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Leo Trotzki 19350228 Zentristische Kombinationen und marxistische Taktik

Leo Trotzki: Zentristische Kombinationen und marxistische Taktik

Ein Brief an den polnischen Genossen V.

[eigene Übersetzung nach Writings of Leon Trotsky (1934-35), New York 1971, S. 200-205]

Ich habe Ihren Brief über die Konferenz der Organisationen der IAG mit großem Interesse und Gewinn gelesen, denn Ihr Bericht erweist sich als wirklich enthüllend. Aber ich muss von Anfang an sagen, dass die Schlussfolgerungen, die Sie aus den Tatsachen ziehen, die Sie so richtig beobachten, mir einseitig und sogar falsch erscheinen. Sie sind gleichzeitig ein Gegner des Eintritts der französischen Sektion in die SFIO und ein Befürworter des Eintritts der IKL in die IAG. Sie liegen in beiden Fällen falsch.

Aus Ihren eigenen Beschreibungen erscheint es, dass wir auf den Sitzungen der IAG nur diplomatischen Vertretern der verschiedenen zentristischen Gruppen und Tendenzen gegenübertreten und dass jeder dieser Diplomaten besonders daran interessiert war, sich selbst an nichts zu binden und daher dazu neigte, sehr liberal gegenüber anderen zu sein. Mit anderen Worten war das vorherrschende Prinzip: Leben und leben lassen oder Verwirrung anrichten und Verwirrung anrichten lassen.

Das Leben der IAG besteht aus der Veröffentlichung von Dokumenten von Zeit zu Zeit, die nicht sehr viel bedeuten, und aus Konferenzen alle anderthalb Jahre oder so, um zu beweisen, dass sie keine Sektierer sind, d.h. dass sie im Unterschied zu den verfluchten Bolschewiki-Leninisten überhaupt nicht dazu neigen, einander Ungelegenheiten zu bereiten. So wird die IAG ein Asyl für konservative zentristische Diplomaten, die nichts riskieren wollen und den alles fressenden geschichtlichen „Prozess“ für die brennendsten Probleme unserer Zeit Sorge tragen lassen. Sollte der oben erwähnte „Prozess“ bei der Schaffung einer neuen, guten Vierten Internationale mit verlässlichen Posten für die Herren Diplomaten zufällig Erfolg haben, dann werden sich letztere sehr zuvorkommend herablassen, die vollendeten Tatsache anzuerkennen. Vielleicht werden die Zweite und Dritte Internationale sich schließlich vereinigen und so aus diesen beiden einander ergänzenden Bankrotten eine neue und blühende Firma erzeugen. Man darf sich eine solche Gelegenheit nie zerstören. Vor allem muss man vermeiden, an bestimmte Prinzipien festgenagelt zu werden, weil unsere Epoche viel zu ungewiss ist und die Prinzipien viel zu unflexibel sind, und darüber hinaus gibt es diese leninistischen Heißsporne, die immer da sind, um dir mit dem Widerspruch zwischen Prinzipien und Taten unter der Nase herumzufuchteln.

Sie haben sehr gut beobachtet, dass die Leute von der SAP, deren Geist die Konferenz beherrschte, ziemlich radikale Reden hielten, in denen sie unsere Prinzipien ganz ordentlich vertraten, um desto besser auf genau diese Prinzipien zu pfeifen, wenn die Zeit für die Annahme von Beschlüssen kam. Sie bemerken sehr treffend, dass dies in der Tat genau klassischer Zentrismus ist. Wenn es um einen ehrliche, naive zentristische Geistesverfassung der Massen geht, ist es unter günstigen Bedingungen und bei einer richtigen Politik möglich, sich zu behaupten und die Massen vorwärts zu stoßen. Aber wenn man nur den Führern gegenüber steht und diese Führer „klassische“ Zentristen sind, d.h. mutwillige zentristische Spekulierer, dann kann von so einer Arbeitsgemeinschaft sehr wenig erwartet werden, die weder arbeitet noch gemeinschaftlich ist. Fünf Arbeiter in der SFIO für marxistische Ideen zu gewinnen ist hundert Mal wichtiger als für harmlose, d.h. trügerische, Resolutionen zu stimmen oder sogar innerhalb der Wände dieser Konferenzen seine Gegenstimme zu Protokoll zu geben.

