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Leo Trotzki 19370921 Eine tragische Lehre

Leo Trotzki: Eine tragische Lehre

[Nach Der einzige Weg, Zeitschrift für die Vierte Internationale, Nr. 1 (Dezember 1937), S. 19 f.]

Der Tod Ignaz Reiss' ist eine Tatsache von größer Tragik. Durch seinen Bruch mit der Komintern und der GPU bewies Reiss, dass er ein tapferer Revolutionär war: wusste er doch besser als andere, welche Gefahr der Übertritt aus dem Lager der thermidorianischen Gewalttäter ins Lager der Revolution für ihn bedeutete. Reiss' Handlungsweise konnte nur von hohen ideellen Erwägungen diktiert sein, und schon dadurch allein gebührt seinem Andenken die Achtung jedes denkenden Arbeiters. Aber trotzdem bleibt es ein Rätsel, wie und warum Reiss während der letzten Jahre, als der Thermidor bereits auf der ganzen Linie gesiegt hatte und die Bürokratie vor keinem Verbrechen mehr zurückschreckte, weiter im Dienste der GPU blieb? Die Fäulnis des Stalinismus, die Verlogenheit und Treulosigkeit Stalins sind allen bekannt. Am wenigsten vermögen sich die Mitarbeiter der GPU darüber Illusionen hinzugeben.

Ignaz Reiss hatte beinahe zwanzig Jahre Parteiarbeit hinter sich. Er war also kein Neuling mehr. Zugleich beweist Reiss' Verhalten in den letzten Monaten, dass er außerstande war, sich von persönlichen Bequemlichkeitsrücksichten leiten zu lassen. Karrieristen schließen sich nicht der Vierten Internationale an, die heute meistgehetzte Richtung in der Weltgeschichte. Es naht ein Krieg. Die Internationalisten haben neue Verfolgungen zu erwarten. Reiss musste das sehr wohl wissen. Das besagt, dass er all die Thermidorjahre hindurch die lebendige Seele eines revolutionären Kämpfers zu bewahren verstand. Wie aber konnte er dann so lange in dem Lager der Jagoda, Jeschow, Dimitrow und des Kain Dschugaschwili aushalten?

Reiss wirkte allerdings im Ausland, direkt der kapitalistischen Welt gegenübergestellt. Dieser Umstand machte ihm psychologisch die Zusammenarbeit mit der thermidorianischen Oligarchie leichter. Doch das ist schließlich nicht wesentlich. Reiss musste wissen, was in der UdSSR geschah. Und dennoch bedurfte es der ungeheuerlichen Moskauer Prozesse, und zwar nicht nur des ersten, sondern auch des zweiten, damit sich Reiss zum Bruch entschlösse. Man kann mit Sicherheit voraussetzen, dass es in den Reihen der Bürokratie nicht wenig Menschen von der Geistesverfassung Reiss' gibt. Sie verachten ihr Milieu. Sie hassen Stalin. Aber gleichzeitig fronen sie ohne Ende weiter.

Die Ursache dieses Anpassungsbestrebens liegt im eigentlichen Charakter des Thermidor als einer langsamen, schleichend daherziehenden Reaktion. Der Revolutionär wird allmählich und für ihn selbst unmerklich in eine Verschwörung gegen die Revolution verwickelt. Jedes neue Jahr verstärkt seine Bindung an den Apparat und seine Entfremdung von den Arbeitermassen. Die Bürokratie, besonders die GPU-Bürokratie, lebt in einer künstlichen Atmosphäre, die sie sich selbst schafft. Jedes Zugeständnis auf Kosten des revolutionären Gewissens ist nur eine Vorstufe zu einem weiteren noch schwerer wiegenden Zugeständnis, und erschwert damit den Bruch. Außerdem bleibt die Illusion bestehen, es handle sich um Dienst an der «Revolution». Die Menschen hoffen auf ein Wunder, das morgen die Politik der herrschenden Clique wieder aufs alte Geleise schieben soll, – sie hoffen und fronen weiter.

