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André Breton, Leo Trotzki 19380725 Für eine freie revolutionäre Kunst

André Breton, Leo Trotzki: Für eine freie revolutionäre Kunst

[Nach Literaturtheorie und Literaturkritik, München 1973, S. 154-160]

Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass die menschliche Kultur noch nie von so vielen Gefahren bedroht worden ist wie heute. Die Vandalen zerstörten mit ihren barbarischen, d. h. sehr unbeständigen Mitteln die antike Kultur in einem begrenzten Teil Europas. Heute zittert die Kultur der ganzen Welt in ihrem gemeinsamen historischen Schicksal unter der Bedrohung reaktionärer, mit der ganzen modernen Technik bewaffneter Kräfte. Wir denken dabei nicht nur an den herannahenden Krieg. Schon jetzt im Frieden ist die Situation der Wissenschaft und der Kunst absolut unerträglich geworden.

Insofern, als sie in ihrem Entstehungsprozess Charakterzüge des Individuellen bewahrt, als sie subjektive Fähigkeiten aktiviert, um einen bestimmten Sachverhalt zur Geltung zu bringen, der eine objektive Bereicherung nach sich zieht, erscheint eine philosophische, soziologische, naturwissenschaftliche oder künstlerische Entdeckung als die Frucht eines kostbaren „Zufalls“, d. h. als eine mehr oder weniger spontane Manifestation der Notwendigkeit.

Man darf einen solchen Zusammenhang nicht außer acht lassen, weder vom Standpunkt der allgemeinen Wissenschaft aus (die danach strebt, die Interpretation der Welt voranzubringen) noch vom revolutionären Standpunkt aus (der verlangt, dass man sich, um eine Veränderung der Welt zu erreichen, eine genaue Vorstellung von den Gesetzen macht, die ihre Bewegung bestimmen). Genauer gesagt, man darf an den geistigen Bedingungen, unter denen dieser Beitrag beständig geleistet wird, nicht achtlos vorübergehen und sollte daher Sorge tragen, dass die Achtung vor den spezifischen Gesetzen, an die das intellektuelle Schaffen gebunden ist, garantiert wird.

In der Welt von heute müssen wir freilich feststellen, dass diese Gesetze in immer größerem Umfang missachtet werden, welchem Befund notwendigerweise eine immer deutlicher werdende Verachtung nicht nur des Kunstwerks, sondern auch der Künstlerpersönlichkeit entspricht. Nachdem der Faschismus Hitlers alle Künstler, deren Werk das geringste Maß an Freiheitsliebe, und sei es auch nur im formalen Bereich, ausdrückte, aus Deutschland vertrieben hat, hat er diejenigen, die noch damit einverstanden sein mochten, eine Feder oder einen Pinsel in der Hand zu führen, gezwungen, sich zu Lakaien des Regimes zu machen und es im engen Rahmen schlechtester ästhetischer Konventionen auf Befehl zu feiern. Das gleiche gilt, bis auf den Umstand, dass diese Dinge kaum bekannt geworden sind, für die Sowjetunion seit Beginn der fürchterlichen Reaktion, die jetzt ihren Höhepunkt erreicht hat.

Selbstverständlich erklären wir uns nicht einen Augenblick mit der jetzt so beliebt gewordenen Parole „weder Faschismus noch Kommunismus" solidarisch; sie entspricht dem Charakter des konservativen und verschreckten Philisters, der sich an die Überreste der „demokratischen" Vergangenheit klammert. Echte Kunst, d. h. Kunst, die sich nicht mit der Variation überkommener Modelle zufrieden gibt, sondern darum bemüht ist, dem inneren Anliegen des Menschen und der Menschheit von heute Ausdruck zu verleihen, ist notwendigerweise revolutionär, d. h. sie erstrebt eine vollständige und radikale Umgestaltung der Gesellschaft, sei es auch nur, um das intellektuelle Schaffen von ihren Fesseln zu befreien und der ganzen Menschheit zu gestatten, sich zu Höhen aufzuschwingen, die bisher nur von einsamen Genies erreicht worden sind. Zugleich stellen wir fest, dass allein die soziale Revolution in der Lage ist, einer neuen Kultur den Weg zu bahnen. Wenn wir hingegen alle Solidarität mit der heute in der Sowjetunion herrschenden Kaste ablehnen, so gerade deswegen, weil sie in unseren Augen nicht den Kommunismus repräsentiert, sondern dessen niederträchtigster und gefährlichster Feind ist.

