erholen…« Ich antwortete ihm, dass ich mich dank meiner »Schwungkraft« von der Müdigkeit immer schnell erholen konnte, dass es sich aber diesmal um tiefere Erkrankungsprozesse handelte… »Dann müssen Sie die Ärzte ernstlich (er sagte es mit Betonung) konsultieren (einige Familiennamen) … Ich erwiderte, dass ich sie schon oft konsultiert hätte, und begann ihm von meiner Reise nach Berlin zu erzählen, doch wie ich Lenin ansah, erinnerte ich mich, dass er schon tot ist, und versuchte, diesen Gedanken sofort zu verscheuchen, um die Unterhaltung zu Ende zu führen. Als ich meinen Bericht über den Berliner Kuraufenthalt im Jahre 1926 beendet hatte, wollte ich hinzufügen: »Das war aber bereits nach Ihrem Tode« – hielt jedoch inne und sagte: »nach Ihrer Erkrankung…«

N. richtet unsere Behausung ein. Zum wievielten Male schon! Hier gibt es keine Schränke, vieles fehlt. Sie schlägt selbst die Nägel ein, bringt Bindfadenstückchen, von Nagel zu Nagel gespannt, die Wand entlang an, hängt daran etwas auf, ändert etwas, die Bindfadenstückchen reißen, sie seufzt leise auf und beginnt alles von neuem… Dabei bewegt sie die Sorge um zweierlei: Sauberkeit und Gemütlichkeit. Ich erinnere mich, mit welcher Herzlichkeit, ja Rührung, sie mir 1905 von einer kriminellen Strafgefangenen erzählte, die »Sinn« für Sauberkeit hatte und N. bei den Putzarbeiten in der Gefängniszelle behilflich war. Wie viele »Einrichtungen« haben wir nicht im Laufe unseres dreiundreißigjährigen Zusammenlebens gewechselt: die Genfer Mansarde, die Arbeiterwohnungen in Wien und Paris, der Kreml und Archangelskoje, die Bauernkate bei Alma-Ata, die Villa auf Prinkipo und die viel bescheideneren Villen in Frankreich… N. war, was Einrichtung anbelangt, nie gleichgültig, aber stets unabhängig von ihr. In schwierigen Lebensverhältnissen lasse ich mich leicht »gehen«, das heißt, ich nehme Schmutz und Unordnung in meiner Umgebung hin – N. aber nie. Sie wird in jedem Milieu alle Dinge auf das Niveau der Sauberkeit und Ordnung bringen und wird es nie zulassen, dass sie von diesem Niveau abgleiten. Doch welche Energie und Umständlichkeit und wie viel Lebenskraft erfordert das!… Tagelang hüte ich das Bett. Heute stellten N. und ich einen Liegestuhl hinter der Scheune auf. »Willst Du es so haben?« – fragte sie mich mit einem Unterton des Bedauerns. »Warum fragst Du?« sagte ich. – »Auf jener Seite ist die Aussicht schöner.« Tatsächlich war der Blick von der gegenüberliegenden Seite unvergleichlich schöner. Natürlich kann jedermann eine schönere Aussicht von einer weniger schönen unterscheiden. Aber N. kann diesen Unterschied nicht anders als mit ihrem ganzen Wesen erfühlen. Sie kann sich nicht so setzen, dass ihr Blick auf einen Zaun gerichtet bleibt, und empfindet schmerzliches Bedauern, falls ein anderer einen solchen Platz wählt…

N. und ich haben ein langes und schweres Leben hinter uns, aber auch jetzt noch hat sie die Fähigkeit nicht eingebüßt, mich durch die Frische, die Ganzheit und die künstlerische Note ihres Wesens immer wieder in Erstaunen zu versetzten.

Im Liegestuhl ausgestreckt, erinnerte ich mich, wie N. und ich uns im Januar 1917 bei unserer Ankunft in New York auf dem Dampfer einer Sanitätskontrolle unterziehen mussten. Die amerikanischen Beamten und Ärzte sind äußerst rücksichtslos, besonders gegenüber Fahrgästen, die nicht in der I. Klasse reisen (wir hatten II. Klasse gebucht.). N. trug einen Hutschleier. Der Arzt, der Trachominfektionsfällen nachspürte, schöpfte Verdacht, dass der Schleier etwas Ungutes verdeckte; er zog ihn rasch etwas in die Höhe und machte eine Bewegung mit den Fingern, um N.s Augenlider anzuheben… N. protestierte nicht und schwieg, trat auch nicht zurück; sie zeigte sich nur verwundert, blickte den Arzt fragend an, und ihr Gesicht errötete leicht.

Doch der etwas grobe Yankee ließ sofort die Hände sinken und tat verlegen einen Schritt rückwärts – so stark leuchtete der Ausdruck unantastbarer weiblicher Würde in ihren Gesichtszügen, ihrem Blick und ihrer ganzen Erscheinung… Das Gefühl des Stolzes, das ich für N. empfand, als wir über die Gangway vom Dampfer auf den New Yorker Pier hinabstiegen, ist mir noch in lebhafter Erinnerung.

Kommentare