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Leo Trotzki 19371213 Zum Urteilsspruch der Internationalen Kommission über die Moskauer Prozesse

Leo Trotzki: Zum Urteilsspruch der Internationalen Kommission über die Moskauer Prozesse1

[Nach Der einzige Weg, Zeitschrift für die Vierte Internationale, Nr. 3 (März 1938), S. 64-67]

Meine Herren Vertreter der Presse, Gäste und Freunde!

Die Entscheidung der Internationalen Kommission über die Moskauer Prozesse ist Ihnen bekannt. Erlauben sie mir daher, mich auf einige wenige Kommentare zu beschränken.

Vor allem will ich das abschließende Urteil der Kommission verlesen. Es ist sehr kurz, ganze zwei Zeilen:

«22. Wir befinden daher, dass die Moskauer Prozesse Schwindel sind.

23. Wir befinden daher, dass Trotzki und Sedow unschuldig sind».

Ganze zwei Zeilen! Doch so gewichtige Zeilen gibt es in der Bibliothek der Menschheit nicht viele. Hätte die Kommission sich auf die Worte beschränkt: «Trotzki und Sedow sind unschuldig», bliebe formell die Möglichkeit eines Justizirrtums offen. Die Kommission zeigte sich genügend gerüstet, um ein für allemal einer solchen Auslegung den Riegel vorzuschieben. «Wir befinden», sagt das Urteil, «dass die Moskauer Prozesse Schwindel sind». Mit dieser Erklärung hat die Kommission eine gewaltige moralische und politische Verantwortung auf sich genommen. Sie musste nicht nur überzeugende und hinlängliche, sondern erdrückende und vernichtende Beweisgründe besitzen, um vor dem Antlitz der gesamten Welt sich zu so einer Schlussfolgerung zu entschließen.

Ich bitte Sie, meine Herren Journalisten, die Liste der Kommissionsmitglieder, der New Yorker und der Pariser, aufmerksam zu studieren. Sie haben die Liste zur Hand. Sie spricht für sich selbst. Die Liste umfasst 17 Namen. Mit Ausnahme eines einzigen, des französischen Vertreters Rosmer habe ich früher zu keinem einzigen Kommissionsmitglied irgendwelche persönliche Beziehungen gehabt. Sie finden unter ihnen Gelehrte von Weltruf, Führer der Zweiten Internationale und der Arbeiterbewegung überhaupt, hervorragende Juristen und Publizisten, einen maßgebenden Vertreter des Anarchosyndikalismus Aber unter den 17 Namen befindet sich nicht ein Mitglied der Vierten Internationale. Ich kann sagen, sie alle sind, wenn auch in verschiedenem Grade, meine politischen Gegner, und einige von ihnen haben selbst während der Untersuchung öffentlich ihre ablehnende Haltung gegenüber dem sogenannten «Trotzkismus» kundgetan.

Alle Kommissionsmitglieder haben Dutzende von Jahren aktiver politischer, wissenschaftlicher oder literarischer Arbeit hinter sich. Sie alle tragen makellose Namen. Gäbe es unter ihnen auch nur einen, der sich kaufen ließe, er wäre schon längst gekauft. Meine Feinde verfügen zu solchen Zwecken über Millionen und geizen damit nicht. Was mich und meinen Sohn betrifft, so haben wir nicht einmal die Mittel, die erforderlich sind, um die technischen Auslagen der Untersuchung zu decken. Die bescheidene Kasse der Kommission wurde mit Sammlungen unter Arbeitern und mit persönlichen Spenden gefüllt.

