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Leo Trotzki 19380919 Der Vertrag von Versailles, die Quelle eines neuen Krieges

Leo Trotzki: Der Vertrag von Versailles, die Quelle eines neuen Krieges

[Unser Wort. Halbmonatszeitung der IKD, Jahrgang 6, Nr. 6-7 (90-91), Mitte Dezember 1938, S. 1 f.]

19. September

Diese Zeilen werden inmitten des beunruhigenden Durcheinanders der Diplomatie anlässlich der Sudetenfrage geschrieben.

In der eitlen Hoffnung, die Widersprüche des Weltimperialismus zu lösen, ist Chamberlain durch die Lüfte geflogen. Wird der Krieg ausbrechen oder wird es den Herren der Welt gelingen, ihn für einige Zeit hinauszuschieben? Die Frage ist noch nicht endgültig entschieden.

Keiner dieser Herren will den Krieg. Alle fürchten seine Konsequenzen. Aber sie müssen kämpfen, sie können dem Krieg nicht ausweichen. Ihre Wirtschaft, ihre Politik, ihr Militarismus, alles ist auf den Krieg orientiert.

Heute erfahren wir durch die Kabel, dass man in allen Kirchen der sogenannten «zivilisierten» Welt öffentliche Gebete für den Frieden abhält.

Sie kommen zur rechten Zeit, um eine ganze Reihe pazifistischer Kundgebungen, Bankette und Kongresse zu krönen. Schwer zu sagen, welche dieser beiden Methoden wirksamer ist: fromme Gebete oder pazifistisches Geblök. Wie dem auch sei, es sind die einzigen Hilfsmittel, die dem alten Kontinent bleiben.

Wenn ein unwissender Bauer betet, wünscht er den Frieden in aller Aufrichtigkeit. Wenn ein einfacher Arbeiter, irgendein Bürger eines unterdrückten Landes sich gegen den Krieg ausspricht, können wir es glauben: er wünscht aufrichtig den Frieden, obwohl er nur sehr selten weiß, wie ihn erhalten. Was die Bourgeois betrifft, so beten sie in ihren Kirchen nicht für den Frieden, sondern für die Erhaltung und Ausbreitung ihrer Absatzmärkte, ihrer Kolonien – wenn möglich mit friedlichen Mitteln (das ist billiger), sonst aber mit Waffengewalt. Die imperialistischen «Pazifisten» ihrerseits (Jouhaux, Lewis und Co.) sind nicht um den Frieden besorgt, sondern um die Mittel, Sympathie und Unterstützung für ihren nationalen Imperialismus zu gewinnen

Es gibt 3½ Millionen Sudetendeutsche. Wenn der Krieg ausbricht, wird die Zahl der Toten wahrscheinlich 4 oder 5 mal, vielleicht sogar 10 mal höher sein, mit einer entsprechenden Anzahl von Verwundeten, Siechen und Wahnsinnigen, dazu noch eine lange Reihe von Epidemien und anderem tragischen Folgen. Indessen kann diese Erwägung weder das eine noch das andere der beiden gegnerischen Lager im geringsten beeinflussen. Für diese Banditen handelt es sich letzten Endes gar nicht um das Schicksal der 3½ Millionen Deutschen, sondern um ihren Einfluss in Europa und in der Welt.

Hitler spricht von der «Nation», der «Rasse», den Banden des «Bluts». In Wirklichkeit ist sein Plan der, die militärische Basis Deutschlands zu verbreitern, bevor er den Kampf um die Beherrschung der Kolonien einleitet. Das nationale Banner ist hier nur das Feigenblatt des Imperialismus.

Das Prinzip der «Demokratie» spielt im anderen Lager die gleiche Rolle. Die Imperialisten verwenden es nur, um ihre Erpressungen, ihre Übergriffe, ihre Räubereien zu verdecken und neue vorzubereiten. Die Frage der Sudetendeutschen hat das ins hellste Licht gerückt. Die Demokratie bedeutet das Recht jeder Nation, über sich selbst zu bestimmen. Aber indem sie den Versailler Vertrag zusammenbrauten, traten die hochqualifizierten Repräsentanten der demokratischsten Staaten die man finden konnte (England, Frankreich, das ehemalige parlamentarische Italien und schließlich die Vereinigten Staaten) dieses Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen, der Österreicher und vieler anderer nationaler Gruppen (Ungarn, Bulgaren, Ukrainer) auf schändlichste Weise mit Füßen.

