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Leo Trotzki 19360422 Über die Diktatoren und die Höhen von Oslo

Leo Trotzki: Über die Diktatoren und die Höhen von Oslo

(Brief an einen englischen Genossen).

[Nach Unser Wort. Halbmonatszeitung der IKD, Jahrgang 4, Nr. 10 (74), Mitte Mai 1936, S. 3]

Lieber Genosse,

Mit großer Verwunderung habe ich den Bericht über die ILP-Konferenz im «New Leader» vom 17. April 1936 gelesen. Ich hatte mir wirklich keinerlei Illusionen über die pazifistischen Parlamentarier gemacht, die die ILP regieren. Ihre politische Stellungnahme und ihr ganzes Benehmen auf der Konferenz übersteigt aber das Maß, das man ihnen für gewöhnlich zumuten kann. Ich bin sicher, dass Sie und Ihre Freunde ungefähr dieselben Schlussfolgerungen gezogen haben wie wir hier. Trotzdem kann ich aber doch manche Bemerkungen nicht unterlassen.

1) Maxton und die andern meinen, der italo-abessinische Krieg sei ein «Konflikt zwischen zwei gegnerischen Diktatoren» («between two rival dictators»). Diesen Politikern scheint es, als ob diese Tatsache das Proletariat der Pflicht enthebe, zwischen zwei Diktatoren die Wahl zu treffen. Sie bestimmen also den Charakter des Krieges durch die politische Form des Staates, wobei sie selbst diese politische Form ganz oberflächlich und in rein beschreibender Art und Weise nehmen, ohne die sozialen Grundlagen der beiden «Diktaturen» in Betracht zu ziehen. Ein Diktator kann in der Geschichte auch eine sehr fortschrittliche Rolle spielen. Zum Beispiel: Oliver Cromwell, Robespierre usw. Hingegen hat Lloyd George während des Krieges mitten drin in der englischen Demokratie eine höchste reaktionäre Diktatur ausgeübt. Wenn sich im Laufe des nächsten Aufstandes des indischen Volkes ein Diktator an dessen Spitze stellt, um das britische Joch zu zerschmettern, – würde dann Maxton diesem Diktator die Unterstützung verweigern? Ja oder Nein? Wenn nicht, warum verweigert er dann die Unterstützung dem äthiopischen «Diktator», der das italienische Joch abzuwehren versucht.

Siegt Mussolini, so bedeutet dies Kräftigung des Faschismus, Stärkung des Imperialismus und Entmutigung der Kolonialvölker in Afrika und anderswo. Der Sieg des Negus würde jedoch nicht nur für den italienischen, sondern den gesamten Imperialismus einen mächtigen Schlag bedeuten und den rebellischen Kräften der unterdrückten Völker einen gewaltigen Antrieb verleihen. Man muss wirklich vollständig blind sein, um das nicht einzusehen.

2) McGovern stellt das «poor little Abyssinia» von 1935 dem «poor little Belgium» von 1914 gleich: in beiden Fällen bedeute die Unterstützung den Krieg, Nun, das «poor little Belgium» hat 10 Millionen Sklaven in Afrika, während das abessinische Volk darum kämpft, nicht zu italienischen Sklaven zu werden. Belgien war und bleibt ein Glied der europäisch-imperialistischen Kette. Abessinien ist nur ein Opfer der imperialistischen Appetite. Die Gleichstellung der beiden Fälle Ist der reinste Unsinn.

Andererseits bedeutet die Inschutznahme Abessiniens gegen Italien keinesfalls die Ermutigung des britischen Imperialismus zum Krieg. Seinerzeit ist gerade das in manchen Artikeln des «New Leader» ganz gut bewiesen worden. Die Schlussfolgerung McGoverns, die Aufgabe der ILP wäre gewesen «abseits zu bleiben von den Streitigkeiten zwischen Diktatoren» («to stand aside from quarrels between dictators»), Ist ein Musterbeispiel für die geistige und moralische Impotenz des Pazifismus.

3) Das beschämendste kommt jedoch erst nach der Abstimmung. Nachdem die Konferenz mit 70 gegen 57 Stimmen die skandalöse pazifistische Quacksalberei zurückgewiesen hatte, setzte der sanfte Pazifist Maxton der Konferenz den Revolver des Ultimatums in die Brust und erzwang eine neue Entscheidung mit 93 gegen 39 Stimmen. Wir sehen also, dass es Diktatoren nicht nur In Rom und Addis Abeba. sondern auch In London gibt. Und von den drei Diktatoren halte ich denjenigen für den schädlichsten, der die eigene Partei Im Namen seines parlamentarischen Prestiges und seiner pazifistischen Konfusion an der Gurgel packt. Eine Partei, die ein ähnliches Benehmen duldet, ist keine revolutionäre Partei: denn wenn sie vor den Rücktrittsdrohungen eines Maxton ihre prinzipiellen Positionen in einer höchst wichtigen und aktuellen Frage aufgibt (oder «verschiebt»), so wird sie in schwerer Stunde nie dem unermesslich mächtigeren Druck der Bourgeoisie standhalten.

