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Leo Trotzki 19360115 Stalins revolutionäre Gefangene und die Weltarbeiterklasse

Leo Trotzki: Stalins revolutionäre Gefangene und die Weltarbeiterklasse

[Nach Unser Wort. Halbmonatszeitung der IKD, Jahrgang 4, Nr. 4 (68), Mitte Februar 1936, S. 1]

Die In letzter Zeit von den Genossen Tarow und Ciliga veröffentlichten Briefe und Dokumente haben die Aufmerksamkeit für die Unterdrückungsmaßnahmen der Sowjetbürokratie gegen die revolutionären Kämpfer außerordentlich belebt. 18 Jahre nach der Oktoberrevolution, nachdem der offiziellen Doktrin gemäß der Sozialismus in der UdSSR «endgültig und unwiderruflich» gesiegt hat, werden Revolutionäre, die der Sache des Kommunismus vorbehaltlos ergeben sind, aber das Dogma von der Unfehlbarkeit der Stalinschen Clique nicht anerkennen wollen, auf Jahre in den Kerker geworfen, in Konzentrationslager gesteckt, zu Zwangsarbeit genötigt, bei Widerstandsversuchen physischen Quälereien ausgesetzt, bei wirklichen oder angeblichen Fluchtversuchen beschossen, vorsätzlich zum Selbstmord getrieben. Wenn Hunderte von Häftlingen zum Zeichen des Protestes gegen die unerträglichen Verhöhnungen zum furchtbaren Mittel des Hungerstreiks greifen, werden sie gewaltsam ernährt, um sodann in noch schlimmere Bedingungen versetzt zu werden. Wenn einzelne Revolutionäre, die keine anderen Protestmittel finden, sich die Pulsadern durchschneiden, «retten» die Agenten der GPU. d.h. Stalins Agenten, die Selbstmörder, um ihnen dann mit verdoppelter Grausamkeit zu zeigen, dass es für sie keine Rettung gibt.

Einen besonders tragischen Zug bringt in dieses ohnehin schreckliche Bild die Schilderung des Gen. Ciliga, einer der ehemaligen Führer der jugoslawischen Sektion der KI. Die in dieser Partei bestehenden Meinungsverschiedenheiten wären unter allen anderen Bedingungen durch Diskussion, Parteitag, im äußerten Fall durch Spaltung ausgetragen worden. Anders aber in der Komintern. Jener Teil des nationalen ZK, der im gegebenen Moment die Weisungen der Moskauer Clique ausführt, wendet sich an die letztere mit dem Ersuchen, von der Opposition befreit zu werden. Stalin lädt die Oppositionellen nach Moskau ein, wo sie nach einem kurzen «Überzeugungs»-Versuch verhaftet, in Isolatoren gesperrt und sonstigen Strafmaßnahmen unterworfen werden. Unter den Hunderten im «Zusammenhang» mit der Kirowaffäre Hingerichteten, d.h. in der überwiegenden Mehrheit in keinem Zusammenhang mit dieser Affäre Stehenden, wurde eine Reihe von bulgarischen und anderen ausländischen Oppositionellen erschossen. Das Asylrecht für revolutionäre Emigranten ist somit verbünden mit der Verpflichtung für diese, sich jeglichen Rechts auf selbständiges Denken zu begeben. Die Einladung zu einer «Beratung» nach Moskau bedeutet schon an sich eine verräterische Falle. Ist der «Missetäter» nicht zu fassen, ergreift man seine Frau, seine Tochter, seinen Sohn. In diesen Fällen handeln Stalins Agenten nach Methoden, würdig der befähigtsten amerikanischen Gangsters.

Die sogen. kommunistischen Parteien decken nicht nur diese unerhörten Verbrechen der Herren Marschalle und Obermarschalle gegen die Revolutionäre, Verbrechen, an denen die Führer der einzelnen Kominternsektionen direkt beteiligt sind, – die Kominternpresse versucht überdies, die schärfsten Beschuldigungen gegen die Opfer zu verbreiten. Es geht da, man höre nur, nicht um einfache Oppositionelle, nicht ; um Bolschewiki, die über Stalins Alleinherrschaft empört sind oder über den patriotischen Umfall der Komintern. Nein, es geht um «Terroristen», um Verschwörer gegen die geheiligte Person des Führers oder einen der Marschälle, schließlich um Agenten der ausländischen Spionage, um Söldlinge Hitlers oder des Mikados, Sinowjew und Kamenew sind eines furchtbaren Verbrechens überführt: sie haben (in ihren vier Wänden!) die abenteuerlichen Tempi der Kollektivierung kritisiert, die zum sinnlosen Verderben von Millionen Menschen führten. Ein wirklich proletarisches Gericht würde nach Untersuchung der Angelegenheit ohne Zweifel die abenteuerlichen Kollektivierer ins Gefängnis stecken. Das Gericht Stalins und Jagodas hat Sinowjew und Kamenew auf zehn Jahre ins Gefängnis gesteckt … wegen eines terroristischen Aktes, zu dem sie weder die geringste Beziehung hatten noch haben konnten.

