Leo Trotzki‎ > ‎1935‎ > ‎

Leo Trotzki 19350217 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 46 f.]

17. Februar

Manchmal stelle ich mir einen alten Arzt vor, dem es weder an Fachkenntnissen noch an Berufserfahrungen mangelt und der es tagaus tagein erlebt, wie ein Kurpfuscher und Eisenbart einen ihm, dem alten Arzt, nahestehenden Menschen zu Tode kuriert, während eine vollkommene Heilung bei Beachtung der elementaren Vorschriften der medizinischen Wissenschaft gesichert wäre. Das ist ungefähr die Verfassung, in der ich mich gegenwärtig befinde, wenn ich die verbrecherische Tätigkeit der »Führer« des französischen Proletariats beobachte. Selbstüberhebung? Nein: tiefe und unerschütterliche Überzeugung.

Unser Leben hier unterscheidet sich nur wenig von einem Gefängnisdasein: unser Aufenthalt ist auf Haus und Hof beschränkt, andere Menschen sehen wir nicht häufiger als bei Gefängnisbesuchen. Allerdings haben wir uns seit einigen Monaten einen Rundfunkempfänger angelegt, aber das gibt es heutzutage, scheint's, in einigen Gefängnissen auch, wenigstens in Amerika (in Frankreich natürlich nicht). Wir hören fast ausschließlich Konzertmusik, die jetzt einen guten Teil unseres Alltags ausfüllt. Ich höre Musik meist nur oberflächlich, während ich arbeite (manchmal hilft Musik dabei, manchmal stört sie beim Lesen – im Allgemeinen kann gesagt werden: sie unterstützt das Entwerfen von Gedanken und stört die Gedankenformulierung). N. gibt sich der Musik, wie immer, ganz hin, vertieft sich in sie und ist dabei konzentriert. Soeben hören wir Rimsky-Korsakow.

Der Rundfunk erinnert daran, wie breit und bunt das Leben ist, und verleiht dieser Vielfalt zugleich einen außerordentlich knappen und übertragbaren Ausdruck. Mit einem Wort: ein Gerät, für den Gefängnisaufenthalt wie geschaffen.

Kommentare