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Leo Trotzki 19360622 Brief an das IS

Leo Trotzki: Brief an das IS

[Nach der maschinenschriftlichen Kopie, Lev Davidovič Trockij / International Left Opposition Archives , inventory number 221, International Institute of Social History, Amsterdam]

H., den 22. Juni 1936

An. das lS sowie alle Sektionen der IKL.

W. G.

fast alle unsere Blätter haben In den letzten Monaten die höchst wichtigen Enthüllungen Ciligas über Stalins Verfolgungen der Revolutionäre In der Sowjet-Union veröffentlicht. Wir wissen nicht, welche politische Entwicklung Ciliga selbst in der nächsten Zeit durchmachen wird. Ohne die rein informative Bedeutung seiner Arbeit um das Mindeste zu schmälern, müssen wir aber streng beachten, dass Clliga uns theoretisch und politisch heute schon ziemlich fremd und dem Wesen nach feindlich gegenübersteht. Nach allen, was er schreibt (und Ich habe auch eine Reihe Privatbriefe von ihm), zu urteilen muss man ganz klar einsehen, dass Clliga nicht nur kein Bolschewik-Leninist ist, was zu sein er selbst nicht vorgibt, sondern auch kein Marxist. Er war bis 1929 ein stalinistischer Intellektueller, wie man ihrer sehr viel in der ganzen Welt vorfindet: halb liberal in seinem Denken; humanitär, idealistisch, sicher ganz ehrlich in seiner Art, aber ohne jedes Verständnis für den Marxismus und die Gesetze der proletarischen Revolution, Seine geistige Ähnlichkeit hat ihn bei dem großen stalinistischen Zickzack in den Jahren 1928-29 in Gegensatz zu dem offiziellen Kurs gebracht und ihn uns angenähert. Er machte mit einem Male die Entdeckung, dass die BL das Geschehene viel früher vorausgesagt und auch ein System der politischen Maßnahmen vorgeschlagen haben. Diese Entdeckung genügte aber nicht, um seine ganze Weltanschauung umzumodeln. Auch im Isolator blieb er, was er immer gewesen war: Idealist, exaltierter Demokrat. Aus dem Stalinisten ist ein Antistalinist geworden, doch kein Marxist. Mit einem Male fühlte er sich links von uns, denn er verneint ja jede progressive Bedeutung der Sowjet-Union und stellt sie jedem Ausbeuterstaate gleich. Die wirkliche Prüfung musste aber sein Ultralinkstum erst im Auslande bestehen. Er begann mit der These, dass wir auch die verfolgten Menschewiki zu verteidigen haben und landete bald bei dem menschewistischen Organ, wo er auch uns jetzt politisch „beleuchtet“, d.h. kritisiert.

Vor dieser seiner Wendung habe ich ihn darauf aufmerksamk gemacht dass die Mitarbeit bei den Menschewiki naturnotwendlg die Mitarbeit bei uns unmöglich machen wird. Er antwortete mir mit einem langen, theoretischen, sehr konfusen Brief, der im Wesen auf Folgendes hinausläuft: Sie anerkennen doch die Notwendigkeit, mit den Sozialdemokraten gemeinsam gegen die Faschisten vorzugehen, warum denn nicht gegen Stalin Hand in Hand mit den russischen Menschewiki? Wir haben hier vor uns ein klassisches Beispiel dafür, wie das formalistische Ultralinkstum in den Sumpf des schlimmsten Opportunismus führt (wie übrigens auch zum Anarchismus, der bekanntlich nichts anderes als den ins Extreme getriebenen Liberalismus darstellt). Die parlamentarische Demokratie mit ihrem Blum stellt, wenn auch für eine kurze Weile, wirklich das „kleinere Übel" im Vergleich mit dem Faschismus dar und wir sind bereit dieses „kleinere Übel“, wenn notwendig geneinsam mit den Sozialdemokraten zu verteidigen. Der kleinbürgerlich-demokratische Menschewismus ist aber keinesfalls das „kleinere Übel" im Vergleich mit dem stalinisierten Sowjetstaat, den wir im unerbittlichen Kampfe gegen die Sowjetbürokratle noch zum Sozialismus zu führen hoffen.

Der zweite große Unterschied, der übrigens mit des ersten eng verbunden ist, besteht darin, dass die Sozialdemokratie in vielen kapitalistischen Ländern doch eine Massenpartei ist und wir mit ihr als mit einer Realität rechnen müssen. Die „Einheitsfront" mit Dan gegen Stalin entlarvt nur die innere Neigung Ciligas zum Menschewismus (wie übrigens auch zum Anarchismus, der bekanntlich nichts anderes als den ins Extreme getriebenen Liberalismus darstellt.). Denn im Grunde war er, wie viele ausländische Stalinisten, nichts anderes als ein exaltierter Menschewik. Die Exaltation ist weg, der Menschewismus ist geblieben,

Im „Russischen Bulletin“ werden wir keine Artikel mehr von Clliga bringen, denn wir können nicht der stalinistischen Bürokratie dieses große Geschenk machen, d.h. uns durch mit den Menschewiki gemeinsame Mitarbeiter zu kompromittieren. Selbstverständlich werden sich die Stalinisten dieser Tatsache zu bemächtigen suchen, um Ciligas Enthüllungen zu kompromittieren, wir haben ihn aber nie als theoretische und politische Autorität angerufen. Die Tatsachen, die er veröffentlichte, behalten jedoch ihren vollen Wert.

Ich erhebe selbstverständlich keinesfalls den Anspruch, ein abschließendes Urteil über Ciliga und seine Zukunft abzugeben. Gelingt er ihm durch die neue Erfahrung, sich zur marxistischen Auffassung durchzuringen, und sich uns somit wirklich zu nähern, so würden wir uns natürlich aufrichtig freuen. Jeder von uns wird alles tun, um eine solche Evolution zu fördern. Der Beginn der Bekehrung muss aber darin bestehen, dass er seine Zusammenarbeit mit den Menschewiki prinzipiell aufgibt. Eine Zusammenrbeit, die doppelt verbrecherisch ist in einem Moment, wo die französischen Freunde der russischen Menschewiki an der Macht sind, unsere Zeitung konfiszieren, unsere Genossen verfolgen usf. Ciliga merkt gar nicht, dass die Bolschewiki-Leninisten nicht nur von Stalin, sondern auch von den internationalen Menschewiki verfolgt sind und im Falle de« Krieges erst recht verfolgt werden.

L. Trotzki.

PS.

Dieser Brief ist nicht für die Veröffentlichung, sondern zur Information unserer Sektionen bestimmt. Kommt aber die Sache in die Öffentlichkeit, so können unsere Sektionen natürlich von diesem Briefe jenen Gebrauch machen, der ihnen zweckmäßig erscheinen wird.

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