Man soll auch nicht die gewaltigen äußeren Schwierigkeiten übersehen. Selbst bei voller inneren Bereitschaft, mit der Bürokratie zu brechen, bleibt die auf den ersten Blick unlösbare Frage des Wohin? Innerhalb der UdSSR zieht jedes Abweichen von der herrschenden Clique fast unausweichlich das Verderben nach sich. Stalin ist mit so entsetzlichen Verbrechen befleckt, dass er in jedem, der für diese Verbrechen keine Verantwortung übernehmen will, einen Todfeind erblicken muss. In die Illegalität verschwinden? Für keine Strömung in der Weltgeschichte ist illegale Arbeit je so schwer gewesen wie für die Marxisten in der UdSSR von heute. Arbeit in der Illegalität ist nur möglich, wo es eine aktive Masse gibt. Das ist heute in der UdSSR fast gar nicht der Fall. Wohl hassen die Arbeiter die Bürokratie, aber sie sehen noch keinen neuen Weg. Der Bruch mit der Bürokratie ist daher, politisch und praktisch, ganz außergewöhnlich schwierig. Das ist die Hauptursache sowohl der lauten Reueerklärungen wie der stillen Zugeständnisse auf Kosten des Gewissens.

Für die Sowjetfunktionäre im Ausland ist die Schwierigkeit eine andere, aber keine geringere. Die Agenten, die eine geheime Arbeit verrichten, leben gewöhnlich mit von der GPU gelieferten falschen Pässen. Mit Moskau brechen, heißt für sie nicht bloß, in der Luft hängen bleiben, sondern durch Denunziation von Seiten der GPU sofort der ausländischen Polizei in die Hände fallen. Was tun? Eben diese ausweglose Lage ihrer Vertreter nützt die GPU aus, um sie zu immer neuen Verbrechen zu zwingen. Die Auslands-GPU verfügt außerdem über eine mächtige Agentur zweiter und dritter Ordnung, die zu neun Zehnteln aus Karrieristen der Komintern, russischen Weißgardisten und überhaupt aller Art Halunken besteht, die bereit sind, auf das erste Signal hin zu morden, wen man ihnen zu morden befiehlt, und besonders den, der ihnen mit seinen Enthüllungen das Leben versalzen könnte. Nein, es ist nicht leicht, den Krallen der GPU zu entrinnen!

Es wäre jedoch falsch, die tragische Begebenheit, die sich am 4. September bei Lausanne abgespielt hat, einzig und allein auf äußere Schwierigkeiten zurückzuführen. Reiss' Verhängnis bedeutet nicht nur einen Verlust, sondern auch eine Lehre. Wir würden dem Andenken dieses Revolutionärs Unehre tun, verbürgen wir die politischen Fehler, die den Henkern vom Kreml das Werk erleichterten. Es handelt sich nicht um Fehler des verstorbenen Genossen selbst: nachdem er dem künstlichen Milieu der GPU entronnen war, hatte er es allzu schwer, sich mit eins in seiner neuen Lage zurechtzufinden. Es handelt sich um unsere eigenen Fehler und Schwächen. Wir stellten nicht rechtzeitig die Verbindung mit Reiss her und verstanden es nicht, die nichtigen künstlichen Schranken niederzureißen, die ihn von uns trennten. Und Reiss fand in der kritischen Minute niemanden neben sich, der ihm hätte einen richtigen Rat geben können.

