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Leo Trotzki 19371102 Es ist Zeit, international gegen den Stalinismus vorzustoßen

Leo Trotzki: Es ist Zeit, international gegen den Stalinismus vorzustoßen

Brief an alle Arbeiterorganisationen

[Nach Der einzige Weg, Zeitschrift für die Vierte Internationale, Nr. 1 (Dezember 1937), S. 11-13]

Die soziale Bewegung der Welt ist von einer entsetzlichen Krankheit befallen. Der Ansteckungsherd ist die Komintern oder richtiger die GPU, der der Kominternapparat nur als legale Deckung dient. Die Ereignisse der letzten Monate in Spanien zeigten, zu welchen Verbrechen die zügellose und vollends verkommene Moskauer Bürokratie und ihre aus dem internationalen deklassierten Abschaum stammenden Kreaturen fähig sind. Es handelt sich nicht um «gelegentliche» Morde und «zufällig» unterlaufene Fälschungen. Es handelt sich um ein Komplott gegen die internationale Arbeiterbewegung.

Die Moskauer Prozesse waren selbstredend nur unter einem totalitären Regime möglich, wo die GPU gleicherweise den Angeklagten, dem Staatsanwalt und den Verteidigern ihr Verhalten vorschreibt. Aber diese Justizfälschungen waren von vorneherein ersonnen als Ausgangspunkt eines Vernichtungsfeldzuges gegen die Widersacher der Moskauer Clique auf der Weltarena. Am 3. März hielt Stalin auf dem Plenum des Zentralkomitees der russisches KP eine Rede, in der er zum Ausdruck brachte, dass «die Vierte Internationale zu zwei Dritteln aus Spionen und Diversanten besteht». Schon diese unverschämte, echt stalinsche Erklärung ließ deutlich ersehen, worauf der Kain vom Kreml abzielt. Seine Pläne beschränken sich indes durchaus nicht auf den Rahmen der Vierten Internationale. In Spanien wurde zu den «Trotzkisten» die POUM gerechnet, die mit der Vierten Internationale in unversöhnlichem Kampf steht. Nach der POUM kamen die Anarchosyndikalisten und sogar die linken Sozialisten an die Reihe. Heute zählt zu den Trotzkisten bereits alles, was gegen die Verfolgung der Anarchisten protestiert. Die Fälschungen und Verbrechen nehmen immer drohenderen Umfang an. Einzelne besonders skandalöse Details kann man natürlich auf das Konto des Übereifers einiger Agenten setzen. Doch als Ganzes wird all diese Arbeit streng zentralisiert nach einem im Kreml ausgearbeiteten Plan ausgeführt.

Am 21. April tagte in Paris ein außerordentliches Plenum des Exekutivkomitees der Komintern, an dem die zuverlässigsten Vertreter der 17 bedeutendsten Sektionen teilnahmen. Die Tagung war streng geheim. In die Weltpresse drang nur die kurze Mitteilung, dass die Arbeit dieses Plenums dem internationalen Kampf gegen den Trotzkismus gewidmet war. Aus Moskau kamen unmittelbar von Stalin geschickte Instruktionen. Weder die Debatten, noch die Beschlüsse wurden veröffentlicht. Wie aus den Nachrichten, die wir erhielten, und aus allen seitherigen Geschehnissen erhellt, war dieses geheime Plenum in Wirklichkeit ein Kongress der verantwortlichsten internationalen GPU-Agenten zwecks Vorbereitung einer Kampagne von falschen Anschuldigungen, Denunziationen, Entführungen und Morden, gerichtet gegen die Widersacher des Stalinismus in der Arbeiterbewegung aller Weltteile.

Zur Zeit des Sinowjew-Kamenew-Prozesses (August 1936) waren die Reihen der Komintern noch schwankend. Trotz den Bemühungen der alten GPU-Söldlinge vom Schlage Jacques Duclos' in Frankreich zögerten selbst die an vieles gewohnten Kominternkader, in den mit frischem Blut getränkten Kot zu steigen. Doch im Laufe der folgenden Monate wurde der Widerstand der Unentschiedenen gebrochen. Die gesamte Kominternpresse, die Stalin an einem goldenen Gängelband hält, wurde in eine an Niedertracht und Grobheit beispiellose Orgie der Verleumdung hineingerissen Den Taktstock schwangen dabei wie immer die Emissäre aus Moskau von der Art der Michail Kolzow, Willi Münzenberg u. a. m. Die «Prawda» versicherte mit Nachdruck, die Säuberung werde in Spanien ebenso unerbittlich erfolgen wie in der UdSSR. Den Worten folgten Taten: die gefälschten Dokumente gegen die POUM, die Ermordung anarchistischer Schriftsteller, der Mord an Andres Nin, die Entführung Erwin Wolfs, die Entführung Mark Reins, Dutzende weniger auffällige Meuchelmorde, Einkerkerungen in den exterritorialen Gefängnissen Stalins in Spanien, Einsperren in besondere Schränke in diesen Gefängnissen, Misshandlungen, überhaupt alle möglichen körperlichen und seelischen Foltern unter dem Deckmantel ununterbrochener grober, giftiger, echt stalinscher Verleumdung.

