Leo Trotzki‎ > ‎1935‎ > ‎

Leo Trotzki 19350214 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 34-43]

14. Februar

Engels' Prognosen sind immer optimistisch. Nicht selten eilen sie dem weiteren Gang der Ereignisse voraus. Ist aber eine historische Voraussage überhaupt denkbar, die – nach einer französischen Redensart –, gewisse Zwischenstufen der Entwicklung nicht dem Feuer preisgäbe? Im Endergebnis behält Engels immer recht. Das, was er in den Briefen an Frau Wischnewetzki über die Entwicklung Englands und der Vereinigten Staaten sagt, hat, allerdings erst in der Nachkriegszeit, also vierzig und fünfzig Jahre später, volle Bestätigung gefunden, aber was für eine Bestätigung dafür! Welcher große Staatsmann der Bourgeoisie hat die Lage der angelsächsischen Länder voraussehen können? Alle diese Lloyd-Georges, Baldwins, Roosevelts, von den MacDonalds ganz zu schweigen, scheinen noch heute (ja vielleicht heute noch mehr als gestern!) im Vergleich mit dem alten sehenden, fernsichtigen Engels so blind wie Maulwürfe. Wie vernagelt müssen diese Leute vom Schlage eines Keynes sein, um die Prognosen des Marxismus für widerlegt zu erklären.

Soweit ich es aus den mir zugesandten Zeitungen ersehen kann, haben die Lakaien Stalins in Frankreich (Thorez & Co) mit den Führern des rechten Flügels der Sozialdemokratie ganz unverhüllt ein Komplott geschmiedet, um eine Kampagne gegen die »Trotzkisten«, mit den Jugendorganisationen an der Spitze, zu eröffnen. Lange genug haben uns Stalin und Bucharin den Titel »Sozialdemokratische Abweichung« und später Sozialfaschisten angehängt! Ungeachtet aller Unterschiede der geschichtlichen Situation, erinnert die Blockbildung Blum-Cachin und deren gemeinsamer Kampf gegen den »Trotzkismus« stark an den Kerenski-Zeretelli-Block (von 1917) und dessen Hetze gegen den Bolschewismus. Die Ähnlichkeitsmerkmale sind in dem bornierten Wesen des »radikal gesinnten« Kleinbürgers erkennbar, in seiner Furcht angesichts der bedrohlichen Lage, seiner Verwirrung, wenn er den Boden unter seinen Füßen schwinden sieht, und in dem Hass, den er gegen jene empfindet, die ihn offen anprangern und ihm sein Schicksal vorhersagen. Der Unterschied zwischen den beiden Blöcken besteht darin – und es ist leider kein geringer Unterschied –, dass: a. Konservative Arbeiter-Organisationen (SFIO und die CGT) in Frankreich eine viel bedeutendere Rolle als im Russland von 1917 spielen; b. der Bolschewismus durch Stalins Karikatur der Partei kompromittiert ist; c. die gesamte Autorität des Sowjetstaates zur Desorganisierung und Demoralisierung der proletarischen Vorhut eingesetzt worden ist. Die historische Schlacht in Frankreich ist noch nicht verloren. Doch hat der Faschismus im Blumismus und in den Lakaien Stalins unbezahlbare Helfershelfer. Thorez hat alle Beweise, Argumente und Methoden Thälmanns auf den Kopf gestellt. Doch auch danach bleibt die Politik des Stalinismus in ihrem Wesen die gleiche. In Deutschland lenkten die beiden Apparate – der Sozialdemokraten und der Kommunisten – durch ihre verkrampfte, unausgewogene und betrügerische Kampfweise die Aufmerksamkeit der Arbeiter von der heranrückenden Gefahr ab; in Frankreich sind dieselben zwei Apparate zu einem Übereinkommen hinsichtlich der Illusionen gelangt, mittels welcher die Aufmerksamkeit der Arbeiter von der Wirklichkeit abgelenkt werden kann. Das Ergebnis ist das gleiche! Der ehrliche, unbestechliche und national gesinnte Temps prangert les logomachies politiques qui ne sont souvent que le nuage artificiel derrière lequel se dissimulent les intérêts particuliers an. Es ist eine Quäker- und Tartuffe-Mischung, doch beide – Quäker und Tartuffe – sind entsprechend der Epoche der Oustric und Stawisky modernisiert. Das Organ des Comité des Forges prangert les intérêts particuliers an! Das Comité des Forges stellt die gesamte französische Presse in den Dienst seiner Interessen. Es ist z. B. keiner einzigen radikalen Zeitung erlaubt, auch nur das Geringste über den Terror zu berichten, dem die revolutionären Arbeiter in den Krankenanstalten des Comité des Forges unterworfen sind: sobald sie überführt sind, werden sie, auch unmittelbar vor einer angesetzten Operation, auf die Straße geworfen. Der Schriftleiter einer demokratischen Zeitung, Radikalsozialist, Freimaurer usw. erklärt: »Ich kann nichts drucken; im vorigen Jahr wurden meiner Zeitung, wegen irgendeiner, gegen jemand aus dem Comité des Forges gerichteten Glosse, Anzeigen im Gegenwert von 20.000 frs über die Havas-Agentur gesperrt.« Wie soll denn danach das offiziöse Organ de Wendels darauf verzichten, die »partikulären Interessen« zum Wohle der Nation bloßzustellen!

