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Leo Trotzki 19380602 Bemerkungen zur Tschechoslowakei

Leo Trotzki: Bemerkungen zur Tschechoslowakei

[eigene Übersetzung nach Writings of Leon Trotsky (1937-38), S. 353-357]

Frage: Was wäre die Taktik der Bolschewiki-Leninisten in der Tschechoslowakei angesichts der Aggression durch das faschistische Deutschland? Wo unterscheidet sich diese Taktik von der zum Beispiel in Spanien und China verfolgten?

Trotzki: Warum wird die Frage speziell für die Tschechoslowakei gestellt? Wir können die Frage bei Frankreich oder jedem anderen Land stellen. Ich glaube, dass die Tschechoslowakei ein kleines Land ist und dass im Fall eines Krieg selbst seine Existenz direkt bedroht wäre. Aber der Unterschied zwischen der Tschechoslowakei und Frankreich liegt in der Tatsache, dass Frankreich Kolonien hat. Es ist ein imperialistisches Land. Die Tschechoslowakei hat keine Kolonien. Aber dieser Unterschied ist nur scheinbar. Die Tschechoslowakei ist in jeder Hinsicht ein imperialistisches Land. Es ist ein hochentwickeltes Land, bei dem das Finanzkapital in einer sehr konzentrierten Industrie eine führende Stellung hat, der sehr wichtigen Kriegsindustrie. Deshalb ist die Tschechoslowakei ein entwickeltes kapitalistisches Land, aber nicht nur das.

In der Tschechoslowakei haben wir jetzt eine Bevölkerung von etwa 15 Millionen. Es ist kein großes Land. Unter europäischen Bedingungen ist es ein mittelgroßes Land. Von den 15 Millionen sind nur 6 Millionen Tschechen. Die offizielle Statistik erfasst Tschechen und Slowaken zusammen (sie sind verschiedene Nationen). Dieses Zusammenfassen von ihnen wird nur gemacht, um einen falschen Eindruck zu erzeugen. Die Slowaken mit einer Zahl von etwa 3,5 Millionen fühlen sich als unterdrücktes Volk und kämpfen für Autonomie. Dann zählen die Deutschen, die Sudetendeutschen, 3,5 Millionen, und die Ungarn fast eine Million. Sieben- oder achthunderttausend sind Ruthenen (tatsächlich ein Teil Russlands). Dann gibt es Polen und Juden, aber in kleinen Zahlen. Man sieht, sie haben sechs Millionen Tschechen und 9 Millionen verschiedener Minderheiten, die von den Tschechen unterdrückt werden – schwer unterdrückt. In einem nationalen und wirtschaftlichen Sinne haben die Tschechen verschiedene Privilegien und während der letzten Krise wurde der Druck auf die Minderheiten schrecklich.

Sie sehen, dass sie zwar keine ausländischen Kolonien, aber innere Kolonien haben, und das arithmetische Verhältnis zwischen den Tschechen und den inneren Kolonien ist ungefähr das selbe wie zwischen Frankreich und seinen Kolonien, das selbe sechs zu neun. Jetzt möchten die Stalinisten diese 15 Millionen Menschen zur Verteidigung der Demokratie zwingen, aber sie sprechen nicht von der Tatsache, dass die tschechische Demokratie in dieser Epoche, wo alle Demokratien einen zweifelhaften Status haben, eine der fadenscheinigsten ist. Diese nationalen Minderheiten unter der nationalen Unterdrückung der tschechischen Demokratie sollten die Demokratie nicht mehr verteidigen als die Algerier oder Marokkaner oder die Inder bezüglich Englands. Wenn wir jetzt die Tschechoslowakei als „Demokratie“ für sechs Millionen in Frage stellen – dann ist sie für 9 Millionen eine Unterdrückungsmaschine.

Diese allgemeinen Statistiken sind als Einleitung zu den politischen Fragen notwendig. In der ersten Periode, mit der Schaffung der Tschechoslowakei nach dem Krieg, schauten die bürgerlichen Klassen der Minderheitenvölker mit Hoffnung auf den neuen tschechischen Staat. Sie wurden patriotisch. Ungarn, Deutsche, Ruthenen, Slowaken wurden alle aus folgendem Grund patriotisch: Zuerst war es profitabler, im Lager der Sieger zu sein (und darüber hinaus war die Lage in Deutschland aus dem Blickwinkel der Bourgeoisie sehr schlecht). Daher haben wir das Paradox, dass die deutsche Minderheit nicht in Deutschland, sondern in Prag nach Hilfe suchte. Zweitens war die Lage in Deutschland sehr beunruhigend. In Ungarn hatten wir 1919 sogar eine Sowjetrepublik und es war nicht klar, ob die Konterrevolution stabil war.

