Leo Trotzki‎ > ‎1938‎ > ‎

Leo Trotzki 19380830 Ein großer Erfolg - neu

Leo Trotzki: Ein großer Erfolg

[Nach Der Todeskampf der Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale. Essen 1975, S. 105-108]

Wenn diese Zeilen in der Presse erscheinen, wird die Konferenz der IV. Internationale ihre Arbeit wahrscheinlich abgeschlossen haben. Die Einberufung der Konferenz ist ein sehr großer Erfolg. Die unversöhnliche revolutionäre Tendenz, die allem Anschein nach solch einer Verfolgung ausgesetzt ist wie keine andere politische Tendenz in der Weltgeschichte, hat wieder einen Beweis ihrer Macht gegeben. Alle Hindernisse überwindend hat sie unter den Schlägen ihrer allmächtigen Feinde ihre internationale Konferenz einberufen. Diese Tatsache liefert einen unanfechtbaren Beweis für die tiefe Lebensfähigkeit und unumstößliche Ausdauer der internationalen Bolschewiki-Leninisten. Die bloße Möglichkeit einer erfolgreichen Konferenz wurde in erster Linie vorn Geist des revolutionären Internationalismus gewährleistet, der alle unsere Sektionen erfüllt.

Tatsächlich ist es notwendig, den internationalen Bindungen der proletarischen Avantgarde die größte Bedeutung beizumessen, um den internationalen revolutionären Stab zu sammeln; zu einer Zeit, wo Europa und die ganze Welt in der Erwartung des herannahenden Krieges leben. Die Dämpfe des nationalen Hasses und der Rassenverfolgungen bilden heute die politische Atmosphäre unseres Planeten. Faschismus und Rassismus sind nur die extremsten Auswüchse des Chauvinismus, der die unerträglichen Klassenwidersprüche zu überwinden oder zu ersticken sucht. Das Wiederaufleben des Sozialpatriotismus in Frankreich und anderen Ländern oder vielmehr seine neue und offene schamlose Äußerung gehört zur selben Kategorie, wie der Faschismus, aber mit einer Anpassung an die demokratische Ideologie oder ihre Reste.

Zu demselben Kreis von Ereignissen zählt auch die offene Pflege des Nationalismus in der UdSSR: Bei Versammlungen, in der Presse und in den Schulen. Es handelt sich in keinster Weise um den so genannten „sozialistischen Patriotismus“, das heißt, die Verteidigung der Oktobererrungenschaften gegenüber dem Imperialismus. Nein, es ist ein erneutes Hervortreten der patriotischen Traditionen des alten Russland. Auch hier besteht dieselbe Aufgabe, über-soziale, klassenneutrale Werte zu schaffen, um dadurch umso erfolgreicher die Arbeiter zu disziplinieren und sie dem gefräßigen bürokratischen Ungeziefer zu unterwerfen. Die offizielle Ideologie des gegenwärtigen Kreml beruft sich auf die Großtaten des Prinzen Alexander Newski, den Heroismus der Armee von Suworow-Rymnikski, indem sie die Augen vor der Tatsache verschließt, dass dieser „Heroismus“ auf der Versklavung und Unwissenheit der Volksmassen beruhte und dass aus eben demselben Grund die alte russische Armee nur in den Kämpfen gegen die noch rückständigeren asiatischen Völker oder die schwachen und verfallenen Länder an der Westgrenze siegen konnte. Auf der anderen Seite hat das tapfere zaristische Militär in Konflikten mit den fortgeschrittenen Ländern Europas immer seinen Bankrott bewiesen. Offensichtlich ist die Erfahrung des letzten imperialistischen Krieges im Kreml schon halb zu Grabe getragen worden, genauso wie dieser die nicht unwichtige Tatsache vergessen hat, dass die Oktoberrevolution direkt aus der Niederlage erwuchs. Was interessierte das alles schon Thermidorianer und Bonapartisten? Sie brauchen nationale Fetische. Alexander Newski muss Nikolai Jeschow zur Hilfe kommen.

