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Leo Trotzki 19380519 Diskussionen über das Übergangsprogramm

Leo Trotzki: Diskussionen über das Übergangsprogramm

[Nach Der Todeskampf der Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale. Essen 1975, S. 57-61]

Notiz des Stenografen: Dies ist eine außerordentlich flüchtige Skizze einer Unterredung mit Trotzki. Er war – der Dringlichkeit seiner anderen Interessen angemessen – nicht in der Lage, seine Erklärung vor der Verschickung zu korrigieren, wie er es gewöhnlich tut.

19. Mai 1938

Trotzki: Es ist sehr wichtig, einige Gesichtspunkte, die das Programm im allgemeinen betreffen, zu präzisieren. Kann ein Programm folgerichtig aufgebaut werden? Einige Genossen sagen, dass dieser Programmentwurf in einigen Teilen nicht ausreichend dem Stand der Mentalität, der Stimmung der amerikanischen Arbeiter angemessen sei. Hier müssen wir uns selber fragen, ob das Programm der Mentalität der Arbeiter angepasst werden soll oder den gegenwärtigen objektiven ökonomischen und sozialen Bedingungen des Landes. Das ist die wichtigste Frage.

Wir wissen, dass die Mentalität jeder Klasse der Gesellschaft durch die objektiven Bedingungen, durch die Produktivkräfte, durch den ökonomischen Stand des Landes bestimmt ist, aber dies Bestimmtsein wird nicht direkt widergespiegelt. Die Mentalität ist im allgemeinen rückständig verschoben im Verhältnis zur ökonomischen Entwicklung. Diese Verzögerung kann kurz oder lang sein. In normalen Zeiten, wenn die Entwicklung langsam ist, kann diese Verzögerung – in großer Linie – keine verhängnisvollen Ergebnisse produzieren. Diese Verzögerung zeigt in einem großen Ausmaß an, dass die Arbeiter nicht den Aufgaben gewachsen sind, die ihnen durch die objektiven Bedingungen gestellt werden; doch in Zeiten der Krise kann diese Verzögerung verhängnisvoll sein. In Europa, z.B. nahm sie die Form des Faschismus an. Faschismus ist die Strafe für die Arbeiter, wenn es ihnen nicht gelingt, die Macht zu übernehmen.

Jetzt treten die Vereinigten Staaten in eine vergleichbare Lage ein, mit vergleichbaren Gefahren einer Katastrophe. Die objektive Lage des Landes ist in jeder Hinsicht und sogar mehr als in Europa reif für die sozialistische Revolution und für den Sozialismus, reifer als die jedes anderen Landes auf der Welt. Die politische Rückständigkeit der amerikanischen Arbeiter ist sehr groß. Dies ist der Ausgangspunkt für unsere Aktivität. Das Programm muss die objektiven Aufgaben der Arbeiterklasse eher ausdrücken als die Rückständigkeit der Arbeiter. Es muss die Gesellschaft widerspiegeln so wie sie ist und nicht die Rückständigkeit der Arbeiterklasse. Es ist ein Werkzeug, die Rückständigkeit zu überwinden und zu besiegen. Deshalb müssen wir in unserem Programm die ganze Schärfe der sozialen Krise der kapitalistischen Gesellschaft ausdrücken, einschließlich in erster Linie die der Vereinigten Staaten. Wir können die objektiven Bedingungen – die nicht von uns abhängen – nicht aufschieben, modifizieren. Wir können nicht garantieren, dass die Massen die Krise lösen werden, aber wir müssen die Lage ausdrücken, wie sie ist, und das ist die Aufgabe des Programms.

Eine andere Frage ist wie man dies Programm den Arbeitern darlegt. Das ist eine mehr pädagogische Aufgabe und Frage der Terminologie, wie man den Arbeitern die aktuelle Lage darlegt. Politik muss an die Produktivkräfte angepasst werden, d. h. an die hohe Entwicklungsstufe der Produktivkräfte, die Lähmung dieser Produktivkräfte, die wachsende Arbeitslosigkeit, die mehr und mehr zur größten sozialen Plage wird. Die Produktivkräfte können sich nicht mehr entfalten. Die wissenschaftliche Technologie entwickelt sich, aber die materiellen Kräfte verfallen. Das zeigt an, dass die Gesellschaft ärmer und ärmer wird, die Zahl der Arbeitslosen größer und größer, die Bourgeoisie hat keine andere Lösung als Faschismus, und die Vertiefung der Krise wird die Bourgeoisie dazu zwingen, die Überreste der Demokratie zu vernichten und sie durch den Faschismus ersetzen. Das amerikanische Proletariat wird für seinen Mangel an Zusammenhalt, Willensmacht, Mut bestraft werden durch eine zwanzig- oder dreißigjährige faschistische Schule. Mit einer eisernen Peitsche wird die Bourgeoisie die amerikanischen Arbeiter ihre Aufgaben lehren. Amerika ist nur eine gewaltige Wiederholung der europäischen Erfahrung. Wir müssen dies verstehen.

