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Leo Trotzki 19350713 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 195 f.]

13. Juli

Alle diese Tage habe ich liegend an der frischen Luft verbracht, las und diktierte dem Jan Briefe. Zeitungen und Briefe kommen nun in immer wachsender Anzahl unmittelbar hierher.

Dieser Tage hatte unser Hausbesitzer Besuch, es waren ebenfalls Redakteure von der Parteipresse: – man kam, um mich kennenzulernen. – »In Norwegen kann es keinen Faschismus geben.« »Wir haben eine alte Demokratie.« »Wir haben keine Analphabeten.« »Außerdem haben wir viel zugelernt.« »Wir werden unserem Kapitalismus Schranken setzen…« Wenn aber der Faschismus in Frankreich siegen wird? Und in England? – »Wir werden uns halten.« Warum haben sie dann ihre Währung nicht halten können, als ihr Kurs in England sank? Sie haben nichts zugelernt. Im Grunde genommen, ahnen diese Menschen nicht einmal, dass Marx, Engels und Lenin auf der Welt gelebt haben. Krieg, Oktoberrevolution und die Erschütterungen des Faschismus gingen an ihnen spurlos vorüber… Für sie hält die Zukunft heiße und kalte Sturzgüsse bereit.

Lese Eugen Debs' Biographie. Es ist eine schlechte, lyrisch-sentimentale Biographie, doch sie entwirft auf eine eigene Art das Bild der lyrischen und sentimentalen Persönlichkeit von Debs, die irgendwie doch bemerkenswert und auf jeden Fall sehr anziehend ist. Lese Edgar Allan Poe im Original und komme, wenn auch nicht mühelos, voran. Im Laufe der letzten Jahre habe ich mich daran gewöhnt, meine Artikel in französischer und englischer Sprache zu diktieren – solchen Mitarbeitern zu diktieren, die die Fähigkeit besitzen, meine Syntaxfehler (und die kommen nicht selten vor) sofort zu verbessern. Die Gabe der vollkommenen Beherrschung irgendeiner Fremdsprache besitze ich nicht. Im Englischen (das ich nur ganz ungenügend kenne) komme ich durch das Lesen englischer Texte gut voran. Zuweilen ertappe ich mich bei dem Gedanken: ist es nicht ein wenig zu spät? Lohnt es sich noch, die Geisteskraft nicht zum Erwerb der Erkenntnis selbst, sondern zur Erlernung einer Sprache, des Instruments der Erkenntnis, zu vergeuden?

In der Türkei lebten wir »offen« für alle, jedoch unter starker Bewachung (drei Genossen und zwei Polizeibeamte). In Frankreich führten wir ein Leben inkognito, zunächst unter dem Schutz von Genossen (in Barbizon), alsdann allein (Isère). Zurzeit leben wir offen und ohne Bewachung. Sogar das Hoftor steht Tag und Nacht sperrangelweit offen. Gestern erschienen zwei betrunkene Norweger, um die Bekanntschaft mit uns anzuknüpfen. Wir unterhielten uns mit ihnen eine Zeitlang, wie es sich gehört, und gingen dann auseinander.

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