Noch vor zwei Jahren haschte die sozialdemokratische, labouristische und tradeunonistische Presse nicht nur nach den wirklichen sondern auch nach den erfundenen Verbrechen der Sowjetbürokratie, um dadurch die Oktoberrevolution im Ganzen zu kompromittieren. Jetzt Ist, wenigstens in Europa, in dieser Hinsicht eine Wendung eingetreten. Die Politik der sozialpatriotischen «Einheitsfront» hat sich zu einer Verschwörung der gegenseitigen Hehlerei umgewandelt. Auch in den Ländern, wo der Bedeutungslosigkeit der kommunistischen Parteien wegen die Einheitsfront nicht besteht, ziehen die reformistischen Parteien vor, sich mit der Kremlspitze nicht zu überwerfen, die ihnen jetzt, wo sie auf ihr Banner die Verteidigung des Völkerbundes und der demokratischen Vaterländer geschrieben, unvergleichlich näher ist als die von ihr verfolgten revolutionären Internationalisten. Als willkommene Rechtfertigung für das Verschweigen der Verbrechen der stalinistischen Bürokratie dient selbstverständlich die «Verteidigung der UdSSR».

In diesem Zusammenhange muss noch auf eine besondere Sorte berufsmäßiger «Freunde» des Kreml hingewiesen werden. Intellektuelle auf der Suche nach Idealen ohne Verlust, Schriftsteller, die die Vorzüge des russischen Staatsverlags zu schätzen wissen reklamesüchtige Advokaten; schließlich Liebhaber von Gratisreisen und Jubiläumsbanketts. Dieses in seiner Mehrheit parasitäre Publikum verbreitet dann bereitwillig in allen Erdteilen jene Erfindungen und Verleumdungen, die die GPU-Agenten ihren «Freunden» während der heroischen Soupers zu Ehren des Oktoberumsturzes einflüstern. Es genügt, nur auf die unwürdige Rolle eines so hervorragenden Schriftstellers wie Romain Rolland hinzuweisen.

Die Verbrüderung der entarteten Kominternspitzen mit den Spitzen der II. Internationale ruft indes auch eine heilsame Reaktion hervor. Einer immer größeren Zahl von fortgeschrittenen Arbeitern gehen die Augen auf. So «sozialistische» Sitten wie das ständige auf-dem-Bauch-Kriechen vor den «Führern», wie die byzantinische Schmeichelei, wie die Schaffung der Kaste «roter» Oberste, Generale und Marschalle, wie der reaktionäre Kult mit der kleinbürgerlichen Familie bis zur Wiedereinführung des Christbäumchens zwingen die denkenden Arbeiter aller Länder zur Mutmaßung, wie tief die herrschende Schicht der Sowjetunion bereits angefault sein muss. Auf den Boden des erwachten kritischen Bewusstseins fallen jetzt die Mitteilungen über die Bestialitäten der Bürokratie gegen jene Revolutionäre, die sich wider ihre geheiligten Vorrechte vergehen, indem sie sich hartnäckig weigern, die Evangelien Dimitrows, Litwinows und des Völkerbundes anzunehmen.

Die Zahl solcher «Missetäter» wächst unaufhörlich. Allein während der letzten Säuberung der herrschenden Partei der UdSSR, (zweite Hälfte 1935) wurden, soweit man aus den offiziellen Ziffern schließen kann, nur an «Trotzkisten» 10-20.000 ausgeschlossen. Alle Ausgeschlossenen dieser Gattung werden nach der allgemeinen Regel unverzüglich verhaftet und in die Bedingungen der zaristischen Katorga versetzt. Diese Tatsachen muss man der Arbeiterklasse der ganzen Welt erzählen.