Dies ist ernst, Genossen. Es ist die Perspektive für die amerikanischen Arbeiter. Nach Hitlers Sieg, als Trotzki ein Pamphlet schrieb, Wohin treibt Frankreich? Lachten die französischen Sozialdemokraten. „Frankreich ist nicht Deutschland.“ Vor Hitlers Sieg schrieb er Pamphlete, die die deutschen Arbeiter warnten und die Sozialdemokraten lachten. „Deutschland ist anders als Italien.“ Sie waren nicht aufmerksam.

Jetzt kommt Frankreich jeden Tag einem faschistischen Regime näher. Dasselbe ist absolut wahr für die Vereinigten Staaten. Amerika ist fett. Dieses Fett aus der Vergangenheit erlaubt Roosevelt seine Experimente, aber nur eine Zeitlang. Die allgemeine Lage ist vollkommen analog; die Gefahr ist dieselbe. Es ist eine Tatsache, dass die amerikanische Arbeiterklasse einen kleinbürgerlichen Geist hat, revolutionäre Solidarität missen lässt, an einen hohen Lebensstandard gewöhnt ist, dass die Mentalität der amerikanischen Arbeiterklasse nicht der Realität von heute, sondern den Erinnerungen an gestern entspricht.

Jetzt hat sich die Lage radikal geändert. Was kann eine revolutionäre Partei in dieser Situation tun? In erster Linie ein klares, aufrichtiges Bild der objektiven Lage geben, der historischen Aufgaben, die dieser Lage entspringen – unabhängig davon –‚ ob die Arbeiter heute reif dafür sind oder nicht. Unsere Aufgaben hängen nicht von der Mentalität der Arbeiter ab. Die Aufgabe ist, die Mentalität der Arbeiter zu entwickeln. Das sollte das Programm formulieren und gegenüber den fortgeschritteneren Arbeitern darstellen. Einige werden sagen: Gut, das Programm ist ein wissenschaftliches Programm; es entspricht der objektiven Lage, aber wenn die Arbeiter dieses Programm nicht akzeptieren werden, wird es steril sein. Möglich. Aber das zeigt nur an, dass die Arbeiter zermalmt werden, weil die Krise auf keine andere Weise als durch die sozialistische Revolution gelöst werden kann. Wenn der amerikanische Arbeiter das Programm nicht rechtzeitig akzeptiert, wird er gezwungen werden, das Programm des Faschismus zu akzeptieren. Und wenn wir mit unserem Programm vor der Arbeiterklasse erscheinen, können wir keine Garantie geben, dass sie unser Programm akzeptieren. Wir können dafür keine Verantwortung übernehmen … wir können nur Verantwortung für uns selbst übernehmen.

Wir müssen den Arbeitern die Wahrheit sagen, dann werden wir die besten Elemente gewinnen. Ob diese besten Elemente fähig sein werden, die Arbeiterklasse zu führen, sie zur Macht zu bringen oder nicht, weiß ich nicht. Ich hoffe, dass sie dazu fähig sein werden, aber ich kann die Garantie nicht geben. Aber sogar in dem schlechtesten Fall, wenn die Arbeiterklasse ihr Bewusstsein nicht genügend mobilisiert – sogar in dem schlechtesten Fall, wenn die Arbeiterklasse dem Faschismus zum Opfer fällt, werden die besten Elemente sagen: „Wir wurden von dieser Partei gewarnt; es war eine gute Partei!“ Und eine große Tradition wird in der Arbeiterklasse bleiben.

Dies ist die schlechteste Variante. Deshalb sind all die Argumente falsch, dass wir nicht so ein Programm vorlegen können, weil das Programm nicht der Mentalität der Arbeiter entspricht. Sie drücken nur Furcht vor der Lage aus. Natürlich kann ich, wenn ich meine Augen schließe, ein freundliches, rosiges Programm schreiben, das jedermann akzeptieren wird. Aber es wird nicht der Lage entsprechen. Ich glaube, dass dieses elementare Argument von außerordentlicher Bedeutung ist. Die Mentalität der Klasse des Proletariats ist rückständig, aber die Mentalität ist nicht der Art wie Fabriken, Gruben, Eisenbahnen, sondern sie ist beweglicher, und unter den Schlägen der objektiven Krise, den Millionen von Arbeitslosen, kann sie sich rapide ändern.

