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Leo Trotzki 19370617 Die Enthauptung der Roten Armee (Langfassung)

Leo Trotzki: Die Enthauptung der Roten Armee

[Nach Stalins Verbrechen, Berlin 1973, S. 331-347]

Ist es noch nötig, in Details zu wühlen, die Prozessberichte den Buchstaben nach zu prüfen, Widerlegungen zu sammeln, die Fälschungen einer mikroskopischen Analyse zu unterziehen? Stalin widerlegt sich selbst mit unvergleichlich massiveren Argumenten. Jeder Tag bringt sensationelle Nachrichten aus der UdSSR, die davon zeugen, dass das Regime von der letzten Krise erfasst ist, die man Agonie nennen könnte, wenn diese Analogie mit lebendigen Organismen nicht die Vorstellung von zu kurzen Fristen erwecken würde.

Die „alte Garde", in deren Namen im Jahre 1923 der Kampf gegen den „Trotzkismus" begann, ist politisch längst liquidiert. Ihre physische Vernichtung wird jetzt im Stalinschen Stile vollendet, der sadistische Grausamkeit mit bürokratischem Pedantismus vereinigt. Es wäre jedoch zu oberflächlich, die mörderischen und selbstmörderischen Maßnahmen Stalins allein mit Herrschsucht, Grausamkeit, Rachsucht und anderen persönlichen Eigenschaften zu erklären. Stalin hat schon längst die Kontrolle über die eigene Politik verloren. Die Bürokratie insgesamt hat die Kontrolle über die eigenen Selbstverteidigungsreflexe verloren. Die neuen Verfolgungen, die alle Grenzen des Fassbaren überschritten haben, werden ihr durch die Progression der alten Verfolgungen aufgezwungen. Ein Regime, das vor den Augen der ganzen Welt eine Fälschung nach der anderen inszenieren, den Kreis seiner Opfer automatisch erweitern muss, ein solches Regime ist dem Untergang geweiht.

Nach den gemachten Erfahrungen ist Stalin bereits gezwungen, auf „öffentliche" Prozesse zu verzichten. Offiziös wird dieser Verzicht damit motiviert, dass vor dem Lande „wichtigere Aufgaben" stehen. Unter dieser Parole bekämpfen im Westen die „Freunde" den Gegenprozess. Inzwischen werden in verschiedenen Teilen der UdSSR immer neue Herde „des Trotzkismus, der Sabotage und Spionage" entdeckt. Im Fernen Osten sind, nach den veröffentlichten Angaben, seit Anfang Mai dreiundachtzig „Trotzkisten" erschossen worden. Die Arbeit geht weiter. Weder über den Verlauf der Prozesse noch sogar über die Namen der Opfer bringt die Presse etwas. Wer sind die Erschossenen? Einen gewissen Prozentsatz stellen wahrscheinlich wirkliche Spione: im Fernen Osten ist an ihnen kein Mangel. Der andere Teil wird aus Oppositionellen, Unzufriedenen, Unbequemen gewählt. Einen dritten Teil bilden Agents provocateurs, die als Verbindung zwischen den „Trotzkisten" und den Spionen gedient haben und damit zu gefährlichen Zeugen geworden sind. Aber es gibt noch einen vierten Teil, der immer mehr anwächst: das sind die Verwandten, Freunde, Untergebenen, Bekannte der Erschossenen, Menschen, die von den Fälschungen wissen und in der Lage sind, wenn nicht zu protestieren, so doch von Stalins Verbrechen anderen Menschen zu erzählen.

Was sich unten, besonders in den Randgebieten, abspielt, wo die Morde anonymen Charakter tragen, kann man nur an dem ermessen, was oben geschieht. Stalin ist es seinerzeit nicht gelungen, einen öffentlichen Prozess gegen Bucharin und Rykow zu inszenieren, weil die Angeklagten sich weigerten, „Reuebekenntnisse" abzulegen. Man ist gezwungen, ihre Erziehung fortzusetzen. Nach einigen Nachrichten sind Rykow und Bucharin, das ehemalige Haupt der Regierung und das ehemalige Haupt der Komintern, zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden, hinter geschlossenen Türen, wie im Juli 1935 – zwischen zwei Prozesskomödien – Kamenew hinter geschlossenen Türen zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Schon allein diese Gegenüberstellung drängt die Schlussfolgerung auf, dass das Urteil über Rykow und Bucharin kein endgültiges ist. Die von dem unverschämten Analphabeten Mechlis, einem früheren Privatsekretär Stalins, geleitete Presse fordert die „Ausrottung" der Feinde des Volkes. Das Erstaunlichste - wenn man sich den Luxus des Staunens noch leisten darf – ist fast die Tatsache, dass Rykow und Bucharin heute „Trotzkisten" genannt werden, wo doch die Hauptschläge der linken Opposition sich stets und unabänderlich gegen den rechten Flügel gerichtet hatten, den Rykow und Bucharin repräsentierten. Anderseits hatte im Kampfe gegen den Trotzkismus nur Bucharin so etwas wie eine Doktrin geliefert, auf die sich Stalin während einer Reihe von Jahren stützte – soweit er sich überhaupt auf irgendeine Doktrin stützt. Es stellt sich jetzt heraus, dass Bucharins unzählige Artikel und Bücher gegen den Trotzkismus, an denen der gesamte Apparat der Komintern erzogen wurde, nur zur Verschleierung seiner geheimen Arbeit mit den Trotzkisten auf dem Boden des Terrors dienten, wie dem Bischof von Canterbury die kirchlichen Funktionen nur zur Maskierung seiner atheistischen Propaganda dienen. Aber wer kümmert sich heute um solche Lappalien! Jene, die die Vergangenheit kennen, sind ausgerottet oder aus Angst vor der Ausrottung zum Schweigen gezwungen. Die Mietlinge der Komintern, die vor einigen Jahren vor Bucharin auf allen Vieren krochen, fordern jetzt, dass man ihn als „Trotzkisten" und Feind des Volkes kreuzige.