In Spanien, wo die sogenannte republikanische Regierung der stalinistischen Verbrecherbande als legaler Schild dient, fand die GPU das günstigste Wirkungsfeld zur Erfüllung der Weisungen des Aprilplenums. Aber die Sache beschränkte sich nicht auf Spanien. Dem französischen und britischen Militärstab wurden, wie aus der Kominternpresse selbst ersichtlich, angebliche Geheimdokumente über eine «Zusammenkunft Trotzkis mit Rudolf Hess» übermittelt. Dem tschechischen Militärstab wurde eine gefälschte Korrespondenz in die Hände gespielt, die die Verbindung des alten deutschen Revolutionärs Anton Grylewicz mit der Gestapo beweisen sollte. Die geheimnisvollen terroristischen Akte in Paris, über die die GPU der französischen Polizei gewiss Auskunft erteilen könnte, versuchte Jacques Duclos mit den «Trotzkisten» in Verbindung zu bringen. In Lausanne wurde am 4. September Ignaz Reiss ermordet, nur weil er, entsetzt über Stalins Verbrechen, mit Moskau öffentlich gebrochen hatte. Ein Teil der Mörder Reiss' ist verhaftet. Es sind dies Mitglieder der Komintern und GPU-Agenten aus russischen weißgardistischen Kreisen. Die gerichtliche Untersuchung durch die französischen und schweizerischen Behörden gibt alle Ursache zur Vermutung, dass dieselbe Bande auch eine ganze Reihe bisher unaufgeklärter Verbrechen beging. Weißgardisten dienen Stalin als Mörder, wie sie ihm als öffentliche Ankläger (Wyschinski), als Publizisten (M. Kolzow, Saslawski u.a.) oder als Diplomaten (Trojanowski, Maiski und Konsorten) dienen.

Kaum hatte der Krieg im Fernen Osten begonnen, als Stalin schon einen Vernichtungsfeldzug gegen seine revolutionären Widersacher in China eröffnete. Die Methode ist dieselbe wie in Spanien. Indem er Tschiang Kai-schek, wie er es auch mit Negrin tat, Sowjetindustrieerzeugnisse zu hohen Preisen verkauft, bezahlt er mit den auf diese Art erlangten Einkünften seine Fälscher, Zeitungsschurken und gedungenen Mörder. Am 5. Oktober erschien im New Yorker «Daily Worker» eine telegraphische Meldung aus Schanghai, worin die chinesischen «Trotzkisten» in der Kiangsi-Provinz des Bündnisses mit dem japanischen Generalstab beschuldigt wurden. Der «Daily Worker» ist das Organ der GPU in New-York, sein Schanghaier Korrespondent ist ein GPU-Agent, der die Weisungen des Aprilplenums ausführt. Unterrichtete chinesische Quellen erklärten damals, dass es im Kiangsi keine trotzkistische Organisation gab und gibt («Socialist Appeal» vom 16. Oktober). Doch das ändert an der Sache nichts: das Schanghaier Telegramm bedeutet, dass auch in China das Kapitel der gefälschten Dokumente, der «Trotzkisten»-Entführungen und der Meuchelmorde eingesetzt hat. In den Gefängnissen Tschiang Kai-scheks saßen auch früher nicht wenig untadelige Revolutionäre. Ihrem Leben droht die unmittelbarste Gefahr jetzt von Seiten Stalins.

