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Leo Trotzki 19350207 Tagebucheintrag

Leo Trotzki: Tagebucheintrag

[Nach Tagebuch in Exil. Köln-Berlin 1958, S. 23 f.]

7. Februar 1933

Ein Tagebuch ist nicht die Literaturform, zu der ich mich hingezogen fühle: im Augenblick wäre mir eine Tageszeitung lieber. Doch es gibt keine… Das Abgeschnittensein von jeder politischen Aktivität zwingt mich, zu dem publizistischen Ersatz eines privaten Tagebuchs Zuflucht zu nehmen.

Als ich bei Kriegsbeginn in der Schweiz isoliert war, führte ich einige Wochen lang Tagebuch. Später, 1916 in Spanien, nach der Ausweisung aus Frankreich, tat ich es eine Zeitlang wieder. Ich glaube, dass das auch alles ist. Nun gilt es wieder, zum politischen Tagebuch Zuflucht zu nehmen. Auf wie lange? Vielleicht auf Monate. In jedem Falle nicht auf Jahre hinaus. In der einen oder in der anderen Richtung müssen die Ereignisse eine Entscheidung herbeiführen und damit dem Tagebuch ein Ende setzen. Wenn ihm ein Ende nicht noch früher durch einen Schuss um die Ecke aus der Waffe eines Agenten Stalins, Hitlers oder ihrer französischen Freund-Feinde gesetzt werden wird. Lassalle hat einmal geschrieben, er hätte das, was er wusste, gern ungeschrieben gelassen, um nur wenigstens einen Teil dessen zu verwirklichen, was zu vollbringen er die Fähigkeit hatte. Ein solcher Wunsch wird jedem Revolutionär nur zu begreiflich sein. Doch muss die Gesamtlage so aufgefasst werden, wie sie tatsächlich ist. Gerade deshalb, weil es mir beschieden war, an großen Ereignissen mitbestimmend teilzunehmen, verschließt mir die Vergangenheit jede Möglichkeit des Handelns. Es bleibt nichts übrig, als die Ereignisse zu deuten und zu versuchen, ihren weiteren Gang vorauszusehen. Diese Beschäftigung ist jedenfalls dazu angetan, mir tiefere Befriedigung zu verschaffen, als das bloß passive Lesen.

Hier trete ich mit dem Leben fast ausschließlich durch Zeitunglesen, teilweise auch durch Briefe, in Berührung. Kein Wunder, wenn mein Tagebuch seiner Form nach einer Presseübersicht ähnlich geraten wird. Allein, nicht die Gedankenwelt der Zeitungsleute als solche nimmt mein Interesse in Anspruch, sondern das Wirken tiefgründigerer sozialer Kräfte, wie es im Hohlspiegel der Presse erscheint. Doch möchte ich mir selbstverständlich durch diese Form im Voraus keine Schranken setzen. Der – leider einzige – Vorzug eines Tagebuchs besteht ja gerade darin, dass es gestattet, sich an keinerlei literarische Verpflichtungen oder Regeln gebunden zu fühlen.

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