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Leo Trotzki 19360417 Die schärfsten Speisen stehen noch bevor

Leo Trotzki: Die schärfsten Speisen stehen noch bevor

[Nach Unser Wort. Halbmonatszeitung der IKD, Jahrgang 4, Nr. 10 (74), Mitte Mai 1936, S. 4]

In seinem Aufsatz «Der Kampf um die Ausreise»1 schildert Gen. Ciliga die Foltern, denen die GPU einen Seemann unterzog, wobei sie von ihm das Geständnis seiner Teilnahme an einer «nichtexistierenden Verschwörung gegen Stalin» verlangte. Der Seemann wurde in Ruhe gelassen erst, als er «halb den Verstand verlor». Diese Tatsache verdient ernsteste Aufmerksamkeit.

Eine ganze Serie öffentlicher politischer Prozesse in der UdSSR zeigte, mit welcher Bereitwilligkeit einige Angeklagte Verbrechen auf sich nehmen, die sie bestimmt nicht begangen haben. Diese Angeklagten, die vor Gericht gleichsam eine auswendig gelernte Rolle spielen, kommen mit sehr leichten, zuweilen eindeutigen Scheinstrafen davon. Eben gegen Entgelt solcher Nachsicht seitens der Justiz legen sie ihre «Geständnisse» ab. Wozu aber brauchen die Machthaber die falschen Selbstbezichtigungen? Mitunter, um eine dritte Person zu treffen, die erwiesenermaßen mit der Sache nichts zu tun hat: mitunter um ihre eigenen Frevel zu verbergen, Frevel wie die durch nichts gerechtfertigten blutigen Repressalien; schließlich um für die bonapartistische Diktatur eine vorteilhafte Lage zu schaffen.

Seinerzeit haben wir auf Grund der offiziellen Materialien nachgewiesen, dass an der Vorbereitung des Kirowmordes direkt und unzweideutig beteiligt waren: Medwedj, Jagoda und Stalin. Keiner von diesen hat wahrscheinlich Kirows Tod gewollt. Aber alle spielten sie mit seinem Kopf, während sie zur Vorbereitung des Terroraktes ein Amalgam mit «Beteiligung» von Sinowjew und Trotzki zu brauen versuchten.

Sinowjews Aussagen im Prozess waren sichtlich ausweichend und das Resultat einer vorherigen Abmachung zwischen den Anklägern und dem Angeklagten: offenbar hat man Sinowjew nur unter dieser Bedingung versprochen, am Leben zu bleiben.

Die Erpressung von phantastischen Aussagen seitens des Angeklagten gegen sich selbst, um durch Pralleffekt andere zu treffen, ist schon längst zum System der GPU geworden, d.h. zum System Stalins. Wozu jedoch war es 1930 erforderlich.ein Attentat auf Stalin zu inszenieren? Und warum zog man zu dieser Affäre einen Seemann heran? Wir haben in dieser Hinsicht keine anderen Zeugnisse als die wenigen Zeilen in dem Artikel des Gen. Ciliga. Wir wollen es dennoch riskieren, eine Hypothese auszusprechen.

Im Jahre 1929 wurde der Autor dieser Zeilen in die Türkei ausgewiesen. Bald darauf besuchte ihn in Konstantinopel BIjumkin, der diesen Besuch mit seinem Kopf bezahlte. Bljumkins Erschließung durch Stalin machte damals einen niederschmetternden Eindruck auf viele Kommunisten, sowohl in der UdSSR wie in den anderen Ländern. Im Ausland wurde zu der Zeit das Zentrum der Bolschewiki-Leninisten gegründet, begannen das russische Bulletin und Publikationen in fremden Sprachen zu erscheinen. Unter diesen Bedingungen hatte Stalin ein «Attentat» bitter nötig, vor allem ein Attentat, dessen Fäden ins Ausland führten und in das man BIjumkin, d.h. genauer seinen Schatten, hätte verwickeln können. Zu diesem Zweck konnte sich ein Seemann sehr gut eignen, besonders wenn er Fahrten zwischen einem Sowjethafen und Konstantinopel machte. Der Seemann konnte zufällig verhaftet worden sein, wegen eines unvorsichtigen Gesprächs, wegen Lektüre illegaler Literatur, schließlich einfach Schmuggel: wir wissen eben von diesem Seemann nichts. Ihm drohten vielleicht ein paar Jahre Gefängnis. Doch der erfinderische Jagoda versprach ihm Freiheit und alle möglichen Prämien, wenn er nur aussagen wolle, dass BIjumkin ihn auf Trotzkis Auftrag in eine Verschwörung gegen Stalin eingeweiht habe. Wenn die Sache geklappt hätte, wären Trotzkis Ausweisung und Bljumkins Erschießung mit einem Schlage übertönt gewesen. Aber da passiert ein Unglück: der Seemann «verlor halb den Verstand».

Unsere Hypothese ist nur eine Hypothese. Aber sie entspricht durchaus der moralischen Natur Stalins und den Methoden seiner Politik. «Dieser Koch», sagte Lenin warnend über Stalin, «wird nur scharfe Speisen zubereiten». Aber selbst Lenin konnte natürlich im Februar 1921, als diese Worte gesagt wurden, nicht die Teufelsküche vorhersehen, die Stalin auf den Gebeinen der bolschewistischen Partei errichten würde.

Jetzt haben wir 1936. Stalins Methoden sind dieselben. Die politischen Gefahren für ihn sind gewachsen. Stalins und Jagodas Technik hat sich um die Erfahrung mehrerer Misserfolge bereichert. Machen wir uns darum keine Illusionen: die schärfsten Speisen stehen noch bevor.

L. Trotzki.

1Siehe U. W., Nr. 6 und 9

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