Leo Trotzki‎ > ‎1935‎ > ‎

Leo Trotzki 19350908 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 199-201]

8. September

Ich habe schon lange keine Eintragungen mehr gemacht. Der Arzt aus P. besuchte uns, sehr freundschaftlich, »unser« Mann, kam zwecks Behandlung. Verschrieb mir Spaziergänge, um den Verlauf der Erkrankung zu prüfen. Mein Zustand verschlechterte sich sofort. Wie immer, ergaben die Analysen keinen Befund. So vergingen zwei Wochen. Nach der Abreise des Arztes ging ich zur horizontalen Lebenslage über und erholte mich alsbald. Begann immer mehr und mehr zu arbeiten. Wir haben eine russische Stenotypistin entdeckt – das ist für mich das reine Glück im wahren Sinne des Wortes. – Begann zu diktieren, sehr viel, leicht, fast mühelos. Auch gegenwärtig befinde ich mich in derselben Verfassung. Das ist der Grund, aus welchem ich sogar vergaß, an die Tagebücher zu denken. Ich erinnerte mich ihrer deshalb, weil gestern von Ljowa Kopien der Briefe von AI. Lww. und von Platon ankamen. Von Serjoscha und über Serjoscha –, nichts: wahrscheinlich sitzt er im Gefängnis… Die Briefe A. Lww. und Platons sprechen für sich.

»Lieber Ljowa!

14. 8. 35

Das Ausbleiben Eurer Briefe hat mich bereits stark beunruhigt. Endlich ist nun eine kleine Nachricht über Sjowuschka gekommen. Wie schön, dass er zusammen mit Euch ist, der kleine Bub. Sein Vater ist in Omsk und erkundigt sich nach seinem kleinen Sohn. Bis auf weiteres muss an ihn unter »postlagernd« geschrieben werden. Es scheint mir, dass Ihr meinen letzten Brief nicht erhalten habt. Ich schrieb Euch, dass Ninas Kinder zusammen mit meiner Schwester in Kirowo (Ukraine)1 leben. Meine Schwester ist schwer krank, und ich kann es mir nicht vorstellen, wie sie es geschafft hat, mit den Kindern ohne jede Hilfe dorthin umzuziehen. Ihre Adresse lautet: Kirowo, Odessaer Oblastj, Karl-Marx-Straße 4, W. 13. Das Kindervolk hoffte immer auf ein baldiges Wiedersehen mit dem Vater (Man), doch werden sie noch zwei Jahre warten müssen. Wie immer, hat mich Eure Aufmerksamkeit tief gerührt. Es ist sinnlos, Geld hierher zu überweisen – es lässt sich hier nirgends verwerten. Mein ganzer Lebensbedarf wird durch die Sendungen meiner Schwester gedeckt. Hier kann man nichts beschaffen, nicht einmal Gemüse. Mein Gesundheitszustand ist erträglich. Ich hoffe noch, die Kleinen wiederzusehen, d. h. nicht vorher zu sterben. Über meine Gemütsverfassung ist es selbstverständlich besser kein Wort zu verlieren. Aber ich bin sehr zäh und hoffe, dass ich auch jetzt mir selbst treu bleiben werde. Platon bittet mich dringend um ein Lichtbild von Sjowuschka. Ich war schon drauf und dran, es ihm zu schicken, obwohl es mir sehr schwerfällt, mich vom Bild zu trennen. Jetzt aber hoffe ich, dass Ihr ihm das Bild unmittelbar schicken werdet. Hat Sjowuschka das Russische vergessen? Hat er uns noch in Erinnerung? Viele, viele Küsse an Euch. Wo ist Sergej? Ich umarme Euch herzlichst

Eure Alex.«2

»1. 8. 35

Meine Lieben! So habe ich von Euch bis zum heutigen Tage nichts außer einer einzigen kurzen Nachricht mit einem beigefügten Torgsin-Scheck erhalten. Doch der kursiert noch immer hin und her, sehr wahrscheinlich wird er sich zu allerletzt als verfallen erweisen, und ich werde ihn Euch vermutlich zurückschicken. So bin ich also ohne ein Briefchen von meinem kleinen Buben geblieben. Ich habe an meinem alten Aufenthaltsort eine Bestätigung über die Zustellung einer Reihe meiner Briefe erhalten; wie es hier auf die Dauer sein wird, weiß ich nicht, vielleicht werde ich doch irgendwann von Euch Nachricht über meinen kleinen Buben erhalten. Einen so »großen« Scheck habt ihr mir unnützerweise geschickt, es wäre günstiger gewesen, ihn in wenigstens 10 bis 15 Abschnitte aufzuteilen, das hätte mir gereicht und wäre besser. Hier gibt es den Torgsin. Wenn ich den alten Scheck nach allen Wanderungen noch einlöse, werde ich mich darin mit Oma teilen, die, wie es sich herausgestellt hat, nicht hier, sondern im Rayon Uvat ist. Meine Gesundheit bessert sich allmählich, dass ich aber – allgemein gesprochen –, überhaupt hier bin, kam völlig unerwartet – auf 5 Jahre. Ich beginne eine neue Strähne, nachdem ich mich auf dem Weg der alten Lafargues befand und beinahe dahin geraten war, wo unsere Sinuschka ist. Herzlichste Grüße und die besten Wünsche von mir. Ich hoffe, dass Ihr mich mit einer kurzen Nachricht über Sjowuschka, über sein Lernen und seine Unarten erfreuen werdet. Über Bilder von ihm weiß ich nach wie vor nichts, es ist sehr schwer. Ich umarme und küsse den Buben und Euch.

Euer P.«3

1 mit der Hand unterstrichen

2 Eingefügte Schreibmaschinenseiten

3 Eingefügte Schreibmaschinenseiten

Kommentare