Der Faschismus, die Frucht von Versailles

Für die strategischen Bedürfnisse des siegreichen Ententeimperialismus überlieferten diese Herren Demokraten mit Unterstützung der 2. Internationale die Sudetendeutschen dem jungen tschechischen Imperialismus. Während dieser Zeit erwartete die deutsche Sozialdemokratie, unterwürfig wie ein Pudel, die Gunst der Entente-Demokratien. Sie wartete, wartete – vergebens. Man kennt die Resultate: das demokratische Deutschland, außerstande unter dem Joch des Versailler Vertrags weiterzuleben, warf sich aus Verzweiflung auf den Weg des Faschismus. Es scheint, dass die tschechoslowakische Demokratie, die unter dem erlauchten Schutz der französisch-englischen Demokratie und der «sozialistischen» Bürokratie der UdSSR verblieb, die volle Möglichkeit gehabt hat, den Sudetendeutschen die praktischen Vorteile eines demokratischen Regimes über die faschistisches Regime zu beweisen. Wenn diese Aufgabe durchgeführt worden wäre, hätte Hitler selbstverständlich nicht wagen können, irgend einen Versuch gegenüber den Sudeten zu unternehmen. Seine Hauptstärke besteht gegenwärtig gerade darin, dass die Sudetendeutschen selbst ihren Anschluss an Deutschland fordern. De tschechoslowakische Demokratie, die mit ihrem habgierigen Pohzeiregime vorgab, den Faschismus zu bekämpfen und dessen schlimmste Methoden imitierte, flößt ihnen diesen Wunsch ein.

Das überdemokratische Österreich war vor kurzem noch Gegenstand unermüdlicher Besorgnis der demokratischen Entente, die sich die Aufgabe gestellt zu haben schien, Österreich nicht zu gestatten, zwischen Leben und Tod zu wählen. Dem machte Österreich ein Ende, indem es sich in die Arme Hitlers warf. Das war auf niedrigerer Stufenleiter die Wiederholung der Erfahrung mit der Saar, die, nachdem sie 15 Jahre in den Händen Frankreichs verblieben war und alle Vorteile der imperialistischen Demokratie erprobt hatte, den Wunsch ausdrückte, an Deutschland rückgegliedert zu werden. Diese Lektionen der Geschichte geben mehr Auskünfte als die Resolutionen sämtlicher pazifistischen Kongresse.

Der Hohn der «Rasseneinheit»

Nur erbärmliche Schwätzer oder faschistische Schurken können gelegentlich des Schicksals der Saar, Österreichs und der Sudetendeutschen von den «heiligen Banden des Blutes» sprechen. Die Schweizerdeutschen z.B. wünschen gar nicht, sich unter Hitlers Gewalt zu stellen, weil sie sich als Herren In ihrem Lande fühlen. Hitler würde es sich zehnmal überlegen, sie anzugreifen. Es ist notwendig, dass die Bürger eines demokratischen Landes in unerträglichen politischen und sozialen Bedingungen leben, um das Bedürfnis nach einem faschistischen Regime zu empfinden. Die Saardeutschen fühlten sich in Frankreich als Bürger dritten Ranges, ebenso wie die Deutschen Österreichs im Versailler Europa und die Sudetendeutschen In der Tschechoslowakei. «Das kann nicht schlimmer sein», sagten sie sich. In Deutschland erleiden sie wenigstens die Unterdrückung in Gleichheit mit dem Rest der Bevölkerung. Unter diesen Bedingungen ziehen die Massen die Gleichheit in der Knechtschaft der Erniedrigung in der Ungleichheit vor. Die gegenwärtige Stärke Hitlers besteht im Bankrott der imperialistischen Demokratie. Der Faschismus ist eine Form der Verzweiflung der kleinbürgerlichen Massen, die auf ihrem Marsch in den Abgrund einen Teil des Proletariats mitreißen. Man weiß, dass die Verzweiflung entsteht, wenn alle Rettungswege abgeschnitten sind. Der dreifache Bankrott der Demokratie, der Sozialdemokratie und der Komintern waren die Voraussetzungen für den Sieg des Faschismus. Alle drei haben ihr Schicksal mit dem des Imperialismus verknüpft. Alle drei überliefern die Massen nur der Verzweiflung und sichern so den Triumph des Faschismus.

Das Schweigen über Moskau

Das Hauptziel der bonapartistischen Stalinclique während der letzten Jahre war, den imperialistischen «Demokratien» den Beweis ihres weisen Konservativismus und ihrer Ordnungsliebe zu liefern. Für die Bedürfnisse der Erhaltung der Allianz mit den imperialistischen Demokratien hat die Stalinclique die Komintern zum höchsten Grad der politischen Prostitution geführt. Zwei große «Demokratien», von Mussolini unterstützt, versuchten Prag zu überreden, Hitler Konzessionen zu machen. Es ist klar, dass Prag keine andere Lösung blieb, als sich diesem «freundschaftlichen» Rat zu unterwerfen. Niemand dachte an Moskau. Niemand interessierte sich auch nur im geringsten für die Meinung Stalins oder die seines Litwinow. Die Isolierung des Kreml ist größer als jemals – das ist das Resultat der widerlichen Demütigungen und der blutigen Verworfenheit im Dienste des Imperialismus, vor allem in Spanien.