Der kanadische Kommunist Henry Beattie, der vier Monate lang als Freiwilliger an den spanischen Kämpfen teilgenommen hatte und dann von den Milizionären selbst als Agitator in die Heimat zurückgeschickt wurde, erzählte vor kurzem in der Presse, wie die Partei der kanadischen Stalinisten ihn zwang, auf öffentlichen Versammlungen zu berichten, dass die Trotzkisten in Spanien «verwundete Milizleute niederschießen». Eine gewisse Zeit lang führte Beattie seinen eigenen Worten zufolge diesen ungeheuerlichen Befehl aus, indem er sich «der Parteidisziplin beugte», d.h. den Beschlüssen des genannten, von Stalin geleiteten Geheimplenums. Jetzt, wo Beattie der vergifteten Atmosphäre entronnen ist und frische Luft atmet, wird er natürlich zum Spion und Diversanten gestempelt; möglicherweise steht auf seinen Kopf ein Preis. In solchen Unternehmungen lässt sich Stalin nicht lumpen: allein die technischen Ausgaben für die Ermordung Ignaz Reiss' belaufen sich auf 300.000 Franken!

Zur Deckung oder Rechtfertigung dieser Verbrechen werden Dutzende von ausländischen bürgerlichen Journalisten, von der Schule der Walter Duranty und der Louis Fischer, von der GPU ausgehalten. Wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, für den ist es schon längst kein Geheimnis mehr, dass die freundlich-kritisch-zweideutigen Telegramme und Artikel aus Moskau, die mit «unabhängigen» Namen gezeichnet und zuweilen mit der Bemerkung «Ohne Zensur» versehen sind, in Wirklichkeit unter dem Diktat der GPU geschrieben werden und die Aufgabe haben, die Weltöffentlichkeit mit der finsteren Gestalt des Kain vom Kreml auszusöhnen. Diese Art «unabhängiger» Journalisten unterscheidet sich von den Herren Duranty nur dadurch, dass sie teurer sind. Doch werden nicht bloß die Reporter mobilisiert. Schriftsteller von Weltruf oder mit bekannten Namen wie Romain Rolland, der verstorbene Barbusse, Malraux, Heinrich Mann oder Feuchtwanger sind in Wirklichkeit Stipendiaten der GPU, die durch die Vermittlung des Staatsverlags die «moralischen» Dienste dieser Freunde freigebig bezahlt.

Anders, aber nur wenig besser steht es um die Führer der Zweiten und der Gewerkschafts- Internationale Aus Erwägungen diplomatischen oder innenpolitischen Charakters organisierten Leon Blum, Leon Jouhaux, Vandervelde und ihre Brüder in den anderen Ländern im vollsten Sinne des Wortes eine Verschwörung des Schweigens um die Verbrechen der Stalinbürokratie, sowohl die in der UdSSR wie auf der Weltarena begangenen. Negrin und Prieto sind direkte Spießgesellen der GPU. All dies unter der Fahne der Verteidigung der «Demokratie»!

Wir wissen: der Feind ist stark, er hat lange Arme, in seinen Taschen klimpert Geld. Er deckt sich mit der Autorität der Revolution, die er erstickt und entehrt. Aber wir wissen auch ein anderes: wie stark der Feind auch sei, allmächtig ist er nicht. Trotz Kasse, Apparat und einer Phalanx von «Freunden» des Kreml hat die Wahrheit begonnen, sich im Bewusstsein der Arbeitermassen der ganzen Welt Bahn zu brechen. Von Straflosigkeit berauscht, hat Stalin deutlich die Grenze überschritten, die einzuhalten Vorsicht selbst dem privilegiertesten Verbrecher gebietet. So frech betrügen kann man nur die, die selbst betrogen sein wollen: zu dieser Kategorie gehören nicht wenig zweifelhafte Berühmtheiten. Aber die Massen wollen nicht betrogen werden. Sie brauchen Wahrheit. Sie erfahren sie und sie werden sie erfahren.

Durch keine Prinzipien mehr gebunden, überschritt Stalin die äußerste Grenze. Doch eben darin liegt seine Schwäche. Noch kann er morden. Aber die Wahrheit wird er nicht mehr aufhalten. Immer mehr ergreift Unruhe die kommunistischen Arbeiter, die Sozialisten, die Anarchisten. Bereits beginnen Stalins Bundesgenossen aus der Zweiten Internationale mit Furcht nach dem Kreml zu schauen. Bereits rücken viele literarische «Freunde» unter dem Vorwand der «Neutralität» vorsichtig ab. Indes, das ist nur der Anfang.

Ignaz Reiss ist nicht der letzte, der uns seine Enthüllungen brachte. Die in der Schweiz und in Frankreich verhafteten Mörder Reiss' erzählen viel. Tausende von revolutionären Freiwilligen aus Spanien tragen die Wahrheit über die Henker der Revolution in alle Teile der Welt. Die denkenden Proletarier fragen sich: wozu das alles? wem dient diese endlose Kette von Missetaten? Und eine Antwort hämmert sich den Schädeln ein: Stalin bereitet seine «Krönung» vor auf den Ruinen der Revolution und den Leichen der Revolutionäre.