Revolutionäre Epochen schweißen die Volksmassen zusammen. Umgekehrt bedeuten reaktionäre Perioden den Sieg der Zentrifugalkräfte. Während der letzten 14 Jahre ist nicht ein Riss in der bolschewistischen Partei ausgebessert worden, nicht eine Wunde vernarbt, nicht ein Konflikt durch Versöhnung aus der Welt geschafft worden. Kapitulationen und Erniedrigungen haben nichts genützt. Die Zentrifugalkräfte verbreiterten jeden Spalt, bis sie ihn zu einer unüberwindlichen Kluft gestalteten. Wer nur mit dem kleinen Finger in den Spalt geriet, war unwiderruflich verloren.

Mit der „alten Garde", das heißt mit den Bolschewiken aus der Zeit der zaristischen Illegalität ist im wesentlichen Schluss gemacht worden. Jetzt ist der Mauser der GPU auf die nächste Generation gerichtet, die ihren Aufstieg mit dem Bürgerkrieg begann. Allerdings haben schon in den früheren Prozessen neben den alten Bolschewiki jüngere Angeklagte figuriert. Jedoch waren es Hilfsfiguren, die man für die Abrundung des Amalgams nötig hatte. Die Überprüfung der Vierzigjährigen, das heißt der Generation, die Stalin half, die alte Garde zu erledigen, bekommt nun systematischen Charakter. Jetzt geht es bereits nicht mehr um zufällige Figuren, sondern um Sterne zweiter Größe.

Postyschew war dank seiner eifrigen Beteiligung an dem Kampfe gegen den Trotzkismus zum Posten des Sekretärs des ZK aufgestiegen. In der Ukraine unternahm er im Jahre 1933 eine Säuberung des Partei- und Staatsapparates von „Nationalisten" und trieb mit seiner Hetze wegen „Begönnerung der Nationalisten" den ukrainischen Volkskommissar Skrypnik zum Selbstmord. Diese Tatsache hat die Partei um so mehr verblüfft, als ein Jahr zuvor der sechzigste Geburtstag Skrypniks, eines alten Bolschewiken, Mitglied des ZK und hundertprozentigen Stalinisten, in Charkow und in Moskau feierlich begangen wurde. Im Oktober 1933 schrieb ich aus diesem Anlasse: „ … Die Tatsache, dass das Stalinsche System solcher Opferungen bedarf, beweist, von welch scharfen Gegensätzen es sogar auf der obersten Spitze zerrissen wird." („Bulletin der Opposition", Nr. 36/37.) Vier Jahre später zeigte es sich, dass Postyschew, der nach seinen Heldentaten als Diktator in der Ukraine belassen wurde, sich der Begönnerung der Nationalisten selbst schuldig gemacht hatte; als in Ungnade gefallener Würdenträger wurde er vor kurzem ins Wolgagebiet versetzt. Man kann annehmen: nicht für lange. Nicht nur Wunden, auch Kratzer vernarben nicht mehr. Ob Postyschew zum Selbstmord greifen oder Reuebekenntnisse über nicht begangene Verbrechen ablegen wird, Rettung gibt es für ihn in keinem Falle. In Weißrussland erschoss sich der Vorsitzende des Zentralexekutivkomitees, Tscherwjakow. In seiner Vergangenheit war er mit den Rechten verbunden, hatte sich aber schon vor langer Zeit öffentlich dem Kampfe gegen sie angeschlossen. Der offizielle Bericht sagt verschämt, Tscherwjakow, der nach der Konstitution gleiche Rechte wie Kalinin besitzt, habe Selbstmord aus „Familiengründen" begangen. Stalin hat sich also doch nicht entschließen können, ein Haupt der UdSSR als deutschen Agenten zu bezeichnen Doch gleichzeitig mit diesem Selbstmord wurden in Minsk die Volkskommissare Weißrusslands verhaftet, die mit Tscherwjakow eng verbunden waren. Ebenfalls aus „Familiengründen"? Betrachtet man die Bürokratie als eine „Familie", dann kann man allerdings sagen, dass sich diese Familie im Stadium der Verwesung befindet.