Im Jahre 1925 (oder 1924?) führte Krassin in seiner Eigenschaft als sowjetischer bevollmächtigter diplomatischer Vertreter für Frankreich Verhandlungen mit dem Direktor des Temps und erstattete darüber in der Sitzung des Politbüros Bericht, um die erforderlichen Weisungen zu erhalten. Die Vorschläge des Temps lauteten folgendermaßen: a. Zu gegebener Zeit entsendet die Schriftleitung einen ihrer Mitarbeiter nach Moskau, der seine Berichterstattung mit kritischen, jedoch ihrem Tenor nach ruhigen Artikeln beginnt; b. die Polemik gegen die UdSSR in den Leitartikeln wird eingestellt; c. nach einigen weiteren Monaten (ich glaube, es handelte sich um sechs) beginnt die Zeitung in ihrer außenpolitischen Berichterstattung einen freundlicheren Kurs gegenüber der UdSSR einzuschlagen; d. die Berichterstattung aus Moskau nimmt einen wohlwollenden Charakter an; e. die Schriftleitung behält sich volle Unabhängigkeit bei der Kritik des Bolschewismus im zweiten Leitartikel (Innenpolitik) vor; f. die Sowjetregierung zahlt dem Temps eine Million Francs jährlich. Krassin bot anfänglich eine halbe Million und ging bis auf 750.000 herauf, und hielt nun Rückfrage beim Politbüro, ob er weiter bieten solle, darauf stockten die Verhandlungen. Die Frage wurde im negativen Sinne entschieden, nicht nur aus Gründen der Devisenersparnis, sondern auch aus Überlegungen diplomatischer Natur; Hoffnung auf eine Einigung mit Frankreich bestand zu jener Zeit nicht; so war es vernünftiger, die Verwirklichung des Vorhabens aufzuschieben.

Wer sich der Mühe unterziehen wollte, die Ausgaben des Temps für die Jahre 1933-1934 durchzublättern, würde feststellen, dass das Geschäft im vollen Umfange, lediglich 9 Jahre später, realisiert worden ist.*

Niemand wird der Sowjetregierung die Tatsache zur Last legen, dass sie die bürgerliche Presse besticht und dabei bestrebt ist, keine Überpreise zu bezahlen. Die Gemeinheit liegt aber darin, dass die Stalin-Clique die bürgerliche Presse zu einer Waffe für den Kampf gegen die eigene Partei umschmiedet. Es ist seit langem bekannt, dass die »Trotzkisten« die »Vorhut der gegenrevolutionären Bourgeoisie« bilden. Dies ist nicht so sehr durch den Konsul Lettlands als durch andere europäische und amerikanische Konsulate nachgewiesen worden, die meine Anträge auf Einreisevisa ablehnen. Es ist indessen sinnlos, den Rahmen der Kirow-Affäre zu verlassen, um festzustellen, wie die Sympathien der Bourgeoisie (oder ihre Interessen, was übrigens fast ein und dasselbe ist) gelagert sind.