4) Die Konferenz hat mit überwältigender Mehrheit die Gruppen innerhalb der Partei verboten. Gut! In wessen Namen aber stellte Maxton der Konferenz ein Ultimatum? Im Namen der parlamentarischen Gruppe, die die Parteimaschine als ihr Privateigentum betrachtet und eigentlich die einzige Fraktion darstellt, der man die Achtung vor den demokratischen Entscheidungen der Partei scharf einpauken sollte. Eine Partei, die die oppositionellen Gruppen auflöst, die herrschende Clique aber zügellos schalten und walten lässt, ist keine revolutionäre Partei. Sie wird das Proletariat nicht zum Siege führen können.

5) Die Haltung Fenner Brockways in dieser Frage ist ein höchst belehrendes Beispiel der politischen und moralischen Unstetigkeit des Zentrismus. Es glückte Fenner Brockway, in einer wichtigen Frage einen richtigen Standpunkt einzunehmen, der sich mit dem unsrigen deckt. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass wir Marxisten es mit der Sache wirklich ernst meinen. Für Fenner Brockway hingegen handelt es sich um eine «Nebensächlichkeit». Er meint, für die britischen Arbeiter sei es besser. Maxton als Chairman mit einem falschen Gesichtspunkt als einen richtigen Gesichtspunkt ohne Maxton zu haben. Das Verhängnis des Zentrismus ist eben, das Nebensächliche ernst und das Ernste nebensächlich zu betrachten. Daher ist der Zentrismus niemals ernst zu nehmen.

6) In der Frage der Internationale hat man trotz des offenkundigen Bankrottes der früheren Perspektive die alte Konfusion von neuem besiegelt. Man spricht allerdings nicht mehr von der «Einladung» seitens der III. Internationale. Man erkennt wenigstens in Worten das Versagen der beiden Internationalen an. Aber der Zentrist nimmt nichts ernst. Auch wenn er jetzt zugibt dass es keine proletarische Internationale mehr gibt, so weigert er sich doch, eine aufzubauen. Warum? Weil er keine Prinzipien hat. Weil er sie nicht haben kann. Denn macht er nur einmal einen schüchternen Versuch, nur In einer wichtigen Frage eine prinzipielle Stellung einzunehmen. so bekommt er gleich ein Ultimatum von rechts und muss klein beigeben. Wie kann er unter diesen Umständen an ein abgeschlossenes revolutionäres Programm denken? Seine geistige und moralische Hilflosigkeit bringt er dann In dem tiefen Aphorismus zum Ausdruck, dass die neue Internationale «von der Entwicklung der sozialistischen Bewegungen» («from the development of Socialist movements») kommen soll, das heißt von dem geschichtlichen Prozess, der die Sache doch einmal zustande bringen muss. Dieser zweifelhafte Bundesgenosse hat aber verschiedene Wege: er hat es sogar zustande gebracht, die Leninsche Internationale auf das Niveau der Zweiten herunterzubringen. Proletarische Revolutionäre sollen daher ihre eigenen Wege einschlagen, d.h. das Programm der neuen Internationale mitarbeiten und. sich auf die günstigsten Tendenzen des geschichtlichen Prozesses stützend, diesem Programm dann zur Geltung zu verhelfen.

7) Fenner Brockway hat. nach der traurigen Kapitulation vor Maxton. seinen Wagemut dann im Kampf Kampf gegen den Unterzeichneten wiedergefunden.

Er, Brockway, könne nicht annehmen, dass man von «Oslos Höhen» eine neue Internationale aufbaue. Ich lasse beiseite, dass ich nicht in Oslo lebe und dass Oslo außerdem gar nicht auf Höhen liegt. Die Prinzipien, die ich mit vielen tausenden Genossen verfechte, tragen absolut keinen lokalen oder geographischen Charakter. Sie sind marxistisch und international. Sie sind in Thesen Broschüren und Büchern formuliert, auseinandergesetzt und verteidigt. Findet Fenner Brockway diese Prinzipien falsch, so soll er ihnen die seinigen gegenüberstellen. Wir sind immer bereit, uns des besseren belehren zu lassen. Doch leider kann sich Fenner Brockway auf dieses Gebiet nicht begeben, denn das ach so winzige Bündel von Prinzipien hat er soeben an Maxton ausgeliefert. Daher bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich über die «Höhen von Oslo» lustig zu machen, wobei er gleich einen dreifachen Fehler begeht: in Bezug auf meine Adresse, auf die Topographie der norwegischen Hauptstadt und, last but not least, auf die Grundsätze der internationalen Aktion.

Meine Schlussfolgerungen? Die Sache der ILP scheint mir hoffnungslos zu sein. Die 39 Delegierten, die trotz des Versagens der Fenner Brockway-Fraktion dem Ultimatum Maxtons nicht nachgegeben haben, müssen Wege suchen, um für das britische Proletariat eine wirklich revolutionäre Partei vorzubereiten. Sie kann nur unter dem Banner der IV. Internationale stehen.

22. April 1936

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