Bereits im Juni dieses Jahres war Gen. Reiss fest entschlossen, es zum Bruch mit dem Kreml kommen zu lassen. Er begann mit einem Brief an das Zentralkomitee, den er am 17. Juli nach Moskau absandte. Gen. Reiss hielt es für nötig, noch eine gewisse Zeit verstreichen zu lassen, damit der Brief seine Bestimmung erreiche, bevor er der Öffentlichkeit übergeben werde. Übermäßige Ritterlichkeit! Der Brief selbst, grundsätzlichen Inhalts und fest im Ton, enthielt nur die Ankündigung des Bruchs, ohne genaue Tatsachen und Enthüllungen, und war überdies mit dem Namen «Ludwig» unterzeichnet, der niemandem etwas sagte. Die GPU erlangte auf diese Weise eine Frist, die vollauf genügte, um den Mord vorzubereiten. Unterdessen blieb die Öffentlichkeit des Westens vollkommen in Unkenntnis. Günstigere Umstände konnte die GPU für sich nicht erhoffen.

Der einzig ernste Schutz vor den bezahlten stalinistischen Mördern besteht in absoluter Öffentlichkeit. Einen Brief nach Moskau schicken, dessen bedurfte es nicht: die bis ins Knochenmark verfaulten Bonapartisten kann man nicht vermittels grundsätzlicher Briefe beeinflussen. Am Tage des Bruchs wäre es nötig gewesen, eine politische Erklärung an die Weltpresse zu geben. In der Erklärung hätte nicht vom Übertritt von der Dritten zur Vierten Internationale die sein Rede müssen (diese Frage interessiert bislang nur eine kleine Minderheit!), sondern von seiner bisherigen Arbeit in der GPU, von den Verbrechen der GPU, von den Moskauer Schwindelprozessen und von seinem Bruch mit der GPU. Eine derartige, mit dem wahren Namen unterzeichnete Erklärung hätte Ignaz Reiss mit eins in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit breiter Gesellschaftskreise gerückt, und das allein schon hätte Stalins Henkersarbeit erschwert. Dabei hätte unserer Meinung nach Reiss sich der französischen oder schweizerischen Polizei mit Darlegung des gesamten Sachverhalts ausliefern können, und – um der Selbsterhaltung willen – ausliefern sollen. Der bisherige Aufenthalt mit falschen Papieren hätte wahrscheinlich Reiss' Verhaftung nach sich gezogen. Doch ihm selbst und seinen Freunden wäre es nicht schwer gefallen nachzuweisen, dass es sich bloß um die Verletzung formeller Regeln handelte, und dass Reiss sich in seiner Tätigkeit ausschließlich von politischen Motiven leiten ließ. Kaum würde ihm eine irgendwie harte Strafe gedroht haben. Auf jeden Fall, sein Leben wäre gerettet. Sein mutiges Brechen mit der GPU hätte ihm die notwendige Popularität verschafft. Das politische Ziel wäre erreicht gewesen und die persönliche Sicherheit soweit gewährleistet, wie sie unter den heutigen Bedingungen überhaupt gewährleistet werden kann.

Die in dieser Sache begangenen Fehler sind leider nicht mehr gutzumachen. Ignaz Reiss ist noch am ersten Anfang eines neuen Kapitels in seinem politischen Leben ermordet worden. Aber Reiss ist nicht allein. In Stalins Apparat gibt es nicht wenig Schwankende. Die Missetaten des Meisters vom Kreml treiben sie heute und morgen auf den Weg des Bruchs mit dem gerichteten Regime der Lüge und der Fäulnis. Ignaz Reiss gab ihnen ein mutiges Beispiel. Zugleich lehrt uns sein tragisches Ende, dass es notwendig ist, zwischen den Henkern und ihren vorgemerkten neuen Opfern in Zukunft uns als eine kompakte Schutzgarde aufzustellen. Das ist möglich. Der Kelch der Frevel der GPU ist übervoll. Breite Arbeiterkreise im Westen wenden sich mit Schaudern vom Werk des Kain Dschugaschwili ab. Die Sympathien zu uns wachsen. Es gilt nur, sie zu nutzen. Mehr Wachsamkeit! Festerer Zusammenhalt! Mehr Disziplin im Handeln! Das sind die Lehren, die wir aus Ignaz Reiss' Tod ziehen müssen.

Coyoacan, 21. September 1937

L. Trotzki

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