Dies war der Grund, warum die deutsche Bourgeoisie zu tschechischen Patrioten wurde … die bürgerliche Klasse ist in dieser Hinsicht flexibler, indem sie ihre nationalen Sympathien und Antipathien ihren wirtschaftlichen Interessen unterordnet. Mit den Arbeitern war es nicht so. Es war nur möglich, die Arbeiter der verschiedenen Nationen in der Tschechoslowakei zu vereinigen, indem man sie als Klasse auf der Grundlage ihrer Klasseninteressen trennte, das heißt auf der Grundlage von revolutionärer Politik, was unversöhnliche Opposition gegen den Staat bedeutete. Das war der einzige Weg, auf dem man ein vereinigtes Proletariat in der Tschechoslowakei haben konnte. Aber dank der nationalen kleinbürgerlichen Vorurteile und der von diesen Vorurteilen bestimmten falschen Politik und den Interessen der Oberschicht der Arbeitern, wurde die Arbeiterpartei in nationale Lager gespalten. Wir hatten eine tschechische Sozialdemokratie, eine deutsche Sozialdemokratie, deutsche Gewerkschaften und tschechische Gewerkschaften. Dann wurden diese Gewerkschaften von den Tschechen geteilt, um verschiedenen politischen Parteien zu entsprechen, aber das ist ein zweites Element in dem ganzen Bild.

Jetzt hat sich die Lage seit der Machteroberung durch Hitler geändert. Deutschland wurde ein fester, starker Staat mit einer Bevölkerung von 68 Millionen oder so und die in gewissem Grade unterdrückte deutsche Bourgeoisie in der Tschechoslowakei begann, ihre Hoffnungen und ihren Patriotismus nicht auf Prag, sondern auf Berlin zu setzen. Die Gründe dafür sind völlig klar. Es ist ein großes Feld für kapitalistische Entwicklung, es ist deutsch – die selbe Sprache, keine nationale Unterdrückung, eine sicherere Existenz. Es ist ein stärkerer Staat. Aber was sehr wichtig ist, ist dass diese Wendung des deutschen Kapitals nach Deutschland das deutsche Kleinbürgertum anzog und nicht nur das deutsche Kleinbürgertum, sondern auch die deutschen Arbeiter und die deutsche Sozialdemokratie. Warum? Weil die deutschen Arbeitern in der Tschechoslowakei nichts zu hoffen haben. Sie sehen, dass die vorherrschende Bourgeoisie von den tschechischen Gewerkschaften unterstützt wird. Sie sind demokratisch (patriotisch) und die deutschen Arbeitern, die als Klasse und als Nationalität doppelt unterdrückt sind, können nicht tschechische Patrioten werden.

Darüber hinaus gibt es in der Tschechoslowakei keine revolutionäre Partei mehr, weil die Stalinisten auch Patrioten sind. Sie sagen zu den 9 Millionen: „Ihr müsst die tschechische Regierung unterstützen“. Sie können die tschechischen Arbeitern täuschen, aber es ist nicht so leicht mit den deutschen Arbeitern. Durch diese demokratisch-patriotische Politik verwandelten sie wie die Sozialdemokraten der Zweiten Internationale die deutsche Bevölkerung in Kanonenfutter für den Faschismus und wir sehen in den jüngsten Meldungen, dass Henlein den größten Erfolg bei den Wahlen hatte. Er beherrscht die Deutschen voll. Es ist ein klassisches Beispiel für die Tatsache, dass die Volksfront Faschismus herbeiführt. Nicht nur die sudetendeutschen Arbeiter, sondern auch die unteren Klassen der Städte könnten gegen den Staat gewonnen werden, aber der Demokratie-Patriotismus der Volksfront teilt die Arbeiter entlang nationaler Linien und verwandelt sie in Kanonenfutter. Das ist die Lage in der Tschechoslowakei.

Was muss jetzt in Friedens- wie in Kriegszeiten die Politik der proletarischen Partei sein? Natürlich unversöhnliche Opposition gegen den Staat, die Bourgeoisie und das Vorbringen der Losung, dass der Hauptfeind in unserem eigenen Lande ist – die herrschende Klasse. Man kann sagen, dass diese Politik Hitler helfen würde. Das selbe kann von Frankreich und jedem anderen Land gesagt werden. Aber die Tschechoslowakei ist selbst jetzt ein Gefangener Hitlers. Seit dem „Anschluss“ [Österreichs] hat Deutschland auf der Landkarte die Tschechoslowakei in der Zange. Sie hat keinen Zugang zu ihren Verbündeten im Westen und ist ein Land, das Nahrungsmittel, Weizen etc. importieren muss. Es ist ein Land, das aus dem militärischen Blickwinkel der Katastrophe geweiht ist. Die Tschechoslowakei kann nur durch eine Revolution in Europa, einschließlich der Tschechoslowakei und Deutschlands, gerettet werden. Wenn wir theoretisch die defätistische Position der Arbeiterklasse akzeptieren können, kann die Arbeiterklasse den militärischen Zwecken Hitlers dienen. Sie kann zuerst seinem Vorteil dienen. Aber das ist eine Frage nur auf der militärischen Landkarte. Es ist eine Frage, nicht nur, wo die militärischen Linien während des Krieges gezogen werden, sondern auch des Schicksals der Nationen und Völker.