Viel erstaunlicher (wenn man sich wiederum das Staunen gestatten darf) ist die Sternenbahn Jagodas, der in den letzten zehn Jahren Stalins nächste Person war. Keinem einzigen Mitgliede des Politbüros vertraute Stalin jene Geheimnisse an, die er dem Chef der GPU anvertraute. Dass Jagoda ein Lump ist, wussten alle. Aber erstens unterschied er sich nicht sonderlich von manchen seiner Kollegen. Zweitens brauchte ihn Stalin gerade in der Eigenschaft eines vollendeten Lumpen für die Ausführung der dunkelsten Aufträge. Der ganze Kampf gegen die Opposition, der eine Kette wachsender Falsifikationen und Fälschungen darstellt, wurde unter Jagodas Leitung nach unmittelbaren Direktiven Stalins durchgeführt. Und dieser Hüter des Staates, der die ältere Generation der Partei mit der Wurzel ausgerottet hat, erweist sich als Gangster und Verräter. Er wird verhaftet. Legt er Reuebekenntnisse ab nach dem von ihm ausgearbeiteten Ritual? Sein Schicksal wird es nicht ändern. Indes stellt die Weltpresse mit ernster Miene Erwägungen darüber an, ob Jagoda mit den … Trotzkisten in Verbindung gestanden habe. Warum auch nicht? Wenn Bucharin den Trotzkismus theoretisch erledigte, so konnte Jagoda die Trotzkisten physisch erledigen, um so seine Verbindung mit ihnen besser zu maskieren. Aber die aller seltsamsten Dinge gehen im Kriegsministerium vor, und zwar an seiner allerhöchsten Spitze. Nachdem Stalin die Partei und den Sowjetapparat enthauptet hatte, ging er an die Enthauptung der Armee.

Am 11. Mai wurde der ruhmreiche Marschall Tuchatschewski seines Postens als Stellvertretender Volkskommissar für Landesverteidigung plötzlich enthoben und auf einen kleinen Posten in die Provinz versetzt. In den folgenden Tagen wurden die Kommandierenden der Militärbezirke und einige hervorragende Generale versetzt. Diese Maßnahmen verhießen nichts Gutes. Am 16. Mai wurde ein Dekret veröffentlicht, das die Militärischen Sowjets an der Spitze der Bezirke, in der Flotte und der Armee wieder herstellt. Es war klar, die regierende Spitze trat in einen ernsten Konflikt mit dem Offizierskorps. „Revolutionäre Militärsowjets" wurden von mir während des Bürgerkrieges eingeführt. Ein Sowjet bestand aus dem Kommandierenden und zwei, manchmal drei politischen Mitgliedern. Obwohl der Chef formell die absoluten Kommandorechte besaß, hatten doch seine Befehle ohne die Unterschrift der politischen Sowjetmitglieder keine Kraft. Die Notwendigkeit dieser Rückversicherung, die als ein vorübergehendes Übel betrachtet wurde, ergab sich aus dem Mangel an einem zuverlässigen Kommandobestand und dem Misstrauen der Soldaten auch zu den loyalen Kommandeuren. Die allmähliche Formierung eines roten Offizierskorps sollte mit den Sowjets ein Ende machen und das auf dem militärischen Gebiet unvermeidliche Prinzip der Einzelleitung wieder herstellen. Frunse, der mich im Jahre 1925 als Haupt des Kriegskommissariats ablöste, führte die Einzelleitung im beschleunigten Tempo durch. Den gleichen Weg ging dann Woroschilow. Der Sowjetstaat hatte, sollte man meinen, Zeit genug, einen zuverlässigen Offiziersbestand zu erziehen und die lästige Notwendigkeit, den Kommandeur durch einen Kommissar zu kontrollieren, abzuschaffen. Es kam aber anders. Am Vorabend des zwanzigsten Jubiläums der Revolution, als die Moskauer Oligarchie daran ging, den Kommandobestand zu zerschlagen, hielt sie es für nötig, das Kollegiumprinzip in der Armee wieder einzuführen. Die neuen militärischen Sowjets heißen nicht mehr „revolutionäre". Und in der Tat, sie haben mit ihrem Urbild nichts gemein. Die Militärischen Sowjets des Bürgerkrieges sicherten der revolutionären Klasse die Kontrolle über die Kriegstechniker, die einer feindlichen Klasse entstammten. Die Sowjets von 1937 haben die Aufgabe, der Oligarchie, die sich über die revolutionäre Klasse erhoben hat, zu helfen, die von ihr usurpierte Macht gegen Attentate seitens ihrer eigenen Marschälle und Generale zu schützen.

