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Leo Trotzki 19350701 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 193 f.]

1. Juli

Unter freiem Himmel liegend, habe ich die Sammlung alter Artikel der Anarchistin Emma Goldman mit deren Kurzbiographie durchgeblättert und lese zurzeit die Selbstbiographie der Mother Jones. Beide Frauen kamen aus den Reihen der amerikanischen Arbeiterinnen. Doch welch ein Unterschied! Die Goldman ist eine Individualistin, sie hat ihre eigene kleine »heroische« Philosophie, die aus den Ideen Kropotkins, Nietzsches und Ibsens zusammengebraut ist. Dagegen ist Jones eine heldenhafte amerikanische Proletarierin. Die Goldman setzt sich Revolutionsziele, steuert sie aber auf gänzlich unrevolutionären Kursen an. Mother Jones dagegen setzt sich von Fall zu Fall begrenzte Ziele: more pay and less hours, und strebt diesen Zielen auf kühnen revolutionären Wegen zu. Beide spiegeln Amerika wider, doch jede auf die ihr eigene Art: die Goldman durch ihren primitiven Rationalismus, die Jones durch ihren nicht minder primitiven Empirismus. Doch stellt die Jones einen großartigen Meilenstein der Geschichtsentwicklung ihrer Klasse dar, während die Goldman die Abkehr von der eigenen Klasse und das Eingehen in das individualistische Nichtsein versinnbildlicht. Ich war nicht imstande, die Artikel der Goldman zu bewältigen: lebloses Räsonieren, das bei aller Aufrichtigkeit einen phrasendrescherischen Beigeschmack hat. Die Selbstbiographie der Jones lese ich mit Genuss.

In ihren gedrängten und jeder literarischen Prätention baren Darstellungen der Streikkämpfe legt die Jones, mehr am Rande, das erschreckende Bild der Kehrseite des amerikanischen Kapitalismus und seiner Demokratie bloß. Es ist unmöglich, ihren Bericht von der Ausbeutung und Verstümmelung der Kinder in den Fabriken ohne inneres Miterleben und Fluchen zu lesen!

Knudsen hat mitgeteilt, dass die Faschisten eine Protestversammlung in Drammen (60 km von hier) gegen meinen Aufenthalt in Norwegen veranstalten. K. zufolge werden sie angeblich nicht mehr als 100 Personen zusammenbringen.

Irgend jemand von den sowjetischen Beamten hat eine Sommervilla in der Nähe des Wochenendhäuschens unseres Hausbesitzers gemietet. Das versetzt N, meiner Meinung nach ohne jeden Grund, in Unruhe.

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