Die Tschechoslowakei kann nur durch Revolution vor dem Faschismus gerettet werden und Revolution kann in Deutschland nur durch eine revolutionäre Haltung der Arbeiter in anderen Ländern hervorgerufen werden, weil die Stärke Hitlers darin besteht, dass „wir besiegt wurden“, „wie keine Kolonien haben“, „wir ein unterdrücktes Volk sind“, „in allen anderen Ländern die Arbeiter die Bourgeoisie unterstützen“. In der Tschechoslowakei stattete die Volksfront Henlein mit seiner Armee aus. Die Volksfrontpolitik in Frankreich und der Tschechoslowakei ist der beste Dienst, den man Hitler machen kann. Wenn wir eine revolutionäre Partei hätten, könnte sie die Ideologie der Faschisten untergraben, soweit sie sich auf die Arbeiter auswirken könnte. Auf der anderen Seite hat eine revolutionäre Politik einen ansteckenden Charakter. Stellen wir uns vor, wir hätten eine revolutionäre Politik in der Tschechoslowakei und dass sie zur Machteroberung führte. Es wäre für Hitler hundert mal gefährlicher als patriotische Unterstützung der Tschechoslowakei. Deshalb ist es für unsere Genossen absolute Pflicht, eine defätistische Politik zu verfolgen.

In China haben wir kein imperialistisches Land, sondern ein rückständiges Land, das von Japan in ein Kolonialland verwandelt wurde. (Ich vergaß, hinzuzufügen, dass die Tschechoslowakei ein Teilhaber eines Weltkonzerns imperialistischer Länder ist. Wenn sie keine Kolonien hat, hat sie doch Kredite von Großbritannien. Diese Kredite sind wegen Großbritanniens Kolonien möglich; ebenso mit militärischer Unterstützung Frankreichs. Sie ist ein Kettenglied in der imperialistischen Kette.) China ist ein isoliertes Land und für die Imperialisten ist es nur eine Frage der Aufteilung Chinas.

Es gibt keine Analogie zwischen China und Spanien. In Spanien haben wir einen Bürgerkrieg zwischen zwei Gruppen der Bourgeoisie. Weil die Arbeitern keine unabhängige Politik haben, sehen wir den Sieg des Faschismus. Es ist ein Bürgerkrieg in einem kapitalistischen Land. Es ist eine andersartige Lage. Es ist in dieser Hinsicht wichtig, dass es im inneren Maßstab des Staates einen Kampf zwischen zwei Teilen der herrschenden Klasse geben kann, welche Herrschaftsform die beste ist. Aber sie beuten das Volk aus, egal ob in der faschistischen oder demokratischen Form. In diesem Sinne ist es ein Kampf zwischen Faschismus und Demokratie. Aber wenn zwei Länder in einen Krieg treten, mit seinen internationalen Komplikationen, kann es nie ein Krieg zwischen Demokratie und Faschismus sein. Der Krieg geht immer um Kolonien etc. Deshalb ist es völlig dumm zu sagen, die Tschechoslowakei würde in den Krieg treten, um die Demokratie zu retten. Wenn die Tschechoslowakei siegt, ist es wahrscheinlich, dass eine Militärclique die unterdrückten Minderheiten beherrschen wird, die während dem Krieg sehr rebellisch werden würden. Sie kann nur als absolutistische Militärmaschine siegreich sein.

Was für die Tschechoslowakei wichtig ist, ist nicht ihre wirtschaftlich-politisch-militärische Rettung. Was soll die Losung sein? Die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa. Für die Tschechoslowakei ist das eine brennende Frage. Die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa können nur durch eine unabhängige Politik der Arbeiterklasse organisiert werden, und diese unabhängige Politik der Arbeiterklasse kann die Bourgeoisie nicht unterstützen.

Frage: Was sollte die Politik der Bolschewiki-Leninisten sein, wenn die Regierung Truppen in die deutschen Gebiete schickt? Würde eine revolutionäre Partei dagegen kämpfen?

Trotzki: Das ist eine Frage von praktischen Möglichkeiten. Wenn wir es machen können, wenn wir die Stärke haben, dann kämpfen wir natürlich gegen das Senden von Truppen in das deutsche Gebiet.

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