Solche Versammlungen gestandener Bürokraten machen oft einen sehr imponierenden Eindruck, besonders wenn sie aus verschiedenen Ländern kommen. Es ist so gut, „da zu sein“. Man ist nicht so „isoliert“ und mit Gottes Hilfe kann man Einfluss und Prestige gewinnen. — Welch eine naive Illusion! Man besitzt nur die Macht, die man erobert, d.h. die Macht von Revolutionären, die mit klaren Ideen zusammengeschweißt sind.

Was ist Ihr Einwand gegen unsere Wende in Frankreich? Sie zitieren aus einem Brief eines Vertreters des Linken Bundes (Polen), in dem es ziemlich korrekt bekräftigt wird, dass eine zahlenmäßig kleine Gruppe dank ideologischer Klarheit großen Einfluss ausüben kann. Aber aus dieser unbestreitbaren Tatsache ziehst Sie auch die unerwartete Schlussfolgerung, dass die letzte Wende der IKL für ihren wachsenden Einfluss schädlich sei und dass die unglücklichen Folgen sich bis hin zum Linken Bund ausdehnen. Wie soll man das verstehen?

Die Stärke der Bolschewiki-Leninisten besteht, sagen Sie zusammen mit dem Vertreter des Linken Bundes, in der Klarheit ihrer Ideen. Wenn Sie behaupten, dass unser Einfluss seit der Wende zurückgegangen sei (was eine haarsträubende Unwahrheit ist), muss angenommen werden, dass unsere Ideen in der Zwischenzeit ihre Klarheit verloren haben. Das ist in der Tat der fragliche Punkt. Ist unsere französische Sektion seit ihrem Eintritt in die SFIO unentschlossener, verwirrter, opportunistischer geworden? Oder hat sie ihre völlig unversöhnliche Haltung in Bezug auf ihre Grundpositionen beibehalten? Das, mein lieber Freund, mussten Sie für Sich selber entscheiden, oder Ihr ganzes Urteil beruht auf einer völlig schiefen logischen Grundlage.

Sie sagst: Da Festigkeit bei Prinzipien und ideologische Klarheit den Einfluss der Bolschewiki-Leninisten bestimmen, wurde die Änderung unserer Organisationsmethoden für den Einfluss unserer Organisation fatal. Das passt nicht zusammen, lieber Freund. Sie können natürlich die Ansicht wagen, dass die Änderung der Organisationsmethoden (Eintritt in die SFIO) eine Abkehr von ideologischer Klarheit war. Das ist gut möglich. Die einzige Frage ist, ob das bei diesem Beispiel der Fall war?

Ich behaupte, dass keine unsere Sektionen bisher die Gelegenheit hatte, ihre Ideen so scharf zu formulieren und so direkt vor die Massen zu bringen, wie es unsere französische Sektion gemacht hat, seit sie eine Strömung in der Sozialistische Partei wurde. Und wenn man beobachten kann, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass das ganze Leben der Sozialistischen und ebenso der Kommunistischen Partei jetzt von den Ideen und Losungen unserer kleinen französischen Sektion direkt oder indirekt, positiv oder negativ bestimmt oder zumindest beeinflusst wird.

Ich kann mir leicht vorstellen, dass Genossen in Polen, die nicht französisch lesen und beim Leben in Frankreich nicht auf dem Laufenden bleiben können durch die bloße Tatsache des Eintritts in die Zweite Internationale ungünstig beeinflusst werden können. Aber in der revolutionären Politik zählt nicht der unmittelbare Eindruck, sondern vielmehr die dauerhafte Wirkung. Sollte der Eintritt in die SFIO sich als fruchtbar bei der Ausdehnung unseres Einflusses erweisen, dann werden die polnischen und anderen Genossen ihre Bewertung der Wende, die wir gemacht haben, ändern müssen. Tatsächlich hat das die Mehrheit der Genossen schon gemacht. Es ist richtig, dass eine kleine Gruppe mit klaren Ideen wichtiger ist als eine, die vielleicht groß, aber uneinheitlich ist. Aber wir machen keinen Fetisch aus diesem Satz. Denn die kleine Gruppe muss versuchen, sich das notwendige Publikum für ihre richtigen Ideen zu schaffen. Und um das zu machen, muss sie sich organisatorisch an die gegebenen Umstände anpassen. Sie stellen die ganze Sache so dar, als ob Vidal [Pseudonym von Trotzki] die Wende künstlich erfunden und der französischen Sektion zum Schaden de ganzen Bewegung aufgezwungen habe, weil er durch die Isolation der französischen Sektion erschreckt gewesen sei.