Welches sind die Ursachen dieser Sachlage? Es gibt deren zwei. Die erste besteht darin, dass Stalin obwohl unwiderruflich ein Lakai des «demokratischen» Imperialismus geworden, es indessen nicht wagt, sein Werk in der USSR zu vollenden, d.h. das Privateigentum wiederherzustellen und das Außenhandelsmonopol aufzuheben. Und solange er diese Maßnahmen nicht ergreift, bleibt er in den Augen der Imperialisten ein revolutionärer Emporkömmling, ein verdächtiger Abenteurer, ein blutiger Fälscher. Die imperialistische Bourgeoisie wagt nicht, auf Stalin eine bedeutende Summe zu verwetten.

Wohlverstanden, sie könnte ihn augenblicklich für ihre begrenzten Ziele ausnutzen. Aber hier taucht die zweite der Ursachen auf, die den Kreml isolieren: im Kampf um ihre Selbsterhaltung hat die völlig entfesselte bonapartistische Clique die Armee und die Flotte ganz zu Grunde gerichtet, die Wirtschaft erschüttert, das Land demoralisiert und erniedrigt. Das patriotische Gebrüll der defätistischen Clique findet nirgendwo Kredit. Es ist klar, dass die Imperialisten nicht einmal für militärische Ziele von zweitrangiger Bedeutung auf Stalin setzen wollen.

Der «Kampf» gegen den Krieg

In einer solchen internationalen Situation überqueren die Agenten der GPU den Ozean und vereinigen sich im gastfreundlichen Mexiko, um gegen den Krieg zu «kämpfen». Das Rezept ist einfach. Einigung der Demokratien gegen den Faschismus. Gegen den Faschismus allein! Jouhaux, der würdige Agent der französischen Börse drückt sich so aus: «Ich bin hier eingeladen, um gegen den Faschismus und nicht gegen den Imperialismus zu kämpfen». Derjenige, welcher gegen den «demokratischen» Imperialismus kämpft, d.h. für die Freiheit der französischen Kolonien, ist ein Verbündeter des Faschismus, ein Agent Hitlers, ein Trotzkist.

350 Millionen Hindus müssen sich gutwillig der Sklaverei unterwerfen, um die englische Demokratie zu stützen. Währenddessen liefern die Herren Englands, auf gleichem Fuße mit den Sklavenhaltern des «demokratischen» Frankreich, das spanische Volk an Händen und Füssen gefesselt an Franco aus. Die Völker Lateinamerikas müssen mit Dankbarkeit den Fuß des angelsächsischen Imperialismus ertragen, aus dem einzigen Grunde, weil dieser mit einem demokratischen Stiefel bekleidet ist. Ehrlosigkeit, Schande, Zynismus ungeheuerlichster Art!

Die Demokratien der Versailler Entente verhalfen Hitler zum Sieg durch die schmachvolle Unterdrückung des besiegten Deutschland. Heute arbeiten die der 2. und 3. Internationale angehörenden Lakaien des demokratischen Imperialismus mit all ihren Kräften an der Verstärkung des Hitler-Regimes in der kommenden Zeit. Denn was bedeutet ein Block der imperialistischen Demokratien gegen Hitler in Wirklichkeit?

Nichts als eine noch erdrückendere Umschmelzung der Versailler Ketten und eine noch blutigere Tyrannei. Wohlverstanden, kein einziger deutscher Arbeiter sehnt sich danach. Der Sturz Hitlers durch die Revolution ist eine Sache, die Erwürgung Deutschlands durch einen imperialistischen Krieg ist etwas ganz und gar anderes. Die Heulereien der «pazifistischen» Schakale des demokratischen Imperialismus sind infolgedessen die beste Begleitmusik der Hiltlerschen Reden. «Ihr seht», sagt er dem deutschen Volk, «selbst die Sozialdemokraten und Kommunisten aller feindlichen Länder unterstützen ihre Armee und ihre Diplomatie: schließt ihr eure Reihen nicht um mich, euren Führer, erwartet euch nur die Knechtschaft». Stalin, der Lakai des demokratischen Imperialismus und alle Lakaien Stalins, – Jouhaux, Toledano und Co. – die die schon durch ihre Kapitulationen betrogenen deutschen Arbeiter abzuschrecken vorgeben, erweisen sich als die besten Helfer Hitlers.

Werkzeuge des Imperialismus.