Nach der Absetzung Tuchatschewskis fragte sich jeder Eingeweihte: wer wird nunmehr die Sache der Landesverteidigung leiten? Der an Tuchatschewskis Stelle berufene Marschall Jegorow, ein Oberstleutnant aus dem großen Kriege, ist eine verschwommene Mittelmäßigkeit. Der neue Stabschef, Schaposchnikow, ist ein gebildeter und gewissenhafter Offizier der alten Armee, jedoch ohne strategische Begabung und ohne Initiative. Woroschilow? Es ist kein Geheimnis, dass der „alte Bolschewik" Woroschilow – nur eine dekorative Figur ist. Bei Lenins Lebzeiten war es keinem in den Sinn gekommen, ihn in das Zentralkomitee aufzunehmen. Während des Bürgerkrieges bewies Woroschilow neben unbestreitbarem persönlichem Mut einen völligen Mangel an militärischen und administrativen Qualitäten und außerdem hinterwäldlerische Enge des Horizonts. Seine einzige Legitimation für den Posten eines Mitgliedes des Politbüros und des Volkskommissars für Landesverteidigung besteht darin, dass er schon in Zarizyn, im Kampfe gegen das Kosakentum, eine Stütze der Stalinschen Opposition gegen jene Kriegspolitik war, die den Sieg im Bürgerkriege gesichert hat. Weder Stalin noch die übrigen Mitglieder des Politbüros haben sich übrigens je Illusionen in Bezug auf Woroschilow als einen militärischen Führer gemacht. Sie waren deshalb bestrebt, ihn durch qualifizierte Mitarbeiter zu stützen. Die wirklichen Leiter der Armee waren in den letzten Jahren zwei Männer gewesen: Tuchatschewski und Gamarnik.

Weder der eine noch der andere gehörten zur alten Garde. Beide haben sich im Bürgerkriege ausgezeichnet, nicht ohne die Beteiligung des Autors dieser Zeilen. Tuchatschewski hat zweifellos hervorragende strategische Begabung bewiesen. Es fehlte ihm jedoch die Fähigkeit, eine militärische Situation allseitig einzuschätzen. Seine Strategie zeigte stets ein Element von Abenteurertum. Auf diesem Boden hatten wir einige Zusammenstöße, übrigens der Form nach absolut freundschaftliche. Ich musste auch Kritik üben an den Versuchen Tuchatschewskis, mit Hilfe elementarer Formeln des Marxismus, die er sich in aller Eile angeeignet hatte, eine „neue Kriegsdoktrin" zu schaffen. Man darf jedoch nicht vergessen, dass Tuchatschewski damals sehr jung war und einen zu großen Sprung gemacht hatte: aus den Reihen des Gardekorps in das Lager des Bolschewismus. Seit jener Zeit hat er offenbar fleißig gelernt, wenn nicht Marxismus (das lernt heute in der UdSSR keiner), so doch das Kriegshandwerk. Er hat gelernt, die neue Technik zu verstehen und spielte, nicht ohne Erfolg, die Rolle des „Mechanisators" der Armee. Ob es ihm gelungen war, das notwendige innere Gleichgewicht zu gewinnen – ohne das es überhaupt keinen großen Heerführer geben kann –, hätte nur ein neuer Krieg beweisen können, in dem Tuchatschewski die Rolle des Generalissimus im Voraus zugewiesen war.

Jan Gamarnik, der aus einer jüdischen Familie in der Ukraine stammt, hat sich schon während des Bürgerkrieges durch politische und administrative Fähigkeiten ausgezeichnet, allerdings in provinziellem Maßstabe. Im Jahre 1924 hörte ich über ihn, als einen ukrainischen „Trotzkisten". Meine persönlichen Beziehungen zu ihm waren bereits abgebrochen. Die damals in der Partei führende „Troika" (Sinowjew-Stalin-Kamenew) war vor allem bemüht, die fähigen Trotzkisten aus ihrer gewohnten Umgebung zu reißen, sie an neue Orte zu versetzen und womöglich durch Perspektiven einer Karriere zu bestechen. Gamarnik wurde aus Kiew nach dem Fernen Osten gesandt, wo er die administrative Leiter schnell emporstieg und mit dem „Trotzkismus" bereits im Jahre 1925 radikal brach, das heißt zwei bis drei Jahre vor der Kapitulation der angesehensten Angeklagten der letzten Prozesse. Als die „Umerziehung" Gamarniks abgeschlossen war, holte man ihn nach Moskau und stellte ihn an die Spitze der politischen Verwaltung der Armee und Flotte. Zehn Jahre lang bekleidete Gamarnik verantwortliche Posten, in der Mitte des Parteiapparates und in täglicher Zusammenarbeit mit der GPU – ist es denkbar, unter solchen Bedingungen zwei politische Linien zu verfolgen: die eine für die Außenwelt, die andere geheim? Mitglied des ZK und höchster Vertreter der regierenden Partei in der Armee, war Gamarnik wie Tuchatschewski Fleisch vom Fleische und Blut vom Blute der regierenden Kaste. Warum aber sind diese beiden Führer der bewaffneten Macht vor die Kugel geraten? Sinowjew und Kamenew gingen zugrunde, weil sie dank ihrer Vergangenheit gefährlich schienen und hauptsächlich weil Stalin durch ihre Erschließung hoffen konnte, dem „Trotzkismus" einen tödlichen Schlag zu versetzen. Pjatakow und Radek, frühere angesehene Trotzkisten, waren die einzigen passenden Figuren für einen neuen Prozess, der die Fehler des ersten, zu plumpen Gebräus korrigieren sollte. „Weder Tuchatschewski noch Gamarnik waren für diese Aufgaben geeignet. Tuchatschewski war niemals Trotzkist gewesen. Gamarnik hat den Trotzkismus in einer Periode gestreift, als sein Name noch völlig unbekannt war. Warum aber hatte Radek den Befehl, während der gerichtlichen Untersuchung Tuchatschewskis Namen zu nennen? Und warum geriet Gamarnik sofort nach seinem geheimnisvollen Tode in die Liste der „Feinde des Volkes"? Als Erzieher des Kommandokorps und zukünftiger Generalissimus musste Tuchatschewski um die begabten Heeresführer sehr besorgt sein. Putna war einer der hervorragendsten Offiziere des Generalstabs. Vielleicht hatte ihn Tuchatschewski tatsächlich zu Radek gesandt, um irgendwelche Auskünfte zu holen. Radek war der Offiziosus der Außenpolitik, Putna – Militärattaché" in England. Tuchatschewski konnte durch Putna irgendwelche Nachrichten von Radek erhalten, wie Stalin nicht selten für seine Reden und Interviews Informationen von Radek benutzte. Es ist allerdings auch möglich, dass diese ganze Episode freie Erfindung ist, wie so vieles andere. Die Sache ändert es nicht. Tuchatschewski hat wahrscheinlich für Putna wie für andere Offiziere, die die GPU in ihr Amalgam hineinzog, interveniert. Man musste ihm eine Lehre erteilen. Was war dabei die Rolle Woroschilows? Seine Verbindung mit Stalin hat bis jetzt Woroschilows Politik stärker bestimmt als die Verbindung mit der Armee. Außerdem hat Woroschilow, ein beschränkter und unberechenbarer Mensch, nicht anders als feindselig auf seinen zu begabten Stellvertreter zu blicken vermocht. Dies kann der Beginn des Konfliktes gewesen sein.