1929 schrieb Vidal an einen Franzosen, der die Linke Opposition des Sektierertums beschuldigte, folgendes: „Sie weisen auf einzelne Gruppen der Linken Opposition hin und nennen sie „sektiererisch“. Wir sollten uns darüber einigen, was die Bedeutung dieses Ausdrucks ist. Unter uns gibt es Elemente, die damit zufrieden sind, zu Hause zu sitzen und die Fehler der offiziellen Partei zu kritisieren, ohne sich breitere Aufgaben zu stellen, ohne irgendwelchen praktischen revolutionären Verpflichtungen zu übernehmen, die die revolutionäre Opposition in einen Titel verwandeln, so ähnlich wie einen Orden der Ehrenlegion. Zusätzlich gibt es sektiererische Strömungen, die sich darin ausdrücken, jedes Haar in vier Teile zu spalten. Es ist notwendig, gegen das zu kämpfen. Und ich persönlich bin bereit, dagegen einen Kampf zu führen und werde mich dabei, wenn nötig, nicht durch alte Freundschaften, persönliche Bindungen und so weiter und so fort abhalten lassen.“

Der Brief, aus dem ich zitiere, der vor sechs Jahren geschrieben wurde, fährt dann damit fort, zu erklären, warum die Bolschewiki-Leninisten unter den gegebenen Umständen nach einer Reihe großer internationaler Niederlagen ihre Arbeit in sektiererischer Form als Propagandagruppe durchführten und durchführen mussten und endet mit der Prognose, dass man dieses Stadium zweifellos wird überwinden müssen — nicht ohne einen Kampf gegen diejenigen, die aus dem ideologischen Schatz unserer Strömung das Recht ableiten, unbeweglich konservativ zu bleiben, bis zu der Zeit, wo die geschichtliche Entwicklung schließlich Notiz von ihnen nimmt und sie herzlich einlädt, doch so gut zu sein, und die Führung der Arbeiterklasse zu übernehmen. Nein, lieber Freund, es nicht genug, richtige Ideen zu haben. Es ist notwendig, zu wissen, wie man sie anwendet. Wie? Es gibt keine allgemeingültigen Rezepte dafür. Es ist notwendig, die Lage n jedem Fall konkret zu untersuchen, um die Macht der richtigen Ideen mit dem günstigsten organisatorischen Hebel auszustatten.

Zur Zeit der Spaltung mit den Brandlerianern wandte sich ein Genosse von der Walcher-Gruppe an mich und bat mich um meine Meinung über den geplanten Eintritt der Minderheit in die SAP (ich glaube, es war 1931). Meine Antwort war annähernd die folgende: der Eintritt in diese linke sozialdemokratische Partei kann in keinem Fall an sich verurteilt werden. Es ist notwendig, zu wissen, im Namen welcher Prinzipien und Ziele Sie diesen Eintritt herbeiführen wollen. Deshalb ist es notwendig, zuerst einmal eine eigene klare und unzweideutige Plattform zu erarbeiten.

Wie Sie wissen, sind Walcher und seine Leute nicht in dieser Weise vorgegangen. Sie haben mit Ideen Versteck gespielt und machen das bis heute. Dafür verurteilen wir sie, nicht dafür, dass sie in einer bestimmten politischen Lage einer bestimmten sozialdemokratischen Organisation beigetreten sind.

Mir wurde gesagt, dass der junge SAP-Mann [Brandt] auf der Konferenz der IAG folgendes erklärte: Die Wende der Bolschewiki-Leninisten in Frankreich ist eine Bestätigung der SAP-Prinzipien. Ernsthafte Leute können darüber nur in großes Gelächter ausbrechen, weil Eintritt an sich nichts beweist. Die entscheidende Sache ist das Programm und die im Geiste dieses Programms nach dem Eintritt durchgeführten Aktion. Soweit sie in der SFIO vertreten ist, erzeugt die SAP die Wirkung der Formlosigkeit und des lauen Zentrismus. Unsere Leute handeln im Geiste der marxistischen Klarheit und Entschlossenheit.