Unter dem Einfluss des totalitären Regimes der Sowjetunion und durch die Vermittlung der von ihr in den anderen Ländern kontrollierten sogenannten kulturellen Organisationen hat sich über die ganze Welt ein undurchdringliches Dämmerlicht ausgebreitet, das das Aufleuchten jeglichen geistigen Wertes unterdrückt. Ein Dämmerlicht aus Schmutz und Blut, in dem, als Intellektuelle und Künstler verkleidet, all jene Männer treiben, die aus ihrer Servilität ein bewährtes Mittel zum Zweck, aus der Verleugnung ihrer eigenen Grundsätze ein perverses Spiel, aus der käuflichen Falschaussage eine Gewohnheit und aus der Apologie eines Verbrechens ein Vergnügen gemacht haben. Die offizielle Kunst der Stalinepoche spiegelt mit einer in der Geschichte beispiellosen Grausamkeit ihre lächerlichen Bemühungen wider, den Leuten Sand in die Augen zu streuen und ihre wahre Söldnerrolle zu kaschieren.

Die vage Missbilligung, mit der die Welt der Künstler auf diese schamlose Negation der Prinzipien reagiert hat, denen die Kunst immer gefolgt ist und die so radikal zu bestreiten nicht einmal den Sklavenhalterstaaten eingefallen ist, muss einer unversöhnlichen Verurteilung weichen. Die Opposition der Künstler ist heute eine der Kräfte, die in nützlicher Weise zur Verunglimpfung und Vernichtung jener Regime beitragen können, unter denen zugleich mit dem Recht der ausgebeuteten Klasse, eine bessere Welt anzustreben, jegliches Gefühl für Größe und selbst für menschliche Würde zunichte wird.

Die kommunistische Revolution fürchtet die Kunst nicht. Nach Abschluss der Forschungen, die man über die Entstehung der künstlerischen Berufung in der sich auflösenden kapitalistischen Gesellschaft anstellen kann, weiß sie, dass die künstlerische Berufung genetisch nur als Ergebnis des Konflikts zwischen dem Menschen und einer gewissen Anzahl sich ihm widersetzender gesellschaftlicher Formen angesehen werden kann. Diese Tatsache allein macht den Künstler, abgesehen von dem noch zu erwerbenden Bewusstseinsgrad, zum natürlichen Verbündeten der Revolution. Der Mechanismus der Sublimierung, der hier eine Rolle spielt und den die Psychoanalyse aufgewiesen hat, hat das Ziel, das gestörte Gleichgewicht zwischen dem Ich und den von ihm verdrängten Elementen wiederherzustellen. Diese Wiederherstellung des Gleichgewichts erfolgt zugunsten des Über-Ichs, das gegen die unerträgliche gegenwärtige Außenwelt die Mächte der Innenwelt, des Es, einsetzt, die allen Menschen gemein sind und die sich beständig weiter entfalten. Das Bedürfnis des Geistes nach Emanzipation braucht nur seiner natürlichen Bahn zu folgen, um schließlich in dieser ursprünglichen Notwendigkeit aufzugehen und aus ihr neue Kraft zu schöpfen: dem Bedürfnis des Menschen nach Emanzipation.

Es folgt daraus, dass die Kunst, wenn sie sich nicht selbst aufgeben will, nicht damit einverstanden sein kann, sich einer fremden Weisung zu fügen und willig einen Rahmen zu füllen, den ihr manche äußerst beschränkten pragmatischen Zielen zuliebe glauben zuweisen zu können. Es ist besser, sich auf die Fähigkeit der Ahnung zu verlassen, die jedem wahren Künstler mitgegeben ist und die den (virtuellen) Beginn einer Auflösung der grellsten Widersprüche seiner Epoche impliziert und die Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen auf die Notwendigkeit, eine neue Ordnung herzustellen, lenkt.