Die Kommission hat Vertreter der Sowjetregierung, der Komintern, bezw. ihrer nationalen Sektionen in den Vereinigten Staaten und in Mexiko, «Freunde» der Sowjetunion, schließlich einzelne eng mit Moskau verbundene Personen wie den englischen Anwalt Pritt, Herrn Lombardo Toledano u.a. nachdrücklichst zu gleichberechtigter Teilnahme an ihren Arbeiten aufgefordert. Mit der Kerze in der Hand suchte die Kommission den maßgebenden Stalinisten oder mit dem Stalinismus Sympathisierenden, der sich nicht mit Machinationen in den GPU-Kellern oder Verleumdungen und Insinuationen in den aller Verantwortung und Würde baren Blättern begnügt, sondern den Mut besessen hätte, offen die Moskauer Anklagen unter die Kontrolle der Kritik zu stellen. Sie fand niemand außer den ehemaligen Mitarbeiter der offiziellen sowjetrussischen Telegraphenagentur TASS, Herrn Carleton Beals. Aber auch hier stellte sich bald heraus, dass Beals in die Kommission nur geschickt worden war, um sie von innen her zu sprengen zu suchen. Als Beals' vom Geiste der GPU, d.h. der Provokation, getragenen Fragen die gebührende Antwort zuteil wurde, nahm Beals vom Schlachtfeld Reissaus.

Die Kommission hat über neun Monate ununterbrochen gearbeitet, in New York, Mexiko, Paris, Prag und anderen europäischen Hauptstädten. Sie studierte Tausende von Originaldokumenten, Briefen, Protokollen. Artikeln und Büchern, sowie die mündlichen und schriftlichen Aussagen zahlreicher Zeugen. Sie verlangte von mir und meinem Sohn Leo Sedow Erklärungen und Beweise zu jeder noch so geringfügigen Frage. All diese Arbeit geschah unter der autoritativen Leitung des Dr. Dewey, Vorsitzenden und leitenden Geistes der Kommission. Man muss hier auch die geradezu titanische, von der Sekretärin der Kommission, Miss Suzanne La Follette geleistete Arbeit erwähnen.

Dank ihrem ganzen vergangenen Wirken waren die Kommissionsmitglieder an aufmerksames Studium von Tatsachen, an wissenschaftliche Analyse, an Eindringen in die menschliche Psyche gewohnt. Die auf ihre Weise grandiosen Moskauer Prozesse boten ihnen eine Gelegenheit, von alle diesen Eigenschaften Probe abzulegen. Die Kommissionsmitglieder waren sich selbstverständlich über die internationale Machtfülle der Clique, die sie des Schwindels ziehen, durchaus im Klaren. Sie mussten im Voraus wissen, dass jeder ihrer Sätze, jedes ihrer Worte von den Dutzenden und Hunderten im Dienste des Kreml stehenden Juristen und Publizisten unter die Lupe genommen werden könnten. Umso größeres Gewicht erhält jedes ihrer Worte!

Die Kommission veröffentlichte einen stenographischen Bericht von den Sitzungen ihrer Unterkommission in Coyoacan. Das ist ein Band von 617 gedrängten Seiten. In der 100%ig stalinistischen New Norker Zeitung «New Republic» schrieb Herr Bertram Wolfe, ein in Mexiko wohlbekannter Schriftsteller und alter Gegner von mir, über diesen Bericht folgendes: «Verfasser gibt zu, dass seine frühere politische Einstellung ihn dazu brachte, Stalin mehr Vertrauen zu schenken als Trotzki, aber bei erneuter Lektüre der Moskauer Geständnisse sowie dieses Buches (des Berichts von den Coyoacaner Sitzungen) oder richtiger seiner Schlussrede ist er zu der buchstäblich unverrückbaren Überzeugung gelangt, dass Trotzki nicht die Handlungen begehen konnte, deren er in den Prozessen Sinowjew-Kamenew und Radek-Pjatakow beschuldigt wurde». Diese Worte eines Gegners sprechen für sich selbst.

Nach fast dreihundert Arbeitstagen hat die Kommission ein einmütiges Urteil gefällt. Es befindet sich, meine Herren, in ihren Händen in der Form von 23 Punkten, die wie Hammerschläge auf die Nägel eines Sargs klingen. In diesem Sarg ruht die politische und persönliche Ehre der GPU-Leiter, angefangen mit Stalin.