Gewiss, auch jetzt gibt es im Westen nicht selten Funktionäre der Arbeiterbewegung, die sich ehrlich fragen: werden solche Enthüllungen der Sowjetunion nicht schaden? Besteht nicht die Gefahr, dass das Kind mit dem Bad ausgeschüttet wird? Diese Befürchtungen entbehren jedoch einer ernsten Grundlage. Können die Enthüllungen über die stalinistischen Bestialitäten gegen Revolutionäre der Sowjetregierung in den Augen der bürgerlichen Welt schaden? Im Gegenteil: Die Bourgeoisie, inbegriffen die weiße Emigration, sieht in Stalins Vernichtungsfeldzug gegen die Bolschewiki-Leninisten und die anderen Revolutionäre die beste Gewähr für die «Normalisierung» des Sowjetregimes. Die seriöse und verantwortliche kapitalistische Presse der ganzen Welt klatscht dem Kampf gegen die «Trotzkisten» einmütig Beifall. Kein Wunder: Sitzt doch Litwinow in Genf Seite an Seite mit den Vertretern der Weltreaktion in der Kommission für den Kampf gegen den «Terrorismus». Es geht allerdings nicht um die Bekämpfung des Regierungsterrors gegen die revolutionären Arbeiter, sondern um den Kampf gegen die individuellen Rächer, die sich gegen gekrönte und ungekrönte Unterdrücker wenden. Die Methode des individuellen Terrors verwarfen und verwerfen bekanntlich die Marxisten unversöhnlich. Das hat uns aber nicht gehindert, stets auf Seiten Wilhelm Tells und nicht des österreichischen Despoten Gessler zu sein. Die Sowjetdiplomatie untersucht jetzt hingegen gemeinsam mit den Gessler, wie am besten die Tells auszurotten sind. Durch die Teilnahme an der internationalen Treibjagd gegen die Terroristen ergänzt Stalin aufs Beste seine eigene terroristische Treibjagd gegen die Bolschewiki. Es ist klar dass unsere Enthüllungen in den Augen des Völkerbundes, in den Augen der amerikanischen Regierung, sogar in Hitlers Augen den ohnehin schon starken Kredit Stalins nur festigen können.

Was die reformistische Arbeiterbürokratie in den bürgerlichen Ländern betrifft, besteht ihretwegen ebenso wenig Anlass zu Besorgnis. Der Tatbestand der stalinistischen Unterdrückungsmaßnahmen ist ihr gut bekannt, aber in den letzten zwei Jahren verschweigt sie ihn bewusst und böswillig. In den Augen Leon Blums, Otto Bauers. Sir Citrines, Vanderveldes und Co. werden unsere Enthüllungen jedenfalls nicht die geringste Beeinträchtigung für die Sowjetbürokratie bedeuten. Hier geht es um eine Vernunftsfreundschaft, und diese Freundschaft ist vor allem gegen den linken revolutionären Flügel gerichtet.

Bleiben die Arbeitermassen. In ihrer Mehrheit sind sie der Sowjetunion ehrlich und aufrichtig ergeben, wenn sie auch oft nicht wissen, wie diese Ergebenheit in der Tat auszudrücken. Die Massen finden in dieser Frage umso schwerer den richtigen Weg, als die bürokratischen Apparate auf sie drücken und sie unermüdlich und kunstgerecht betrügen. Die Sache läuft somit auf die einfache Frage hinaus. Dürfen wir unsererseits die Massen betrügen oder sind wir verpflichtet, ihnen die Wahrheit zu sagen? Diese Frage zu stellen bedeutet für einen Marxisten, sie zu beantworten. Die Revolutionäre brauchen keine blinden Freunde oder Weggenossen mit einer Binde vor den Augen. Die Arbeiter sind keine Kinder. Sie sind fähig, zugleich die Grandiosität der Errungenschaften der Oktoberrevolution zu ermessen, wie die Schwere des geschichtlichen Erbes, das sich auf deren Körper zu einer furchtbaren bürokratischen Eiterbeule zusammengeballt hat. Nichts taugt der Revolutionär, der fürchtet, den Massen zu sagen, was ist! Überlassen wir die doppelte Buchhaltung den patriotischen Parlamentariern, den Salonidealisten und Popen. Die «Freunde der UdSSR» und andere Philister werden vielleicht sagen, uns leite «fraktionelle» oder «persönliche» Verbitterung? Natürlich werden sie das sagen. Wir haben aber «Gottseidank!» noch nicht verlernt, die Philister und ihre öffentliche Meinimg zu verachten. Beschönigt man die Gegenwart, kann man die Zukunft nicht vorbereiten. Die Treue zur Oktoberrevolution bedarf der unbarmherzigen Enthüllung und wenn nötig auch der Ausbrennung ihrer Gebreste. Die Unterdrückten brauchen die Wahrheit. Die Arbeiter müssen die ganze Wahrheit über die Sowjetunion kennen, damit die kommenden Ereignisse, sie nicht überrumpeln.

Man muss durch die ganze ehrliche Presse so weit als möglich die Nachrichten über jene verruchten Verfolgungen verbreiten, der makellose Revolutionäre in der Sowjetunion ausgesetzt sind. Die hauptsächliche und nächste Aufgabe ist dabei; Das Los der Zehntausenden Opfer der bürokratischen Rachsucht zu lindern. Man muss ihnen mit allen Mitteln helfen, die sich aus der Lage ergeben und aus dem heißen Wunsch, heroische Kämpfer zu retten. Erfüllen wir diese Aufgabe, dann werden wir zugleich den Werktätigen der UdSSR und der ganzen Welt einen neuen Schritt vorwärts auf dem Wege zu ihrer Befreiung zu machen helfen.

15. Januar 1936.

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