Leo Trotzki‎ > ‎1936‎ > ‎

Leo Trotzki 19360522 Die neue Verfassung und die Repression in der UdSSR

Leo Trotzki: Die neue Verfassung und die Repression in der UdSSR

[Nach Service d'Information et de Presse, No 2, 20 juin 1936, S. 13-15. Titel nach der Trotzki-Bibliographie von Louis Sinclair, Bd. 2, S. 825]

In der letzten Zeit sind in der amerikanischen wie überhaupt in der Weltpresse Nachrichten über die Vorbereitung einer neuen Verfassung in der Sowjetunion im weitesten Ausmaß veröffentlicht worden. Sie soll, nach den. Worten der Sowjetführer „die demokratischste aller Verfassungen der Welt" werden. Die Wahlen wurden von nun an auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen direkten und geheimen Wahlrechts vorgenommen werden. Einige Interviewers stellten allerdings die Frage, ob man in Anbetracht der Tatsache, dass im Lande nur eine einzige Partei bestehe, die Wahlen für frei ansehen könne. Im Rahmen dieser der Information dienenden Erklärung will ich auf die Behandlung dieser Frage verzichten. Es ist aber notwendig, eine andere Frage zu stellen. Wie bereitet diese einzig existierende Partei die bevorstehende Verfassungsreform vor? Die Antwort lautet: durch unerhörte und ununterbrochene Repressalien, die jedoch nicht gegen die Feinde des Sowjetregimes gerichtet sind, sondern meistens gegen diejenigen Elemente, die bei vollständiger Treue dem Regime gegenüber in Widerspruch zu der unabsetzbaren und unkontrollierbaren Spitze geraten. Man kann überhaupt mit Gewissheit behaupten, dass neun Zehntel der politischen Repressionen jetzt nicht dem Schutze des Sowjetstaates, sondern dem Schutze der Selbstherrschaft und den Privilegien der bürokratischen Schicht innerhalb dieses Staates dienen. Somit wird die einzig bestehende Partei ausschließlich zum politischen Werkzeug der herrschenden Gruppe.

Bis zur jüngsten Zeit galt der Isolator, d.h. das Gefängnis als strengste Bestrafung gleich nach der Todesstrafe. Den Hauptteil der Insassen der politischen Isolatoren bilden seit Anfang 1926 in erster Linie die ehemaligen Mitglieder der herrschenden Partei, die, ohne durch irgendwelche Taten die Disziplin verletzt zu haben, ihre kritische Einstellung zur herrschenden Gruppe oder persönlich zu Stalin kundgegeben haben in allerletzter Zeit aber werden die Isolatoren wegen ihrer geringen Aufnahmefähigkeit und der zu hohen Kosten immer mehr durch Konzentrationslager ersetzt, wo die Gefangenen in menschenunwürdige physische und moralische Verhältnisse versetzt werden, Die Konzentrationslager sind jetzt über die ganze Peripherie des Landes verbreitet und stellen die Nachahmung der betreffenden Einrichtungen Hitlerdeutschlands dar. Die Überführung aus dem Isolator in ein Konzentrationslager wird von den Häftlingen als Verurteilung zum langsamen Tode betrachtet. Es entstanden daher in der Sowjetunion im Laufe der letzten Monate zahlreiche Hungerstreiks der politischen Gefangenen mit der Forderung, weiterhin im Gefängnis bleiben zu können. Der Hungerstreik, das letzte Mittel der Verzweiflung, ist überhaupt jetzt bei den Gefangenen das verbreiteiste Mittel.

Dabei muss man im Auge behalten, dass im Laufe der letzten 9 Monate – wenn man den Berechnungen die Nachrichten der offiziellen Sowjetpresse zu Grunde legt – aus der Partei weit mehr als 300.000, vielleicht sogar eine halbe Million Mitglieder ausgeschlossen worden sind; und diese „Reinigung" wird immer weiter getrieben. Der Ausgeschlossene wird in der Mehrheit der Fälle verhaftet, ein Teil wird in die Konzentrationslager und ein anderer in die Verbannung geschickt. In der Prawda, dem Organ Stalins, wurde am 10. März eine besondere Instruktion veröffentlicht, die den Lokalbehörden vorschreibt, den ausgeschlossenen politischen Oppositionellen keine Arbeit zu geben. Wo der Staat der einzige Arbeitgeber ist, bedeutet diese Verordnung den Hungertod für die Betroffenen. In hunderten armseligen, wilden sibirischen und zentralasiatischen Nestern leben zerstreut zehntausende und aberzehntausende Mitglieder dor bolschewistischen Partei und führen das Dasein von Hinduparias. Für das geringste Wort des Protestes, für die einfache Forderung nach Arbeit werden sie in die Konzentrationslager geschickt, d.h. in die schlimmste Art der Katorga. Diejenigen aber, denen es gelingt, die Frist im Gefängnis und in der Verbannung zu überleben, erhalten einen sogenannten „Wolfspass", ein Ausweispapier, durch das man für vogelfrei erklärt wird, sodass diese Leute niemand beherbergen wird, wodurch man also zum Leben eines obdachlosen Vagabunden verurteilt wird. Das Ziel aller dieser Maßnahmen ist, den Leuten das Rückgrat zu brechen, sie alle zu zwingen, ihr Denken dem der herrschenden Spitze gleichzuschalten oder diese Spitze wenigstens laut zu loben. Auf diese Weise hofft die Bürokratie, noch vor der Einführung des „allgemeinen und geheimen Wahlrechts“ jedes Aufflackern eines kritischen Gedankens im Lande zu ersticken und damit die Durchführung jener Plebiszite zu sichern, die das genügend aus der jüngsten Geschichte Deutschlands bekannt sind.