Gamarnik nahm leitenden Anteil an allen Säuberungen in der Armee und machte alles, was man von ihm verlangte. Doch hat es sich früher wenigstens um Oppositionelle, Unzufriedene, Verdächtigte gehandelt, folglich um Interessen des „Staates". Im letzten Jahre jedoch stellte sich die Notwendigkeit heraus, aus der Armee ganz schuldlose Menschen hinauszuwerfen, die durch irgendwelche alte Verbindungen, durch ihr Amt oder einfach zufällig zur Organisierung einer neuen Justizfälschung gebraucht wurden. Mit vielen dieser Kommandeure waren Gamarnik wie Tuchatschewski durch Bande der Kameradschaft und der Freundschaft verbunden. Als Chef der PUR (politische Verwaltung der revolutionären Sowjets) war Gamarnik verpflichtet, seine Mitarbeiter nicht nur Wyschinski auszuliefern, sondern sich auch an der Fabrikation falscher Beschuldigungen gegen sie zu beteiligen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er mit der GPU einen Kampf aufgenommen und sich über Jeschow bei … Stalin beschwert hat. Dies schon allein kann ihn vor die Kugel gebracht haben. Von Interessen der Landesverteidigung bewegt, können sich Kommandierende der Militärbezirke wie überhaupt verantwortliche Generale für Tuchatschewski eingesetzt haben. Der Wirrwarr der Versetzungen und Verhaftungen während des Monats Mai und der ersten Junitage lässt sich nur mit der Panik in den regierenden Kreisen erklären. Am 31. Mai erschoss sich Gamarnik – oder wurde erschossen. Die Kommandierenden der Militärbezirke hatten kaum Zeit, die neuen Bestimmungsorte ihrer Versetzungen zu erreichen, als sie schon verhaftet und vor Gericht gestellt waren. Man verhaftete: den eben nach Samara versetzten Tuchatschewski, den eben nach Leningrad versetzten Jakir, den Kommandierenden des Weißrussischen Militärbezirks, Uborewitsch, den Chef der Kriegsakademie, Kork, den Chef der Personalverwaltung der Armee, Feldmann, den Chef der Osoaviachim, Eidemann, kurze Zeit vorher den früheren Militärattaché" in Japan und England, Putna, und den Kavalleriegeneral Primakow. Alle acht wurden zum Tode verurteilt und erschossen. Die Armee muss sich bis ins Mark erschüttert gefühlt haben. Von der Legende umwehte Helden des Bürgerkrieges, begabte Heerführer und Organisatoren, Führer der Armee, gestern noch Stütze und Hoffnung des Regimes – wie und weshalb sind sie umgekommen?