Gegenwärtig genießt das amerikanische Proletariat auch einige Vorteile, weil es politisch rückständig ist. Das scheint ein bisschen paradox zu sein, aber nichtsdestoweniger ist es absolut korrekt. Die europäischen Arbeiter hatten eine lange Vergangenheit sozialdemokratischer und Komintem-Tradition, und diese Traditionen sind eine konservative Kraft. Sogar nach verschiedenen Verraten durch die Partei bleibt der Arbeiter loyal, denn er hat ein Gefühl von Dankbarkeit für diese Partei, die ihn zum ersten Mal aufrüttelt und ihm eine politische Erziehung gab. Dies ist ein Handikap für eine neue Orientierung. Die amerikanischen Arbeiter haben den Vorteil, dass sie in ihrer Mehrheit nicht politisch organisiert waren und erst jetzt beginnen, in den Gewerkschaften organisiert zu werden. Dies gibt der revolutionären Partei die Möglichkeit. sie unter den Schlägen der Krise zu mobilisieren.

Wie schnell wird das gehen? Dies kann niemand vorhersehen. Wir können nur die Richtung sehen. Niemand streitet ab, dass die Richtung eine richtige ist. Dann haben wir die Frage, wie das Programm den Arbeitern zu vermitteln ist. Dies ist natürlich sehr wichtig. Wir müssen die Politik mit Massenpsychologie und Pädagogik verbinden und eine Brücke zu ihrem Bewusstsein bauen. Nur die Erfahrung kann uns zeigen, wie man in diesem oder jenem Teil des Landes voranschreitet. Für eine gewisse Zeit müssen wir die Aufmerksamkeit der Arbeiter auf eine Losung lenken: gleitende Skala der Löhne und der Arbeitszeit.

Der Empirismus der amerikanischen Arbeiter hat politischen Parteien großen Erfolg mit ein oder zwei Losungen gebracht, wie z.B. single tax, bimetallism, die sich wie ein Lauffeuer unter den Massen verbreiteten. Wenn sie sehen, wie die Allheilmittel keine Lösung bringen, warten sie auf ein neues. Dann können wir eins vorweisen, das ehrlich, Teil unseres Programms und nicht demagogisch ist, sondern völlig der Situation entspricht. Offiziell haben wir 13, möglicherweise 14 Millionen Arbeitslose, in Wirklichkeit ungefähr 16 bis 20 Millionen, und die Jugend ist der Misere vollkommen ausgeliefert. Mr. Roosevelt besteht auf öffentlichen Arbeiten. Aber wir bestehen darauf, dass sie, zusammen mit dem Bergbau, den Eisenbahnen etc., alle Arbeitslosen aufnehmen. Und dass jedermann die Möglichkeit haben muss, in annehmbaren Verhältnissen zu leben, nicht schlechter als jetzt, und wir fordern, dass Mr. Roosevelt und seine Experten solch ein Programm öffentlicher Arbeiten vorschlagen, damit jeder Arbeitsfähige zu annehmbaren Löhnen arbeiten kann. Dies ist möglich mit einer gleitenden Skala der Löhne und der Arbeitszeit. Überall, in allen Grundeinheiten, müssen wir diskutieren, wie dieser Gedanke vermittelt werden kann. Dann müssen wir eine konzentrierte agitatorische Kampagne beginnen, so dass jedermann weiß, dass dies das Programm der Socialist Workers Party ist.

Ich glaube, dass wir die Aufmerksamkeit der Arbeiter auf diesen Punkt lenken können. Natürlich ist das nur ein Punkt. Zu Beginn entspricht diese Losung völlig der Situation. Aber die anderen können hinzugefügt werden, so wie die Entwicklung voranschreitet.

Die Bürokraten werden das bekämpfen. Denn wenn diese Losung in den Massen populär wird, werden sich faschistische Tendenzen im Gegensatz dazu entwickeln. Wir werden sagen, dass wir Verteidigungstrupps entwickeln müssen. Ich glaube, zu Beginn wird diese Losung (gleitende Skala der Löhne und der Arbeitszeit) angenommen werden. Was ist diese Losung? In Wirklichkeit ist sie das Arbeitssystem in der sozialistischen Gesellschaft. Die gesamte Zahl der Arbeiter geteilt durch die gesamte Zahl der Stunden. Aber wenn wir das ganze sozialistische System darbieten, wird es dem gewöhnlichen Amerikaner als utopisch, als etwas aus Europa, erscheinen. Wir bieten es als eine Lösung für diese Krise an, die ihr Recht zu essen, zu trinken und in anständigen Wohnungen zu leben, sichern muss. Es ist das Programm des Sozialismus, aber in sehr populärer und einfacher Form.