Will man dieses allgemeine Bild durch individuelle Beispiele illustrieren, so gerät man nur durch den Reichtum der Auswahl in Verlegenheit. Die letzte absolut sichere Post brachte folgende Tatsachen:

Im Januar dieses Jahres ist in Sibirien E. B. Solnzew in seinem 36. Lebensjahr gestorben, einer der hellsten Köpfe der jungen Generation der Sowjetunion. Ein hochgebildeter Wissenschaftler, arbeitete er fast 2 Jahre im Amtorg in Amerika, um nach der Rückkehr im Jahre 1928 als „Trotzkist" verhaftet zu werden. Nachdem er die ihm auferlegten 3 Jahre Gefängnis im Isolator von Werchneuralsk abgesessen hatte, bekam er noch 2 Jahre ohne irgendwelche neue Anklage. Nach 5 Jahren Isolator ist er in die sibirische Verbannung geschickt worden, wobei man seine Frau und Kinder an einem anderen Ort verbannt hatte. r politische Gefangene ist dies trotz des neuesten offiziellen Kurses „zum Schutz der Familie“ eine übliche Methode. Obgleich Solnzew in dem wilden sibirischen Nest keine Politik betreiben konnte, ist er im September 1935 wiederum verhaftet und zu neuen 5 Jahren Gefängnis ohne jegliche Begründung verurteilt worden. Solnzew erklärte den sogenannten Todeshungerstreik und damit seinen Entschluss, sich auf diese Weise den Tod geben zu wollen. Nach achtzehntägigem Hungern erklärte ihm die Behörde, er werde nicht ins Gefängnis, sondern in einen anderen Verbannungsort verschickt. Aber unterwegs, an einer der sibirischen Etappenstationen, erlag der vollständig erschöpfte und daher widerstandsunfähige Organismus einer zufälligen Infektion.

Ähnliche Prüfungen wie Solnzew machen jetzt zwei andere hervorragende Vertreter der jungen Generation, Diagelstedt und Jakowin, durch. Nicht weniger als 7 Jahre verbringen diese schon im Gefängnis und sie werden auch kaum von den Behörden freigelassen worden.

Lado Dumbadse, einer der ältesten Bolschewiki, der Organisator der berühmten unterirdischen Druckerei im Kaukasus zu Beginn des Jahrhunderts wo Millionen von Aufrufen gegen den Zarismus gedruckt worden waren; später Teilnehmer der Oktoberrevolution und von Lenin hoch geschätzt; ein Main von grösster Bescheidenheit und Selbstlosigkeit. Von 1928 ab wechselte er das Gefängnis mit der Verbannung und die Verbannung mit dem Gefängnis. Die Prüfungen und Entbehrungen führten zur Lähmung der Arme, Der alte Mann kann sich weder selbst anziehen noch Briefe schreiben. Trotzdem ist er in die Verbannung geschickt worden, wo ihn der Tod erwartet.

Frau A. L. Bronstein, über 60 Jahre alt mit etwa 40 Jahren Parteiarbeit ist aus Leningrad von ihren Enkeln, die sie zu betreuen hatte, weggerissen und in ein sibirisches Dorf verschickt worden, wo sie weder Arbeit noch Nahrung finden kann.

