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Leo Trotzki 19360823 Stalin ist nicht Alles

Leo Trotzki: Stalin ist nicht Alles

[Nach Leo Trotzki, Die „Terroristen“-Prozesse in der USSR. Prag 1936, S. 1-3]

Ich freute mich schon, wieder ruhig an die Fortsetzung der Leninbiographie schreiten zu können. Jetzt muss ich mich mit den ekelhaftesten Verleumdungen und erlogenen Anklagen beschäftigen. Nichts zu machen. Der alte Wilhelm Liebknecht sagte öfters: Wer mit der Politik verbunden ist, muss eine dicke Haut haben.

Man kann sich mit Recht fragen, warum Stalin diese ganz elende, beschämende und die ganze Arbeiterbewegung schädigende Geschichte aufgezogen hat. Aus sehr verschiedenen und sich zu einem gewissen Grad widersprechenden Gründen:

1. Die Ermordung Kirows versuchte er zur politischen Tötung der Opposition zu benützen. Er hat sich aber dabei die Sache zu leicht vorgestellt. Was mich anbelangt, so war die Geschichte mit dem lettischen Konsul ein miserables Fiasko. Was Sinowjew, Kamenew und die anderen anbetrifft, – so hat kein ernster und ehrlicher Mensch geglaubt, dass sie in irgendwelcher Beziehung zu der Ermordung Kirows ständen. Alle – auch in der Sowjetunion – flüsterten sich zu, dass das Ganze eine infame Masche der GPU sei. Um das erste Gerichtsverfahren zu bekräftigen, musste Stalin ein neues und besser vorbereitetes einleiten.

2. Die Komintern existiert und trotz der Wendung zum Opportunismus und Chauvinismus trägt sie in den Augen der bürgerlichen Öffentlichkeit die Verantwortung für jede revolutionäre Bewegung. Die IV. Internationale ist dabei öfters als eine Filiale der III. hingestellt worden. Stalin bemühte sich mit allen Kräften – erinnern Sie sich an sein Gespräch mit Laval – nachzuweisen, dass die Komintern kein revolutionäres Instrument mehr ist. Man glaubte ihm aber nicht so leicht aufs Wort. Um seinen Kredit bei der französischen Bourgeoisie zu festigen, hielt er es für zweckmäßig, gegen die linke Opposition mit blutigen Maßnahmen vorzugehen.

3. Er kann aber auch auf die Komintern nicht verzichten. Der sogenannte „Trotzkismus", d. h, die Entwicklung und Fortsetzung der Ideen von Marx und Lenin, greift immer mehr um sich, auch in den Reihen der Komintern. Sehr wichtige Erscheinungen dieser Art sind in Frankreich, der Tschechoslowakei und anderen Ländern festzustellen. Daher ist es für Stalin, d. h. seine politische Autorität bei den Arbeitern eine Lebensfrage den „Trotzkismus" zu „vernichten". Durch Argumente? Das ist nicht sein Beruf. Was er hat, ist der Apparat, der ihm die Möglichkeit gibt, falsche Prozesse zu inszenieren Somit soll die Anklage Stalins Ansehen gleichzeitig bei der verbündeten Bourgeoisie wie unter den revolutionären Arbeitern festigen.

Dieses widerspruchsvolle Doppelspiel ist ein Zeichen für die innere Unnahbarkeit der ganzen Politik des Stalinismus als der nationalen herrschenden Kaste einerseits der internationalen Arbeiterorganisation (Komintern) andererseits.

Geht man vom Politischen zum Persönlichen über, so muss man noch einen Beweggrund nennen: nämlich das Rachegefühl, das bei Stalin außerordentlich stark ausgeprägt ist. Im Jahre 1924 saßen Stalin, Dserschinski und Kamenew an einem Sommerabend bei einer Flasche Wein (ich weiß nicht ob es die erste war) und plauderten über alle möglichen Dinge, bis sie auf das Thema kamen, was jeder von ihnen am liebsten habe. Ich erinnere mich nicht, was Dserschinski und Kamenew, von dem ich diese Geschichte weiß, genannt haben. Stalin aber sagte: Das Beste im Leben ist, das Opfer richtig auszuwählen, alles gut vorzubereiten, schonungslos Rache zu üben und dann zu Bett zu gehen.