Die tschechoslowakische Krise ließ klar hervortreten, dass der Faschismus nicht als ein unabhängiger Faktor existiert, sondern nur eines der Werkzeuge des Imperialismus, ist. Die «Demokratie» ist ein anderes. Der Imperialismus bedient sich des einen und des anderen, er verwendet sie je nach seinen Bedürfnissen: bald richtet er sie gegeneinander, bald sichert er ihnen ein freundschaftliches Zusammenleben. Der Kampf gegen den Faschismus im Bündnis mit dem Imperialismus, läuft genau darauf hinaus, sich mit dem Teufel zu verbünden, um seine Hörner und Krallen zu bekämpfen.

Der Kampf gegen den Faschismus erfordert vor allein die Verjagung der Agenten des «demokratischen» Imperialismus aus den Reihen der Arbeiterklasse. Nur das revolutionäre Proletariat Frankreichs, Englands, Amerikas und der SU kann, seinem eigenen Imperialismus und der Moskauer Bürokratie, die dessen Agent ist, einen erbarmungslosen Kampf erklärend, in den Herzen der deutschen und italienischen Arbeiter die Hoffnung wieder erwecken und im selben Zug Hunderte Millionen dem Imperialismus in der ganzen Welt unterworfener Sklaven und Halbsklaven für seine Sache gewinnen. Um den Frieden zwischen den Völkern zu sichern, müssen wir dein Imperialismus die vielfältigen Masken abreißen, unter denen er sich verbirgt. Diese Aufgabe kann nur die proletarische Revolution erfüllen. Um die Revolution vorzubereiten, müssen sich die Arbeiter und unterdrückten Völker beharrlich gegen die imperialistische Bourgeoisie richten und sich zu einer einzigen internationalen revolutionären Armee vereinigen. An diesem großen Befreiungswerk arbeitet heute nur die 4. Internationale. Das bringt ihr den Hass der Faschisten, der imperialistischen «Demokratien», der Sozialpatrioten und der Lakaien des Kreml. Dieser Hass ist das sicherste Zeichen, dass sich unter ihrem Banner alle Unterdrückten vereinigen werden.

25. September

Als militärische Macht verschwindet die ČSR von der Karte Europas. Der Verlust von 2 oder 3 Millionen tief feindseliger Deutschen wäre im militärischen Sinne ein Vorteil, wenn er nicht auch den Verlust der natürlichen Grenzen bedeutete. Die böhmischen Festungswälle stürzen beim Klang der faschistischen Trompeten zusammen. Deutschland gewinnt nicht nur 3½ Millionen Deutsche, sondern auch eine solide Grenze.

Wenn die ČSR bisher als eine militärische Brücke für die UdSSR nach Europa betrachtet wurde, so wird sie jetzt für Hitler eine Brücke nach der Ukraine. Die internationale «Garantie» für die Unabhängigkeit der restlichen Tschechei wird eine unvergleichlich geringere Bedeutung haben als die selbe Garantie vor dem Weltkrieg für Belgien.

Der Zusammenbruch der ČSR ist der Zusammenbruch der internationalen Politik Stalins während der letzten 5 Jahre. Die Moskauer Idee einer «Allianz der Demokratien» für einen Kampf gegen den Faschismus ist eine leblose Fiktion. Niemand will für die Sache eines abstrakten demokratischen Prinzips kämpfen: alle kämpfen für materielle Interessen. England und Frankreich ziehen es vor, den Appetit Hitlers lieber auf Kosten Österreichs und der Tschechei zu befriedigen als auf Kosten ihrer eigenen Kolonien.

Die militärische Allianz zwischen Frankreich und der SU verliert von jetzt ab 75% ihres Wertes und kann leicht 100% verlieren. Mussolinis alte Idee eines Viererpaktes der europäischen Mächte unter dem Stab Italiens und Deutschlands. ist eine Realität geworden, wenigstens bis zur nächsten Krise.

Der furchtbare Schlag, der der internationalen Position der SU versetzt wurde, ist der Preis der fortgesetzten blutigen Säuberung, die die Armee enthauptet, die Wirtschaft desorganisiert und die Schwäche des stalinschen Regimes enthüllt hat. Die Quelle der defätistischen Politik ist der Kreml. Wir können jetzt mit Sicherheit voraussehen, dass die Sowjetdiplomatie um den Preis neuer Rückzüge und Kapitulationen, die ihrerseits den Zusammenbruch der stalinistischen Oligarchie nur beschleunigen können, eine Annäherung an Hitler versuchen wird.

Das Kompromiss auf dem Leichnam der ČSR garantiert nicht im Geringsten den Frieden, sondern schafft für Hitler nur eine günstigere Basis für den kommenden Krieg. Chamberlains Flüge durch die Lüfte werden in die Geschichte als ein Symbol der diplomatischen Zuckungen eingehen, die das zerrissene, gierige und ohnmächtige Europa am Vorabend eines neuen Gemetzels erschüttert haben, das den ganzen Planeten in Blut tauchen wird.

Leo Trotzki

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