Stalins bonapartistische Krönung muss mit seinem politischen Tod für die Arbeiterbewegung zusammenfallen. Es gilt die Bemühungen aller Revolutionäre, aller ehrlichen Arbeiter, aller wirklichen Freunde des Proletariats zu vereinen zur Säuberung der Reihen der freiheitlichen Bewegung von der entsetzlichen Ansteckung des Stalinismus. Um dies zu erreichen, gibt es nur einen Weg: den Arbeitern die Wahrheit offenbaren, ohne Übertreibung, aber auch ohne Abschwächung. Das Aktionsprogramm ergibt sich auf diese Weise ganz von selbst aus der Lage.

Notwendig ist, genau die Namen aller nationalen Delegierten des letzten Plenums in Paris festzustellen und zu veröffentlichen, als die, die für die Organisierung der Fälschungen, Entführungen und Morde in den verschiedenen Ländern persönlich unmittelbar verantwortlich sind.

Notwendig ist, genau die Namen aller ausländischen Stalinisten festzustellen und zu veröffentlichen, die in Spanien irgendwelche militärischen, polizeilichen oder administrativen Posten bekleideten oder bekleiden: all diese Personen sind in ihrer Eigenschaft als GPU-Agenten an den in Spanien verübten Verbrechen beteiligt.

Notwendig ist, aufmerksam die internationale stalinistische Presse zu verfolgen, desgleichen das «literarische» Wirken der offenen und geheimen Freunde der GPU, da man am Charakter des von ihnen verbreiteten Rauschgifts oft vorausbestimmen kann, welche neuen Verbrechen Stalin vorbereitet.

Nötig ist, in allen Arbeiterorganisationen ein Regime heftigen Misstrauens gegen jeden, der direkt oder indirekt mit dem stalinistischen Apparat verbunden ist, einzuführen. Von den Kominternagenten als den willenlosen Werkzeugen der GPU darf man stets jeden beliebigen Verrat gegenüber den Revolutionären erwarten.

Nötig ist, unermüdlich Pressematerialien, Dokumente, Zeugenaussagen über das verbrecherische Werk der GPU-Komintern-Agenten zu sammeln. Nötig ist, periodisch in der Presse genau begründete Schlussfolgerungen aus diesen Materialien zu ziehen.

Nötig ist, der Öffentlichkeit das Auge dafür zu öffnen, dass die süßliche und verlogene Propaganda vieler Philosophen, Moralisten, Ästheten, Künstler Pazifisten und Arbeiter-«Führer» zur Verteidigung de Kreml unter dem Anschein der «Verteidigung der UdSSR», von Moskau freigebig mit Gold bezahlt wird. Nötig ist, diese Herren der verdienten Schande preiszugeben.

Noch nie besaß die Arbeiterbewegung in ihren eigenen Reihen einen derart tückischen, gefährlichen, mächtigen und verräterischen Feind wie die Stalinclique und ihre internationale Agentur. Nachlässigkeit im Kampf gegen diesen Feind kommt Verrat gleich. Mit pathetischer Entrüstung können sich Schwätzer und Dilettanten begnügen, aber nicht ernste Revolutionäre. Notwendig ist ein Plan und eine Organisation. Nötig ist, besondere Kommissionen zur Verfolgung der Manöver, Intrigen und Verbrechen der Stalinisten zur Warnung der Arbeiterorganisationen vor der Gefahr, zur Erarbeitung der besten Abwehrmethoden gegen die Moskauer Gangster zu bilden.

Nötig ist, eine entsprechende Literatur herauszugeben und dafür Mittel zu sammeln. Nötig ist, in jedem Lande ein Buch herauszugeben, das die nationale Kominternsektion restlos enthüllt.

Wir haben keinen Staatsapparat, noch auch bezahlte Freunde. Und nichtsdestoweniger werfen wir mit Zuversicht, vor dem Antlitz der gesamten Menschheit, der Stalinbande den Fehdehandschuh hin. Wir legen die Hände nicht in den Schoß. Einige von uns können in diesem Kampfe noch fallen. Doch sein allgemeiner Ausgang ist vorausbestimmt Der Stalinismus wird auf immerdar erdrückt, zermalmt und mit Schande bedeckt sein. Die Weltarbeiterklasse wird eine breite Straße betreten.

Coyoacan, 2. November 1937.

L . Trotzki.

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