Sie erinnern sich vielleicht, dass Lenin im Jahre 1921 der Partei stark abgeraten hat, Stalin zum Generalsekretär zu wählen. „Dieser Koch", sagte Lenin wörtlich, „würde nur scharfe Speisen zubereiten". Jedenfalls konnte Lenin damals keine blasse Ahnung davon haben, was für eine Schärfe die Speisen dieses Kochs erreichen werden. Sie haben sicherlich nicht vergessen, dass Lenin in seinem „Testament" der Partei riet, Stalin vom Posten des Generalsekretärs abzusetzen, wegen seiner Grobheit und seines Mangels an Loyalität. Diese Charakteristik in einem offiziellen Brief gab nicht den ganzen Gedanken Lenins wieder. Im Herbst 1926 sagte mir Krupskaja in Anwesenheit von Sinowjew und Kamenew: „Wolodja" (das war der Rufname Wladimir, also Lenin) sagte von Stalin: Ihm fehlt die elementarste Ehrlichkeit" und sie wiederholte: „Verstehen Sie? Die einfachste menschliche Ehrlichkeit!" Ich habe noch nie diese Worte veröffentlicht, weil ich der Krupskaja keinen Schaden zufügen wollte. Jetzt aber, wo sie sich hilflos im offiziellen Fahrwasser bewegt und keine Stimme des Protestes gegen die ekelhaften Verbrechen der herrschenden Clique erhebt, halte ich mich für berechtigt, diese Worte Lenins der Öffentlichkeit zu übergeben.

Die Angeklagten, die zugleich als Belastungszeugen aufgetreten sind, begründeten die angeblichen terroristischen Pläne gegen Stalin damit, dass alles in der Sowjetunion mit ihm stehe und falle. Diese Auffassung passt ebenso gut in den Kram der Bürokratie wie der terroristischen Abenteurer. Der allmächtige Bürokrat meint: ich bin alles. Der Terrorist sagt sich über den allmächtigen Bürokraten: er ist alles. Ich wiederhole nochmals: der Terrorist ist nur der rote Schatten des bürokratischen Absolutismus. Was mich anbelangt, ich bin weit davon entfernt zu glauben, Stalin sei alles. Darüber habe ich mich schon genügend ausgesprochen. Der Sieg Stalins über die Opposition war eine soziale Tatsache, keine persönliche. Er bedeutet den Sieg einer neuen herrschenden Kaste über das Proletariat. Für diesen Sieg waren tiefe ökonomische Ursachen in der SU und tiefe politische Ursachen in Westeuropa entscheidend. Stalin ist nur die Spitze der neuen herrschenden Kaste. In seiner brutalen und ignorantenhaften Mittelmäßigkeit bringt er am besten die Hauptzüge der neuen herrschenden Schicht bürokratischer Parvenüs zum Ausdruck.

Eine jämmerliche Dummheit wäre es zu glauben, dass man mit einem Revolver und einer Bombe die große soziale und politische Reaktion in der Sowjetunion aufhalten oder verhindern kann. Der wirkliche Ausweg kann dem russischen Volk nur durch das Weltproletariat eröffnet werden. Wenn die spanische Revolution jetzt siegreich wird, wenn das französ. Proletariat wirklich an die Macht gelangt, wenn ein neuer Wind durch ganz Europa weht, dann wird auch das russische Proletariat sich aufzurecken beginnen und sich seiner eigenen großen Tradition wieder bewusst werden. Dann werden jene bürokratischen Helden, die sich als der Nabel der Welt vorkommen, sehr bald in die Rumpelkammer der Geschichte geworfen werden.

Wenn mich die Herren des Kreml anklagen wollen, dass ich durch meine Schriften dem künftigen Siege des Sowjetvolkes über die reaktionäre Bürokratie diene, so antworte, ich darauf: Ja, dessen bekenne ich mich schuldig!

Hönefoss, 23. VIII. 1936.

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