Zwei Worte wollen wir jedem von ihnen widmen. Wenn Tuchatschewski aus einem zaristischen Offizier ein Bolschewik wurde, so wurde Jakir aus einem jungen, tuberkulösen Studenten ein roter Kommandeur. Schon bei den ersten Schritten bewies er Phantasie und Scharfsinn eines Strategen; alte Offiziere betrachteten nicht selten mit Verwunderung den hageren Kommissar, wenn er mit einem Streichholz die Karte absteckte. Seine Ergebenheit für die Revolution und die Partei hat Jakir unmittelbarer beweisen können als Tuchatschewski. Nach Beendigung des Bürgerkrieges studierte er ernst. Die Autorität, die er genoss, war groß und verdient. In eine Reihe mit ihm kann man den weniger glanzvollen, aber ebenso erprobten und zuverlässigen Heerführer des Bürgerkrieges, Uborewitsch, stellen. Diesen beiden war der Schutz der Westgrenze übertragen, Und sie haben sich jahrelang auf ihre Rolle im nächsten großen Krieg vorbereitet. Kork, ein Zögling der zaristischen Kriegsakademie, kommandierte in den kritischen Jahren erfolgreich eine Armee, dann einen Militärbezirk und kam zuletzt an die Spitze der Kriegsakademie, an die Stelle von Eidemann, der zur nächsten Umgebung Frunses gehörte. In den letzten Jahren war Eidemann der Chef der Osoaviachim, die die aktive Verbindung der Zivilbevölkerung mit der Armee verwirklicht. Putna war ein gebildeter, junger General mit internationalem Horizont. In Feldmanns Händen lag die unmittelbare Überwachung des Kommandobestandes; das allein zeigt das Maß des Vertrauens, das er genoss. Primakow war zweifellos nach Budjonny der hervorragendste Chef der Kavallerie. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass in der ganzen Roten Armee kein Name, außer Budjonny, übrig geblieben ist, der sich mit der Popularität, von Begabung und Kenntnissen zu schweigen, mit den Namen dieser plötzlich zu Verbrechern Gestempelten messen könnte. Die Vernichtung der leitenden Spitze der Roten Armee ist demnach mit großer Sachkenntnis durchgeführt worden!

Schärfste Aufmerksamkeit verdient die Organisierung des Gerichts: unter Vorsitz des geringwertigen Beamten Ulrich war eine Gruppe älterer Generale mit Budjonny an der Spitze gezwungen, ihren Kriegskameraden das von Stalins Sekretariat diktierte Todesurteil zu sprechen. Das war eine teuflische Prüfung auf Treue. Die am Leben gebliebenen Heerführer sind durch die Schande, mit der er sie bewusst bedeckt hat, von nun an zu Knechten Stalins geworden. Das System der Intrigen geht indes weiter. Stalin hat Angst nicht nur vor Tuchatschewski, sondern sogar vor Woroschilow. Das beweist insbesondere die Ernennung Budjonnys zum Kommandierenden des Moskauer Militärbezirks. Als alter Kavallerie-Unteroffizier hat Budjonny stets den militärischen Dilettantismus Woroschilows verachtet. In der Periode der gemeinsamen Arbeit in Zarizyn haben sie wiederholt einander mit dem Revolver bedroht. Die hohe Karriere hat die äußeren Formen der Feindschaft abgeschliffen, aber nicht gemildert. Die militärische Macht in der Hauptstadt ist aber jetzt als Gegengewicht gegen Woroschilow Budjonny übertragen. Wer von ihnen in der Liste der Geweihten an der Reihe ist, wird die Zukunft zeigen. Die Beschuldigung gegen Tuchatschewski, Jakir und die anderen, sie wären Agenten Deutschlands gewesen, ist derart dumm und schändlich, dass sie kaum widerlegt zu werden verdient. Stalin hat auch gar nicht gehofft, man würde im Auslande dieser schmutzigen Verleumdung Glauben schenken. Doch hat er auch diesmal durch stark wirkende Argumente die Ermordung der begabten und selbständigen Menschen vor den russischen Arbeitern und Bauern rechtfertigen müssen. Er rechnet auf die hypnotische Wirkung der totalitären Presse und des nicht weniger totalitären Radios.