Die von Stalin gegen Sinowjew und Kamenew gerichtete Verleumdung wurde ungeachtet ihrer offenkundigen Verlogenheit von der gesamten französischen Presse kritiklos übernommen. Meine kurze tatsachenbegründete Erklärung darüber, dass ich mit dem Konsul nicht bekannt bin, wurde von keiner bürgerlichen Zeitung in Frankreich veröffentlicht. Besonders lehrreich ist die Information des Temps. Der Moskauer Korrespondent der Zeitung hat seine Leser mehrmals mit der Versicherung beruhigt, dass alle Gruppen, die gegenwärtig von Stalin zerschlagen werden, links von ihm ständen und dass infolgedessen kein Grund zu Befürchtungen vorhanden sei. Derselbe Korrespondent kabelte dreimal (!), der Konsul wäre angeblich einverstanden gewesen, Briefe an Trotzki zu übergeben, während in Wirklichkeit der Konsul um einen solchen Brief gebettelt hat. Meine nüchterne, auf Tatsachen beruhende Richtigstellung wurde von der Schriftleitung des Temps nicht veröffentlicht. Derselbe Korrespondent verwandelte Jewdokimow in einen »Trotzkisten« und sprach in einer späteren Meldung von einer Troika (Dreigespann) Trotzki-Sinowjew-Kamenew, um den Schleier des Vergessens über die Troika Stalin-Sinowjew-Kamenew zu breiten. Usw. ohne Ende. Ein findiger Journalist weiß ebenso wie seine Zeitung genau, was er tut. Schließlich und endlich erfüllt der Temps auf diesem Gebiet die gleiche Funktion wie die Humanité, aber vorsichtiger, auf eine mehr durchdachte und delikatere Weise. Auf wessen Seite der geringere Eigennutz liegt, ist nicht leicht zu beurteilen. Ich nehme aber an, dass die Humanité weniger kostspielig ist.

Engels schrieb am 10. Oktober 1888 nach New York: In Frankreich blamieren sich die Radikalen an der Regierung mehr als zu hoffen war. Gegenüber den Arbeitern verleugnen sie ihr ganzes eigenes altes Programm und treten als reine Opportunisten auf, holen den Opportunisten die Kastanien aus dem Feuer, waschen ihnen die schmutzige Wäsche. Das wäre ganz vortrefflich, wäre nicht Boulanger und jagten sie noch diesem die Massen fast zwangsmäßig in die Arme.

Es ist, als seien diese Zeilen für die Zeit geschrieben, die wir durchleben. Im Jahre 1934 haben sich die Radikalen als ebenso unfähig erwiesen, Frankreich zu regieren, wie 1888. Wie damals eignen sie sich nur dazu, die Kastanien für die Reaktion aus dem Feuer zu holen. Das wäre alles schön und gut, wenn bloß eine Revolutionspartei existierte. Doch es gibt sie nicht. Ja noch schlimmer: es existiert ihre abstoßende Karikatur. Und die Radikalen treiben die Massen dem Faschismus in die Arme, genauso wie ein halbes Jahrhundert zuvor in die Arme des Boulangismus. Unter diesen Verhältnissen bilden die Stalinanhänger mit den Radikalen einen Block »gegen den Faschismus« und drängen diesen Block den Sozialisten auf, die derlei Geschenkgaben nicht einmal im Traum ersehnen durften. Auch jetzt noch nörgeln die Stalinisten wie halb abgerichtete Affen immer wieder an dem Kartell herum: Keine parlamentarischen Abmachungen mit den Radikalen, sondern »Volksfront« gegen den Faschismus! Es ist, als lese man ein offiziöses Organ aus dem Irrenhaus von Charenton! Wie verbrecherisch das parlamentarische Kartell vom Standpunkt des Sozialismus auch sein mag, es ist oder es war vom Standpunkt der wahltechnischen oder parlamentarischen Strategie der reformistischen Abgeordneten politisch sinnvoll. Doch welchen Sinn kann ein außerparlamentarischer Block mit einer eindeutig parlamentarischen Partei haben, die infolge ihrer sozialen Struktur zu keiner außerparlamentarischen Massenaktion fähig ist: die bürgerliche Parteispitze fürchtet ihre eigene Massenbasis wie die Pest. Alle vier Jahre die Stimmen der Bauern, der Kleinhändler oder der Beamten einsammeln – ja, dazu ist Herriot großzügigerweise bereit. Doch sie zum offenen Kampf zu bewegen – das bedeutet Beschwörung solcher Geister, vor denen er eine viel größere Furcht hat als vor dem Faschismus. Die sogenannte Volksfront, d. h. der Block mit den Radikalen zum Zwecke einer außerparlamentarischen Kampfführung, ist die verbrecherischste Verhöhnung des Volkes, welche sich die Arbeiterparteien seit dem Krieg geleistet haben – und sie waren darin nicht kleinlich. Während Herriot als Steigbügelhalter Flandins fungiert und der Innenminister der Radikalen die Polizei für die Unterdrückung der Arbeitermassen drillt, verwandelt die Schminke der Stalinisten die Radikalen in Führer des Volkes, wobei die Stalinisten versprechen, den Faschismus, der sich politisch vorwiegend von der Unaufrichtigkeit und Verlogenheit des Radikalismus ernährt, gemeinsam mit den Radikalen zu zerschmettern. Ist alles das nicht ein Irrenhaus?