Aber Lenin sagte, es ist notwendig mit den Reformisten zu brechen, und wir treten jetzt in eine reformistische Organisation ein. Diese Weise des Gegenüberstellens ist geistig völlig der der Bordigisten und ihres Schülers Vereecken gleich, aber hat nichts mit dem Leninismus gemein. Lenin verkündete die Notwendigkeit des Bruchs mit dem Reformismus nach dem Ausbruch des Krieges, des Weltkrieges. Er verlangte das unbarmherzig von den Zentristen. Zu dieser Zeit gab es in keinem Land konsequente Bolschewiki außer bei russischen Emigranten. Die sich nach links wendenden Elemente, an die Lenin appellierte, waren Zentristen, die nicht nur organisatorisch, sondern auch ideologisch in der Sozialdemokratie verwurzelt waren. Zu ihnen sagte Lenin: Ihr müsst mit den Reformisten brechen. Aber um das sagen zu können, nahmen die russischen Bolschewiki eifrig am inneren Leben der französischen, schweizerischen und skandinavischen Sozialdemokratie teil.

Unser großer Vorteil gegenüber 1914 besteht in den Gruppen und Organisationen von gehärteten Bolschewiki, die wir fast überall haben, die international verbunden sind und daher internationaler Kontrolle unterliegen. Sie müssen nicht von der Notwendigkeit des Bruchs mit den Reformisten überzeugt werden. Sie stehen vor einem völlig anderen Problem: wie kann und soll unsere kleine Gruppe mit ihren klaren Ideen am besten unter den gegenwärtigen Bedingungen das Gehör der Massen kriegen? Die Lage ist kompliziert und verwickelt, so überwuchert von den Überbleibseln der alten Organisationen, dass wir, während wir völlige Unversöhnlichkeit bewahren, so weit es unsere Prinzipien betrifft, organisatorisch sehr einfallsreich, sehr rüstig, sehr geschmeidig und sehr unternehmerisch sein müssen. Andernfalls werden wir selbst mit den besten Ideen verfallen. In seinem Briefwechsel mit Sorge beklagte sich Engels Dutzende Male, dass die englischen und deutschen Marxisten in Amerika so eine schlimme Lage herbeiführten, dass sie die lebendigste Theorie, den Marxismus, in ein sektiererisches Glaubensbekenntnis verwandelten, unter dessen Deckmantel sie passiv bleiben konnten, statt mit all ihrer Kraft und Entschlossenheit im Fluss der lebendigen Arbeiterbewegung einzugreifen.

Schau nach Spanien, lieber Freund. Mitten in all den Erdstößen der Revolution um sie herum hat sich die Führung unserer Sektion dort während der ganzen Periode durch ihre doktrinäre Passivität ausgezeichnet. Individuell haben viele unserer Genossen mutig gekämpft. Aber die Sektion als Ganze zeichnete sich mehr durch „objektive“ Kritik als durch revolutionäre Tätigkeit aus. Das ist zweifellos das tragischste Beispiel in der ganzen Geschichte der IKL. Und schau, es ist genau diese Sektion, die bis heute völlig unversöhnlich gegenüber der „opportunistischen“ Wende in Frankreich bleibt.

In Amerika nahm die Entwicklung einen anderen Lauf. Unser Bund verband sich mit der Muste-Organisation, um eine unabhängige Partei zu bilden. Die Organisation nimmt eifrig an der tatsächlichen Massenbewegung teil und hat beachtliche Erfolge zu verzeichnen. Und genau aus diesem Grund konnte sie ein klares Verständnis für die französische Wende zeigen, trotz der Unterschiede in den Bedingungen und den angewandten Methoden.

Als Marxisten sind wir Zentralisten. Wir streben international auch nach einer Verschmelzung der revolutionären Kräfte. Aber als Marxisten können wir keine kleinlichen Doktrinäre, Pedanten sein. Wir untersuchen immer den lebendigen Fluss und passen uns an jede neue Lage an, ohne unsere Identität zu verlieren. Darin liegt das ganze Geheimnis des revolutionären Erfolges. Und wir müssen dieses Geheimnis ohne Rücksicht auf die Kosten beherrschen.

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