Würde ich nicht durch den Raum beengt sein, könnte ich noch die Geschichte der Familie Elzin erzählen, des alten Vaters und seiner zwei Söhne, die alle drei zuerst, ins Gefängnis und dann in die Verbannung gebrannt wurden, wo einer der Söhne kürzlich gestorben ist. Die tragische Geschichte des Seemannes Pankratow, dessen Frau man nur deswegen nach Sibirien geschickt hat, weil sie sich von dem im Isolator befindlichen Mann nicht scheiden lassen wollte. Die Geschichte des heldenhaften Moskauer Arbeiter Michail Bodrow, den man jetzt aus dem Isolator in ein Konzentrationslager brachte und Dutzende und Hunderte anderer.

Ich will nur noch die Verfolgungen gegen den Schneider Lachowizki erwähnen, dessen Verwandte in den Vereinigten Staaten leben. Man hat diesen Arbeiter, dem man jede Arbeitsmöglichkeit entriss, von Ort zu Ort geschleppt und in das äußerste Elend getrieben. Seine Frau, eine Arbeiterin, hat man aus der Fabrik gejagt, wiederum wegen der Weigerung, sich scheiden zu lassen.

Man beraubt die Verbannten der Möglichkeit.miteinander oder mit den Verwandten brieflich zu verkehren. Die Familien, die sich um ihre verbannten Mitglieder kümmern, werden ihrerseits verfolgt. Sendungen von Geld oder Gebrauchsgegenständen aus dem Ausland an die verbannten Oppositionellen worden nicht ausgeliefert. Die GPU konfisziert sie einfach, ohne den Absender oder den Adressaten zu benachrichtigen und der betreffende Verbannte wird gewöhnlich in ein noch wilderes .Nest getrieben, damit man im Ausland seine Spuren verliert. Sogar die gegenseitige materielle Hilfe der Verbannten untereinander wird als Verbrechen betrachtet. Ein frischer Beleg dafür: Frau M. M. Joffe, die Witwe des ehemaligen berühmten Sowjetdiplomaten, Gesandter in Berlin, Tokio usw., ist nach mehreren Jahren der Verbannung jetzt viel weiter nach dem Norden Sibiriens verschickt worden weil sie versucht hat, den notleidenden Freunden zu Hilfe zu kommen! Sie ist der Urheberschaft des oppositionellen Roten Kreuzes beschuldigt worden. Ihr Kind ist den schweren physischen Leiden der Verbannung erlegen. Wenn man sich erinnert, dass A. Joffe selbst noch im Jahre 1928 durch wilde Verfolgungen zum Selbstmord getrieben worden war, so wird das Bild über das Geschick dieser Familie vervollständigt.

Vor ein paar Wochen ist ins Ausland Victor Serge mit seiner Familie gekommen, halb Russe, halb Belgier, ein talentvoller französischer Schriftsteller, der seit 1928 als Oppositioneller in der SU den unerhörtesten Verfolgungen und Verleumdungen ausgesetzt war, die seine Frau zu vollem Irrsinn trieben. Nur die Veröffentlichung der schrecklichen Geschichte dieser Familie in der europäischen Presse und die Tatsache, dass Victor Serge in der belgischen und französischen literarischen Welt sehr bekannt ist, bewogen die Moskauer Regierung, ihn ins Ausland auszuweisen.

Ich muss noch hinzufügen, dass im Solowjezki-Isolator (möglicherweise auch in anderen) eine große Zahl oppositioneller ausländischer Kommunisten gefangen gehalten werden: Ungarn, Bulgaren, Rumänen, Polen, überhaupt Angehörige jener Länder., von deren Regierung man keine Proteste zu erwarten hat. Alle ausländischen Oppositionellen sind von der GPU einfach als „Spione" verurteilt worden. Auf diese Weise entledigt sich die Moskauer Führung der Komintern aller ihrer unbeliebten, unruhigen und kritisch eingestellten Mitglieder.

Ich brauche nicht zu sagen, dass ich sehr gut die Schwere der von mir gemachten Mitteilungen zu schätzen weiß, und dass ich für diese Mitteilungen die vollständige politische und moralische Verantwortung übernehme. Eine unvoreingenommene, aus einwandfreien Leuten zusammengesetzte internationale Kommission, die vom öffentlichen Vertrauen getragen wird, darunter auch dem der Arbeiterorganisationen, könnte an Ort und Stelle alle die Tatsachen nachprüfen, um in die Frage die notwendige Klarheit zu bringen. In allen Ländern gibt es Gesellschaften der Freunde der Sowjetunion. Wenn es wirklich Freunde des Sowjetvolkes sind und nicht die der herrschenden bürokratischen Clique, so sind sie verpflichtet, mit uns zusammen die Forderung nach einer solchen Kommission laut zu erhoben, um den schändlichen Verfolgungen und Racheakten ein Ende zu setzen.

Hönefoss, den 22.Mai 1935

L. Trotzki

Kommentare