Welches aber sind die wirklichen Gründe der Ausrottung der besten Sowjetgenerale? Darüber kann man sich nur hypothetisch äußern, auf Grund einer Reihe direkter und indirekter Symptome. In Anbetracht der nahenden Kriegsgefahr konnten die verantwortlichen Kommandeure nicht ohne Sorge die Tatsache betrachten, dass an der Spitze der bewaffneten Kräfte Woroschilow steht. Zweifellos hatte man in diesen Kreisen an dessen Stelle Tuchatschewskis Kandidatur vorgeschoben. In seinem ersten Stadium hat das Generals-„Komplott" wahrscheinlich versucht, sich auf Stalin zu stützen, der schon lange das ihm gewohnte Doppelspiel spielte und den Antagonismus zwischen Tuchatschewski und Woroschilow für seine Zwecke ausnutzte. Tuchatschewski und seine Anhänger haben offenbar ihre Kräfte überschätzt. Im letzten Moment vor die Notwendigkeit der Wahl gestellt, zog Stalin Woroschilow vor, der bis jetzt ein gehorsames Werkzeug war, und verriet Tuchatschewski, der unter Umständen ein gefährlicher Rivale werden konnte. Die in ihren Hoffnungen betrogenen und durch den „Verrat" Stalins gereizten Generale konnten davon gesprochen haben, dass man die Armee überhaupt von der Bevormundung des Politbüros befreien müsste. Von hier bis zur direkten Verschwörung ist es noch weit. Aber unter dem totalitären Regime bedeutet das den ersten Schritt dazu. Wenn man die Vergangenheit der Erschossenen und die Physiognomie jedes einzelnen von ihnen richtig wägt, ist es schwer, anzunehmen, dass sie irgendein gemeinsames politisches Programm verband. Jedoch konnte ein Teil von ihnen mit Tuchatschewski an der Spitze auf dem Gebiete der Landesverteidigung ein eigenes Programm gehabt haben. Man darf nicht vergessen, dass nach Hitlers Machtantritt Stalin alles tat, um die freundschaftlichen Beziehungen mit Deutschland aufrechtzuerhalten. Die Sowjetdiplomaten kargten nicht mit zuvorkommenden Erklärungen an die Adresse des Faschismus, die heute skandalös klingen. Die Philosophie dieser Politik wurde von Stalin geliefert: „Vor allem muss man den Aufbau des Sozialismus in unserem Lande schützen. Faschismus und Demokratie sind Zwillinge und keine Gegensätze. Frankreich wird uns nicht überfallen und die Bedrohung seitens Deutschland kann man durch Zusammenarbeit mit ihm neutralisieren." Auf ein Zeichen von oben waren die Führer der Armee bemüht, freundschaftliche Beziehungen mit den deutschen Militärattachés, Ingenieuren und Industriellen zu unterhalten und ihnen den Gedanken an eine mögliche Zusammenarbeit der beiden Länder einzuflößen Einige der Generale akzeptierten diese Politik um so bereitwilliger, als ihnen die deutsche Technik und die deutsche „Disziplin" stark imponierten. Stalin war jedoch gezwungen, die „freundschaftlichen" Beziehungen mit Deutschland durch ein Defensivbündnis mit Frankreich zu ergänzen. Darauf konnte Hitler nicht eingehen. Er braucht freie Hand in die eine wie in die andere Richtung. Als Antwort auf die Annäherung Moskaus an Paris stieß er Stalin demonstrativ weg. Nach ihm tat es auch Mussolini. Entgegen seinen ursprünglichen Absichten, war Stalin gezwungen, die Philosophie von den „Zwillingen" aufzugeben und Kurs auf eine Freundschaft mit den westlichen „Demokratien" zu nehmen. Im Ministerium des Auswärtigen wurde ein symbolischer Wechsel vorgenommen: der Stellvertreter Litwinows, Krestinski, der frühere Sowjetgesandte in Deutschland, wurde entfernt, an seine Stelle kam Potemkin, der frühere Sowjetgesandte in Frankreich. An der Spitze der Generalität konnte man die Wendung nicht so leicht vollziehen, was im Charakter der Militärkaste, einer zahlreicheren und unbeweglicheren als die der Diplomatie, liegt. Nimmt man an, dass Tuchatschewski tatsächlich bis in die letzten Tage eine progermanische Orientierung vertrat (ich bin davon nicht überzeugt), so jedenfalls nicht als Agent Hitlers, sondern als Sowjetpatriot, aus strategischen und ökonomischen Erwägungen, die noch vor kurzem von Stalin geteilt wurden. Außerdem haben sich einige Generale an die vorangegangenen Freundschaftsbeteuerungen für Deutschland gebunden gefühlt. Da Stalin lange lavierte, bemüht, beide Türen offen zu halten, gab er absichtlich den Generalen kein Signal zum Rückzug. Auf seine Unterstützung rechnend, können die Generale weitergegangen sein, als sie ursprünglich beabsichtigt hatten. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass anderseits Woroschilow, der als Mitglied des Politbüros von der neuen Orientierung rechtzeitig unterrichtet war, absichtlich Tuchatschewski die Militär- und Parteidisziplin überschreiten ließ, um dann mit der ihm eigenen Grobheit plötzlich einen Kurswechsel zu verlangen. Die Frage, ob man mit Deutschland oder mit Frankreich gehen müsse, verwandelte sich in eine Frage, wer die Armee leiten soll: das Politbüro-Mitglied Woroschilow oder Tuchatschewski, der die Blüte des Kommandobestandes hinter sich hatte. Da es keine öffentliche Meinung, keine Partei, keine Sowjets gibt und das Regime die letzten Reste der Elastizität verloren hat, wird jede akute Frage durch den Mauser entschieden. Stalin ging um so williger auf eine blutige Lösung ein, als er, um den neuen internationalen Verbündeten seine Treue zu beweisen, Sündenböcke für jene Politik brauchte, von der er sich gestern losgesagt hatte.

Die Stellung der Generale zur linken Opposition? Gamarnik wurde nach seinem Tode von den Moskauer Zeitungen als „Trotzkist" bezeichnet. Einige Monate zuvor wurde Putna in den Prozessen Sinowjew und Radek als „Trotzkist" erwähnt. Die anderen hat niemand mit diesem schrecklichen Namen belegt, weder vor dem Prozess noch, wie anzunehmen ist, im Prozess, denn sowohl Richter wie Angeklagte brauchten hinter verschlossenen Türen keine Komödie zu spielen. Von der Umwandlung Tuchatschewskis, Jakirs, Uborewitschs, Eidemanns und der anderen in „Trotzkisten" hielt ab nicht nur das Fehlen jeglicher äußerer Anhaltspunkte, sondern auch der Wunsch, die Macht des Trotzkismus in der Armee nicht zu sehr aufzubauschen. Dennoch werden einen Tag nach der Hinrichtung im Befehl Woroschilows sämtliche Erschossenen bereits als Trotzkisten tituliert. Wie wir sehen, hat auch die Fälschung ihre Logik: wenn die Generale, wie die Trotzkisten, Deutschland gedient haben, zum Zwecke der „Wiederherstellung des Kapitalismus", so musste Deutschland sie in seinen Interessen vereinigt haben. Außerdem ist „Trotzkismus" schon längst zum Sammelbegriff für all das geworden, was der Ausrottung unterliegt.