Die Vorstellung, die der junge Marx von der Rolle des Schriftstellers hatte, muss heute nachdrücklich ins Gedächtnis zurückgerufen werden. Selbstverständlich muss diese Vorstellung im künstlerischen und wissenschaftlichen Bereich auf die verschiedenen Kategorien der Kunstschaffenden und Forscher ausgedehnt werden. „Der Schriftsteller“, sagt er, „muss allerdings erwerben, um existieren und schreiben zu können, aber er muss keineswegs existieren und schreiben, um zu erwerben. […] Der Schriftsteller betrachtet keineswegs seine Arbeiten als Mittel. Sie sind Selbstzwecke, sie sind so wenig Mittel für ihn selbst und für andere, dass er ihrer Existenz seine Existenz aufopfert, wenn's not tut […] Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein.“ Es ist heute mehr denn je angezeigt, diese Erklärung gegen diejenigen ins Feld zu führen, die die intellektuelle Aktivität fremden Zwecken unterordnen wollen und allen ihr eigentümlichen historischen Determinierungen zum Trotz im Dienste einer vorgeblichen Staatsraison die Themen der Kunst vorschreiben wollen. Die freie Wahl dieser Themen und die uneingeschränkte Freiheit in seinem Arbeitsfeld bedeuten für den Künstler einen Besitz, auf den er zu Recht unveräußerlichen Anspruch erhebt. Für das künstlerische Schaffen ist es von wesentlicher Bedeutung, dass die Phantasie von jedem Zwang frei ist und sich unter keinem Vorwand die Einhaltung eines Dienstwegs aufdrängen lässt Denjenigen, die uns, sei es heute oder morgen, bestürmen, darin einzuwilligen, dass die Kunst sich einer Disziplin, die wir für absolut unvereinbar mit ihren Mitteln halten, unterwerfen solle, erteilen wir eine unwiderrufliche Absage und setzen ihnen unseren festen Willen entgegen, uns an folgende Formel zu halten: volle Freiheit für die Kunst.

Wir erkennen natürlich dem revolutionären Staat das Recht zu, sich gegen die aggressive bourgeoise Reaktion zu verteidigen, selbst dann, wenn sie sich mit dem Banner der Wissenschaft und der Kunst schützt. Aber zwischen diesen aufgezwungenen und vorübergehenden Maßnahmen revolutionärer Selbstverteidigung und der Anmaßung, das intellektuelle Schaffen der Gesellschaft zu kommandieren, klafft ein Abgrund. Wenn die Revolution um der Förderung ihrer materiellen Produktivkräfte willen gehalten ist, ein sozialistisches Regime mit zentraler Kontrolle zu errichten, muss sie von Anfang an für das künstlerische Schaffen ein anarchistisches Regime persönlicher Freiheit errichten und garantieren. Keine Autorität, kein Zwang, nicht die Spur einer Weisung! Die verschiedenen Gelehrtengesellschaften und Künstlerkollektive, die daran arbeiten werden, so großartige Aufgaben wie nie zuvor zu lösen, können hervortreten und fruchtbaren Arbeitseifer entfalten, allein auf der Basis einer freien schöpferischen Freundschaft, ohne den geringsten Zwang von außen.

Aus dem bisher Gesagten geht eindeutig hervor, dass wir, wenn wir die Freiheit des künstlerischen Schaffens verteidigen, keineswegs den politischen Indifferentismus rechtfertigen wollen, und dass wir nicht im entferntesten daran denken, eine sogenannte reine Kunst, die gewöhnlich den mehr als unreinen Zielen der Reaktion dient, wieder zum Leben erwecken zu wollen. Nein, wir haben von der Leistung der Kunst eine zu hohe Meinung, als dass wir ihr einen Einfluss auf das Schicksal der Gesellschaft abstreiten würden. Wir halten es für die höchste Aufgabe der Kunst in unserer Zeit, bewusst und aktiv an der Vorbereitung der Revolution mitzuwirken. Allerdings kann der Künstler dem emanzipatorischen Kampf nur dann dienen, wenn er subjektiv von dessen gesellschaftlichem und individuellem Gehalt durchdrungen ist, wenn er dessen Bedeutung und Dramatik in seine Nerven aufgesogen hat und wenn er ungezwungen darum bemüht ist, seiner Innenwelt eine künstlerische Inkarnation zu geben.