Sie erhielten ebenfalls ein kurzes Resumé der Arbeiten der Kommission, das 24 Seiten umfasst. Der volle Text des Urteils wird bald veröffentlicht werden in Form eines Buches von 80.000 Worten. Es enthält eine eingehende Analyse der Geständnisse der unseligen Angeklagten und der Behauptungen des Staatsanwalt Wyschinskis, dieses, was Justizschwindel anbelangt, ersten Gehilfen Stalins. Gestatten Sie nur, Ihnen vorherzusagen, dass von Seiten der Fälscher keinerlei artikulierte Entgegnung zu erwarten ist. Die einzige Antwort, die ihnen bleibt, und deren sie sich so häufig bedienen, sind Revolverschüsse oder Dolchstöße Mit solchen Argumenten kann man den Gegner vernichten, aber nicht die Stimme des Weltgewissens erschlagen. Die Entscheidung der Kommission liegt außerhalb des Wirkungsbereichs eines Revolvers oder Dolchs. Feuer brennt sie nicht und im Wasser ertrinkt sie nicht.

Ist es nötig zu sagen, dass der Urteilsspruch mehr als persönliche Bedeutung hat? Es handelt sich nicht nur um mich und um meinen Sohn. Es handelt sich um den guten Namen Hunderter von Menschen, die bereits erschossen sind, und um das Leben neuer Hunderter, die zur Erschießung bereit gehalten werden. Es handelt sich um etwas noch unvergleichlich Größeres, nämlich um die Grundprinzipien der Arbeiterbewegung und des Befreiungskampfes der Menschheit. In erster Linie handelt es sich darum, die Demoralisierung und Ansteckung auszumerzen, die der Kominternapparat, gepaart mit dem GPU-Apparat, allenthalben verbreitet.

Um die moralische und politische Bedeutung des Urteilsspruchs einzuschätzen, gestatte ich mir, hier ein kurzes Telegramm zu verlesen, das ich am 9. Dezember an die Columbia Broadcasting Station sandte und das jetzt, zur Stunde wo ich zu Ihnen spreche, von hundert Radiostationen der Vereinigten Staaten Nordamerikas verbreitet wird:

«Die Kommission hat niemanden zum Tode oder zu Gefängnis verurteilt. Jedoch unmöglich kann man sich ein schrecklicheres Urteil vorstellen. Die Kommission sagt zu den Regierenden eines großen Landes: «Ihr habt eine Fälschung begangen, um die Ausrottung Eurer politischen Gegner zu rechtfertigen. Ihr habt versucht, die Werktätigen der ganzen Welt zu betrügen. Ihr seid unwürdig, der Sache zu dienen, auf die Ihr in Worten schwört».

«Die Kommission, die Vertreter verschiedener politischer Richtungen enthält, konnte sich keine politischen Ziele stecken. Allein, ihr Urteil hat eine unermessliche politische Bedeutung. Die Methoden der Lüge, der Verleumdung und Fälschung, die das innere Leben der UdSSR und der Weltarbeiterbewegung angefressen haben, haben einen furchtbaren Schlag erhalten. Mögen die offiziellen «Freunde der UdSSR» und anderen scheinradikalen Mucker sagen, die Reaktion werde das Urteil ausschlachten. Unwahrheit! Nirgends und nie hat die Wahrheit der Reaktion gedient. Nirgends und nie hat Fortschritt sich der Lüge bedient. Die Kommission hat natürlich der Moskauer Bürokratie einen Hieb versetzt. Aber diese Bürokratie ist selbst zum Hemmschuh des Fortschritts der Sowjetunion geworden. Indem sie sich bemühte, der Wahrheit zu dienen, diente die Kommission dem Befreiungskampf der ganzen Menschheit. Die Arbeit der Kommission wie auch die Namen ihrer Teilnehmer gehören nunmehr der Geschichte an.»

Die politische Seite dieser Sache überragt die persönliche unendlich. Jedoch gestatten Sie mir trotzdem, meine Herren Pressevertreter, zum Schluss kurz bei der persönlichen Seite zu verweilen.