Frage: Wie wird die Kampagne geleitet werden?

Trotzki: Die Kampagne wird ungefähr in dieser Weise laufen: Ihr beginnt die Agitation, sagen wir in Minneapolis. Ihr gewinnt eine oder zwei Gewerkschaften für das Programm. Ihr sendet Delegierte in andere Städte zu den betreffenden Gewerkschaften. Wenn ihr mit dieser Vorstellung zu der Partei herausgerückt seid, habt ihr den halben Kampf gewonnen. Ihr sendet sie nach New York, nach Chicago usw. zu den entsprechenden Gewerkschaften. Wenn ihr einigen Erfolg habt, könnt ihr einen besonderen Kongress einberufen. Dann agitiert ihr, um die Bürokraten der Gewerkschaften zu zwingen, eine Position dafür oder dagegen einzunehmen. Eine großartige Gelegenheit für Propaganda eröffnet sich.

Frage: Können wir die Losung tatsächlich verwirklichen?

Trotzki: Es ist leichter, den Kapitalismus zu stürzen, als diese Forderung im Kapitalismus zu verwirklichen. Nicht eine unserer Forderungen wird im Kapitalismus verwirklicht werden. Darum nennen wir sie Übergangsforderungen. Sie schaffen eine Brücke zur Mentalität der Arbeiter und dann eine materielle Brücke zur sozialistischen Revolution. Die ganze Frage ist, wie man die Arbeiter zum Kampf mobilisiert. Die Frage der Spaltung von Beschäftigten und Unbeschäftigten kommt auf. Die Vorstellung einer festen Klasse von Arbeitslosen, einer Klasse von Parias – solch eine Vorstellung ist genau die psychologische Vorbereitung für den Faschismus. Wenn diese Trennung in den Gewerkschaften nicht überwunden wird, ist die Arbeiterklasse verdammt.

Frage: Viele unserer Genossen verstehen nicht, dass die Losungen nicht verwirklicht werden können.

Trotzki: Das ist eine sehr wichtige Frage. Dieses Programm ist nicht eine neue Erfindung eines einzigen Mannes. Es ist aus der langen Erfahrung der Bolschewiki abgeleitet. Ich möchte betonen, dass es nicht die Erfindung eines einzigen Mannes ist, dass es aus der langen kollektiven Erfahrung der Revolutionäre kommt. Es ist die Anwendung alter Prinzipien auf diese Lage. Es darf nicht als fest wie Eisen angesehen werden, sondern als an die Lage anpassbar.

Die Revolutionäre sind immer der Meinung, dass die Reformen und Errungenschaften nur ein Nebenprodukt des revolutionären Kampfes sind. Wenn wir sagen, wir fordern nur das, was sie geben können, wird uns die herrschende Klasse nur ein Zehntel oder nichts von dem geben, was wir fordern. Wenn wir mehr fordern und unsere Forderungen aufdrängen können, sind die Kapitalisten gezwungen, das Maximum zu geben. Je größer und militanter der Geist der Arbeiter ist, desto mehr wird gefordert und gewonnen. Es sind keine sterilen Losungen; sie sind Druckmittel gegenüber der Bourgeoisie und werden sofort die größtmöglichen materiellen Erfolge erzielen. In der Vergangenheit, während einer aufsteigenden Periode des amerikanischen Kapitals, gewannen die amerikanischen Arbeiter auf nichts anderem als auf der Grundlage empirischer Kämpfe, Streiks usw. Sie waren sehr militant. Unter gegebenen Tatsachen des aufsteigenden Kapitals war der Kapitalismus daran interessiert, die amerikanischen Arbeiter zufrieden zu stellen. Jetzt ist die Lage vollkommen verschieden. Jetzt haben die Kapitalisten keine Aussicht auf Prosperität. Wegen der großen Zahl von Arbeitslosen haben sie keine Angst vor Streiks. Deshalb muss das Programm beide Teile der Arbeiterklasse umschließen und vereinigen. Die gleitende Skala der Löhne und der Arbeitszeit tut genau das.

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