In der gegenwärtigen Zeit, die durch die Agonie des demokratischen wie faschistischen Kapitalismus gekennzeichnet ist, sieht sich der Künstler, auch ohne dass er seiner abweichenden Überzeugung notwendigerweise manifesten Ausdruck verleiht, infolge des Entzugs aller Publikationsmedien von dem Verlust seines Rechts auf Leben und Fortführung seiner Arbeit bedroht. Es ist natürlich, dass er sich dann den stalinistischen Organisationen zuwendet, die es ihm ermöglichen, seiner Isolierung zu entkommen. Aber sein Verzicht auf alles, was seine persönliche Botschaft ausmachen kann, und die zutiefst entwürdigenden Gefälligkeiten, die diese Organisationen als Gegenleistung für gewisse materielle Vorteile von ihm verlangen, untersagen es ihm, in ihnen zu verbleiben, vorausgesetzt, seine Niedergeschlagenheit ist nicht bereits groß genug, den Widerstand seines Charakters zu brechen. Von diesem Augenblick an muss er begreifen, dass sein Platz woanders ist, nicht bei denen, die die Sache der Revolution und zwangsläufig zugleich die Sache des Menschen verraten, sondern bei denen, die in unerschütterlicher Treue an den Prinzipien dieser Revolution festhalten, bei denen, die mithin allein in der Lage sind, sie zu ihrer Vollendung zu führen und durch sie dann den freien Ausdruck aller Arten menschlichen Genies zu garantieren.

Das Ziel dieses Aufrufs besteht darin, eine Plattform zu finden, um die revolutionären Verfechter der Kunst zusammenzuschließen, der Revolution mit den Mitteln der Kunst zu dienen und die Freiheit der Kunst gegen die Usurpatoren der Revolution zu verteidigen. Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass diese Plattform breit genug ist für die Begegnung einigermaßen verschiedener ästhetischer, philosophischer und politischer Richtungen. Marxisten können hier mit Anarchisten Hand in Hand gehen, unter der Bedingung, dass die einen wie die anderen unerbittlich mit dem reaktionären Polizeigeist brechen, sei er nun in der Person Josef Stalins vertreten oder seines Vasallen Garcia Oliver.

Tausende und Abertausende isolierter Denker und Künstler, deren Stimme von dem widerwärtigen Tumult angeworbener Fälscher erstickt wird, sind heute über die ganze Welt verstreut. Zahlreiche kleine lokale Zeitschriften bemühen sich darum, junge Kräfte, die nach neuen Wegen suchen und nicht nach Subventionen, um sich zu versammeln. Jede fortschrittliche Richtung in der Kunst wird von dem Faschismus als Entartung gegeißelt. Alles freie Kunstschaffen wird von den Stalinisten als faschistisch erklärt. Die freie revolutionäre Kunst muss sich zum Kampf gegen die reaktionären Verfolgungen vereinigen und ihre Existenzberechtigung laut verkünden. Eine solche Vereinigung ist das Ziel der „Internationalen Föderation freier revolutionärer Kunst", deren Gründung wir für nötig halten.

Wir haben keinesfalls die Absicht, jede der in diesem Aufruf enthaltenen Ideen, die wir selbst nur für einen ersten Schritt auf dem neuen Wege halten, anderen aufzudrängen. Alle Repräsentanten der Kunst, alle ihre Freunde und Verteidiger, die sich der Einsicht in die Notwendigkeit dieses Aufrufs nicht verschließen können, fordern wir auf, unverzüglich ihre Stimme zu erheben. Wir richten dieselbe Aufforderung an alle unabhängigen linken Organe, die bereit sind, an der Gründung der Internationalen Föderation und an der Beratung über ihre Themen und Aktionspläne mitzuwirken.

Sobald ein erster internationaler Kontakt durch Presse und Korrespondenz hergestellt ist, werden wir zur Organisation bescheidener lokaler und nationaler Kongresse übergehen. Der nächste Schritt wird die Veranstaltung eines Weltkongresses sein, der offiziell die Gründung der Internationalen Föderation vornehmen soll.

Was wir wollen:

die Freiheit der Kunst – für die Revolution;

die Revolution – für die endgültige Befreiung der Kunst. Mexiko,

am 25. Juli 1938

Andre Breton, Diego Rivera.

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