Träfe die unentrinnbare Vergeltung für diese Verbrechen – und welch furchtbare Vergeltung! – nur die Lakaienclique Stalins, nur korrupte Abenteurer und bürokratische Hyänen, so könnte man sagen: ihr habt's verdient! Unglücklicherweise wird aber die Rechnung von den Arbeitern bezahlt werden müssen. Die Tatsache, dass den unterdrückten Massen, die nach einem Ausweg suchen, Ideen im Gewande des Marxismus und Bolschewismus dargeboten werden, aus deren Bekämpfung der Marxismus geboren wurde und der Bolschewismus erwuchs, wirkt im Besonderen wie ein wüster Alptraum. Fürwahr: Vernunft wird Unsinn, Wohltat – Plage!

Die gesamte seriöse bürgerliche Presse unterstützt, deckt und verteidigt die bewaffneten Ligaorganisationen. Die Überzeugung, dass sie notwendig sind und Rettung verheißen, ist in das Bewusstsein der Bourgeoisie endgültig eingedrungen. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind zu groß. Eine revolutionäre Volkserhebung ist möglich, ja sogar unausweichlich. Die Polizeikräfte sind unzureichend. Angesichts der nur einjährigen Ausbildungszeit stellt der Einsatz der Truppe ein Risiko dar: sie könnte ins Wanken geraten. Was kann also zuverlässiger sein als ausgesuchte und abgerichtete faschistische Sonderformationen? Die werden nicht wankelmütig werden und werden auch der Armee das Rückgrat steifen. Ist es danach verwunderlich, dass die Bourgeoisie sich mit beiden Händen an ihre bewaffneten Organisationen klammert? Derweil bittet Blum die bürgerliche Regierung um einen kleinen Gefallen: sie möge sich entwaffnen lassen. Tagein tagaus wiederholen die Paul Faures, Vaillant-Couturiers, Zyromskys diese dumme und schändliche »Forderung«, die nur dazu angetan ist, die Faschisten in ihrer Zuversicht hinsichtlich der Zukunft zu bestärken. Kein einziger dieser Operettenhelden ist sich des Ernstes der Lage bewusst. Sie sind dem Untergang geweiht.

1 Uhr nachts. Schon lange habe ich nicht mehr so spät in der Nacht geschrieben. Ich zwang mich mehrmals, mich niederzulegen, doch die Empörung trieb mich jedes mal hoch.

Unwissende, verängstigte und erbitterte russische Bauern töteten während der Choleraepidemien Ärzte, vernichteten Arzneimittel und zertrümmerten die Cholerabaracken. Erinnern denn die Hetze gegen die »Trotzkisten«, die Verbannungen, die Parteiausschlüsse, die Denunziationen, die von einem Teil der Arbeiterschaft unterstützt werden, nicht an die sinnlosen Konvulsionen der verzweifelten Bauernschaft? Die Führer der Arbeiterparteien treten als Anstifter auf, kleinere Formationen als Pogromhelden. Verwirrt sehen die Massen zu, wie die Ärzte, die einzigen, die sich in der Krankheit und in den Heilmitteln auskennen, hingemordet werden.

*Ich bin mir, wie schon erwähnt, nicht sicher, ob die Verhandlungen Krassins in das Jahr 1924 oder 1925 fallen. (In Moskau würde ich das genaue Datum mühelos feststellen.) 1924 war Emile Hébrard Direktor des Temps, ein Kontrahent des zaristischen Agenten Rafalowitsch. 1925 wurde Emile von dem alten Adrien abgelöst: das war der bescheidene Lohn, den das entlarvte Laster an die Tugend entrichtete. Ich bin der Meinung, dass, unabhängig von dem genauen Zeitpunkt, die Verhandlungen mit Emile von Krassin geführt wurden, doch kann ich mich dafür nicht verbürgen: damals habe ich mich für die Personalseite der Angelegenheit nicht interessiert. Auch gegenwärtig ist sie ja belanglos. Der Temps ist und bleibt eben der Temps. Die Generationen kommen und gehen, die Korruption bleibt.

Kommentare