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Leo Trotzki 19360101 Brief über Russland

Leo Trotzki: Brief über Russland

Am 1. Januar 36

[Nach Informationsdienst der IKD, Nr. 10, Februar 1936, S. 9-11]

Werter Genosse.

Sie stellen die Frage, ob das jetzige Sowjetsystem durch eine „dritte" Gesellschaftsform abgelöst werden kann, die weder kapitalistisch noch sozialistisch sein soll. Urbahns meint, das sei eben „Staatskapitalismus", wobei er das Sowjetsystem mit dem faschistischen „gleichgeschalteten" Kapitalismus gleichsetzt. Er vergisst dabei den ganz winzigen Unterschied: Der Faschismus zwängt die hochentwickelten Produktivkräfte in den Rahmen des Nationalstaates, in dem er ihre weitere Entwicklung auch mehr unterbindet. Das Sowjetsystem verleiht der Entwicklung der Produktivkräfte auch in seiner jetzigen Form ein nie dagewesenes Tempo. Urbahns übersieht somit zwischen dem vom geschichtlichen Standpunkt Fortschrittlichen und dem Erzreaktionären,

Sie haben, wie ich sehe, mit der Urbahnschen Konstruktion nichts gemein. Sie meinen jedoch, die Bürokratie könnte in der weiteren Entwicklung die Eigentumsformen ihren Interessen so weit anpassen, dass sie zu einer wirklich herrschenden Klasse wird. Diese neuen Eigentumsformen deuten Sie nicht an. Sie begnügen sich mit der allgemeinen Feststellung, dass die lebendige Entwicklung unerschöpflich an neuen Bildungen und Formen ist. In dieser allgemeinen Form scheint es mir ebenso schwer, diese "dritte" Möglichkeit zu akzeptieren wie zu verwerfen, denn man muss dabei von zu vielen Faktoren abstrahieren; in erster Linie von denjenigen, die für unsere revolutionäre Tätigkeit ausschlaggebend sind.

Die Eigentumsformen sind doch die gesellschaftlichen Formen par excellence, Sie führen – jedenfalls aus vorkapitalistischer Zeit – Beispiele an, wo gewisse Eigentumsformen nicht viel zu besagen hatten. Diese Beispiele beweisen nur, dass man die wirklichen Eigentumsformen von den vermeintlichen., d.h. von juristischen Fiktionen (die auch ihre reale Funktion ausüben, aber auf einem höheren Gebiet) zu unterscheiden hat. Die Bourgeoisie hat eben die Eigentumsformen zu ihrem nackten Ausdruck gebracht. Die proletarische Revolution hat das kapitalistische Eigentum nationalisiert. Nun heißt die Frage: Kann diese Nationalisierung nicht selbst zu einer Fiktion ausarten, in dem das wirkliche Eigentum in der einen oder in der anderen Form der neuen herrschenden, aus der Bürokratie entstandenen Klasse zufällt?

Das nationalisierte Eigentum steht und fällt mit der Planwirtschaft. Somit ist es keine Fiktion, sondern eine mächtige Realität. Die Nationalisierung aber bedeutet nicht nur, dass die Produktivkräfte planmäßig organisiert und geleitet, sondern auch, dass sie im Interesse aller geleitet werden. Die Bürokratie beeinträchtigt das neue System in der ersten und in der zweiten Beziehung. Sie vermindert die Wirksamkeit der Planwirtschaft einerseits und eignet sich einen ungeheuren Teil deren Erträgnisse an.

Wenn wir von einem „dritten" System sprechen, müssen wir uns die Frage beantworten, ob es sich um neu erworbene Rechte der Bürokratie auf immer größere Teile des Nationaleinkommens handelt – was ja dem Rechte auf Schmarotzertum gleich käme oder ob es sich um die virtuelle Liquidierung der Planwirtschaft handelt. Nur die zweite Hypothese würde eine neue soziale Basis abgeben.

Man muss sich aber dabei im Klaren sein, dass die Abschaffung der Planwirtschaft,somit auch der Nationalisierung der Produktivkräfte unvermeidlich und automatisch zu deren Lähmung und Zersetzung führen würde. Wir würden dann nicht mehr mit einem progressiven, sondern mit einem Verfallssystem zu tun haben, das sich dem faschistischen Kapitalismus unvermeidlich annähern müsste. Dass die an Gestehungsformen so reiche Entwicklung dabei etwas Originelles schaffen würde, ist möglich. Das Wesen der Sache würde sich aber kaum ändern.

Nehmen wir an, die Planwirtschaft bleibt im Grunde unberührt, die Produktivkräfte setzen ihren Aufstieg fort, so bleibt uns – in Ihrer Hypothese – nichts anderes, als dass es der Bürokratie gelungen ist, ihr Schmarotzertum juristisch, ideologisch und politisch (warum nicht auch religiös?) solider und standhafter zu gestalten und zu verewigen. Diese Perspektive setzt voraus, dass die große Masse der Bevölkerung trotz der Hebung der Wirtschaft und Kultur geduldig das neue Joch auf sich nimmt, um es ohne Widerstand immer und immer zu tragen . Das ist keinesfalls wahrscheinlich. Der Fortschritt der Wirtschaft eröffnet auf einer gewissen Stufe der Sowjetbürokratie große Machtquellen. Derselbe Fortschritt richtet sich aber immer und immer mehr gegen ihre Alleinherrschaft und ihr Schmarotzertum.

Was ist dann die Perspektive? Sehr wahrscheinlich eine neue Revolution. Sie wird aber keine soziale Revolution, sondern eine polltische sein. Auch das Bürgertum kannte in seiner Entwicklung „große" d.h. soziale Revolutionen und auch nur politische, die sich auf der Basis des schon gefestigten Eigentums vollzögen. Die theoretische Prognose von Karx und Lenin hat jedenfalls die Möglichkeit politischer Revolutionen auf der sozialen Grundlage des durch das Proletariat nationalisierten Eigentums nicht vorausgesehen. Sie hat aber auch die bonapartistische Entartung der proletarischen Diktatur nicht vorausgesehen. Beides gehört eben zu jenen Etappen., Übergangsformen usw., an deren Gestaltung die Geschichte so unerschöpflich ist. Die allgemeinen Gesetze der Entwicklung vom Kapitalismus zum Sozialismus, wie sie vom Marxismus festgestellt werden, werden aber durch diese "Episoden" (sehr unangenehme "Episoden") nicht außer Kraft gesetzt.

Das sind die Erwägungen über ihre interessante Fragestellung, die ich Ihnen – ganz in Eile – zukommen lasse.

Mit den herzlichsten Grüßen Ihr

L. Trotzki.

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