Unsere Betrachtungen über die Gründe der Enthauptung der Armee enthalten ein Element der Mutmaßung In den Details, die man nicht so bald erfahren wird, mag die Sache anders geschehen sein. Doch ist der politische Sinn der neuen Schlächterei schon jetzt klar. Wenn Stalin die Generale hätte retten wollen, so hätte er die Möglichkeit gehabt, ihnen die Rückzugsbrücken rechtzeitig zu öffnen. Aber er wollte nicht. Er fürchtet, Schwäche zu zeigen. Er fürchtet die Armee. Er fürchtet die eigene Bürokratie. Und nicht ohne Grund. Tausende und aber tausende Beamter und Kommandeure, die dem Bolschewismus entstammen oder sich dem Bolschewismus anschlossen, haben Stalin bis vor kurzem auf Treu und Gewissen gestützt. Doch die jüngsten Ereignisse erweckten in ihnen Angst – um das Schicksal des Regimes und um das eigene Schicksal. Jene, die Stalin geholfen haben, aufzusteigen, erweisen sich immer untauglicher dafür, ihn auf der schwindelerregenden Höhe zu halten. Stalin ist gezwungen, die Werkzeuge seiner Herrschaft immer wieder zu erneuern. Und gleichzeitig fürchtet er, dass die erneuerten Werkzeuge an ihre Spitze einen anderen Führer stellen könnten.

Besonders scharf steht diese Gefahr in Bezug auf die Armee. Wenn eine Bürokratie sich von der Kontrolle des Volkes befreit, dann strebt die Militärkaste unvermeidlich danach, sich von der Vormundschaft der Zivilbürokratie zu befreien. Der Bonapartismus hat stets die Tendenz, die Form der offenen Herrschaft des Säbels anzunehmen. Unabhängig von den wirklichen oder angeblichen Ambitionen Tuchatschewskis, muss das Offizierskorps immer mehr vom Bewusstsein seiner Überlegenheit über die Diktatoren im Zivilrock durchdrungen werden. Anderseits muss Stalin einsehen, dass die Polizeiherrschaft über das Volk, die er mit Hilfe der Hierarchie der Parteisekretäre ausübt, einfacher und direkter verwirklicht werden kann von einem der „Marschälle" mit Hilfe des Militärapparates. Die Gefahr ist zu evident. Eine Verschwörung hat es zwar noch nicht gegeben, doch steht sie auf der Tagesordnung. Die Schlächterei trug präventiven Charakter. Stalin hat einen „glücklichen" Zufall benutzt, um dem Offizierskorps eine blutige Lehre zu erteilen.

Doch kann man im Voraus sagen, dass diese Lehre niemand zurückhalten wird. Stalin gelang es, die Rolle des Totengräbers des Bolschewismus zu erfüllen, nur weil er selbst – ein alter Bolschewik ist. Diese Deckung hat die Bürokratie nötig gehabt, um die Massen zu ersticken und die Schale der spartanischen Tradition zu zerbrechen. Das Lager des Thermidors ist aber nicht einheitlich. Die Oberschicht der Privilegierten repräsentieren Menschen, die von den Traditionen des Bolschewismus selbst noch nicht ganz frei sind. Auf dieser Zwischenformation: den Postyschews,Tscherwjakows, Tuchatschewskis, Jakirs, von den Jagodas ganz zu schweigen, kann sich das Regime nicht halten. Die nächstfolgende Schicht verkörpern gleichgültige Administratoren, wenn nicht durchtriebene Kanaillen und Karrieristen. Stalin kennt diese Schichtung besser als sonst einer. Deshalb wähnt er, nun, nachdem die Massen erdrosselt sind und die alte Garde ausgerottet ist, läge die Rettung des Sozialismus in ihm allein.

Es handelt sich nicht einfach um persönliche Machtgier oder Grausamkeit. Stalin muss die juristische Festigung seiner persönlichen Macht anstreben, als lebenslänglicher „Führer", als mit allen Vollmachten ausgestatteter Präsident oder schließlich als gekrönter Imperator. Gleichzeitig aber muss er fürchten, dass aus der Mitte der Bürokratie selbst oder vor allem aus der Armee sich gegen seine cäsaristischen Pläne Widerstand erheben kann. Das bedeutet, dass, bevor er – mit oder ohne Krone – stürzt, Stalin vor allem versuchen wird, die besten Elemente des Staatsapparates zu vernichten.

Der Roten Armee hat er jedenfalls einen schrecklichen Schlag zugefügt. Als Folge der neuen Justizfälschung ist sie um einige Köpfe kleiner geworden. Moralisch ist sie bis auf der Grund erschüttert. Die Interessen der Landesverteidigung sind den Interessen der Selbsterhaltung der regierenden Clique geopfert worden. Nach den Prozessen Sinowjew-Kamenew, Radek-Pjatakow bezeichnet der Prozess Tuchatschewski, Jakir usw. den Anfang vom Ende der Stalinschen Diktatur.

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