Sie wissen vielleicht, dass Stalins Verfolgungen eine meiner Töchter in den vorzeitigen Tod und die andere zum Selbstmord trieben. Die Gatten meiner beiden Töchter sind spurlos verschwunden. Was aus meinen Enkeln wurde, weiß ich nicht. Nach meinen Töchtern und Schwiegersöhnen verschwand auch mein jüngster Sohn Sergej, der von denselben Fälschern beschuldigt wurde, die massenweise Vergiftung von Arbeitern vorbereitet zu haben. Gegen meinen älteren Sohn Leo bereitete die GPU in Paris ein terroristisches Attentat vor, das von der französischen Polizei vor einigen Wochen entdeckt wurde. Mich und meine Frau ließ die GPU durch Vermittlung der norwegischen Regierung internieren, um für die Fälschungen und Repressionen freie Hand zu haben. Nur die großherzige Gastfreundschaft des Generals Cardenas ermöglichte uns, die Freiheit wiederzuerlangen und die Wahrheit zu offenbaren. Angesichts dieser Umstände ist es nicht schwer zu verstehen, einen wie großen moralischen Wert das Kommissionsurteil für mein persönliches Leben und das meiner Familie besitzt.

Dies Urteil hat für uns auch eine unmittelbare praktische Bedeutung. Es nähert sich der erste Jahrestag unserer Ankunft in Mexiko. Von Seiten der Bevölkerung dieses Landes erfuhren wir nichts als Zuvorkommenheit und Freundlichkeit, von Seiten der Behörden nichts als Aufmerksamkeit und Schutz. Die Fragen der Politik bei Seite stellend, kann ich nicht umhin, hier dem Oberhaupt dieses Landes, bei dem das Wort mit dem Gedanken, und die Tat mit dem Wort übereinstimmt, meine aufrichtige Achtung auszusprechen. Meine Beobachtungen sagen mir, dass man einem solchen Typus von Staatsmännern nicht häufig begegnet. Wir fanden in Mexiko wahre Freunde. Ihre Zahl wächst. Ihnen allen spreche ich heute meinen warmen Dank aus. Aber wir fanden hier auch die Freunde der GPU. Gestützt auf die Moskauer Fälschungen, machten diese Herren im verflossenen Jahr Dutzende von Versuchen, uns das Asylrecht zu rauben, das heutzutage in der Welt nicht zur Regel, sondern zur Ausnahme geworden ist. Ich habe auf diese Versuche, deren Quellen unschwer zu erraten sind, fast nicht reagiert. Ich war zu sehr vom Hauptkampf, dem gegen die Stalinclique, in Anspruch genommen. Ich war der Meinung, die restlose Enthüllung des Herrn werde auch die seiner bezahlten Agenten und Knechte bedeuten. Das Hauptwerk ist jetzt getan. Das Urteil ist gefällt. Stalin und die GPU sind auf immerdar gebrandmarkt als Organisatoren des gewaltigsten Verbrechens. Angesichts des Urteils der Internationalen Kommission wird es keinem der Agenten und Knechte gelingen, der Verantwortung zu entgehen. Die als Revolutionäre maskierten Salonschwätzer, die Liebhaber und Liebhaberinnen der Jubiläumsfeiern der Sowjetbürokratie, die Advokaten, die auf Kosten der Arbeiter Karriere machen – ist es noch nötig ihre Namen zu nennen? – und alle anderen Intriganten und Scharlatane, die es sich herausnehmen, mit meiner politischen Ehre zu spielen und von diesem Kapital zu leben, alle diese Herrschaften werden einer nach dem anderen vor der öffentlichen Meinung zur Ordnung gerufen werden. Ihre hohen Beschirmer werden sie ebenso wenig vor der verdienten Verachtung retten, wie sie sich selbst retteten. Die Stunde der Wahrheit hat geschlagen! Niemand wird mehr das Rad der Gerechtigkeit zurückdrehen. Immer neue Enthüllungen werden den grimmigen Urteilsspruch bekräftigen und seinen Wirkungskreis erweitern. Mit dem Kommissionsvorsitzenden Dr. Dewey können wir aufs Neue die prachtvollen Worte Emile Zolas wiederholen: «Die Wahrheit geht voran, und nichts wird sie anhalten». Meine Herren Journalisten, Sie haben die Möglichkeit, am Triumphzug der Wahrheit teilzunehmen. Eilen Sie, diese kostbare Gelegenheit zu nützen!

Coyoacan D. F., 13. Dezember 1937.

1 Die Erklärung wurde von L. D. Trotzki auf spanisch am 13. Dezember 1937 vor mexikanischen und ausländischen Journalisten verlesen, und ihr Text gleichzeitig in anderen Sprachen verteilt.

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