Die Theorie des Sozialismus in einem Lande, die das Programm des internationalen revolutionären Kampfes des Proletariats liquidierte, musste in einer Welle des Nationalismus in der UdSSR enden und musste eine entsprechende Welle derselben Art in den „kommunistischen“ Parteien anderer Länder hervorbringen. Noch vor zwei bis drei Jahren hielt man daran fest, dass die Sektionen der Komintern nur in den so genannten „demokratischen“ Ländern ihre Regierungen unterstützen müssen, die bereit sind, die UdSSR im Kampf gegen den Faschismus zu unterstützen. Die Aufgabe der Verteidigung des Arbeiterstaates war als Rechtfertigung des Sozialpatriotismus bestimmt. Heute erklärt Browder, der sich nicht mehr und nicht weniger als die anderen „Führer“ der Stalintern prostituiert hat, vor dem Untersuchungskomitee des Senats, dass er, Browder, und seine Partei im Falle eines Krieges zwischen USA und UdSSR auf der Seite ihres eigenen demokratischen Vaterlandes stünden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde diese Antwort von Stalin eingegeben. Aber der Fall ändert sich dadurch nicht. Verrat hat seine eigene Logik. Nachdem sie den Weg zum Sozialpatriotismus betreten hat, ist die Dritte Internationale nun offenbar dabei, den Händen der Kremlclique entrissen zu werden. „Kommunisten“ sind Sozialimperialisten geworden, und sie unterscheiden sich von ihren „sozialdemokratischen“ Verbündeten und Mitstreitern nur darin, dass ihr Zynismus größer ist.

Der große Verrat

Verrat hat seine eigene Logik. Die Dritte Internationale ist im Gefolge der Zweiten als eine Internationale total untergegangen. Sie ist nicht mehr länger in der Lage, irgendeine Art von Initiative in der Sphäre der proletarischen Weltpolitik zu entfalten. Es ist natürlich kein Zufall, dass die Komintern nach 15 Jahren fortschreitender Demoralisierung ihre völlige innere Verrottetheit gerade zur Zeit des herannahenden Weltkrieges enthüllt hat, d. h. genau in dem Moment, wo das Proletariat seine internationale revolutionäre Vereinigung am dringendsten braucht.

Die Geschichte hat vor der IV. Internationale riesige Hindernisse aufgehäuft. Die dem Tode geweihte Tradition wurde gegen die lebendige Revolution gerichtet. Eineinhalb Jahrhunderte lang haben die Ausstrahlungen der großen Französischen Revolution in den Händen der Bourgeoisie und ihrer kleinbürgerlichen Agenten – der Zweiten Internationale – als Mittel gedient (und sie tun es noch), um den revolutionären Willen des Proletariats zu brechen und zu paralysieren. Nun nutzt die Dritte Internationale die unvergleichlich frischeren und mächtigeren Traditionen der Oktoberrevolution für dasselbe Ziel aus. Die Erinnerung an die erste siegreiche Erhebung des Proletariats gegen die bürgerliche Demokratie dient den Usurpatoren, um die bürgerliche Demokratie vor der proletarischen Erhebung zu retten. Angesichts des Herannahens des neuen imperialistischen Krieges haben die sozialpatriotischen Organisationen ihre Kräfte mit dem linken Flügel der Bourgeoisie unter dem Etikett der Volksfront verbunden. Diese stellt nichts anderes dar, als einen Versuch von Seiten der Bourgeoisie, in ihrem Todeskampf das Proletariat noch einmal unter seine Herrschaft zu zwingen – genauso wie es die revolutionäre Bourgeoisie im aufsteigenden Kapitalismus getan hatte. Was einst eine progressive historische Manifestation war, erscheint nun als eine empörende reaktionäre Farce. Aber während die „Volksfronten“ impotent sind, einen Kapitalismus zu heilen, der bis ins Innerste verrottet ist, während sie unfähig sind, nur der militärischen Aggression des Faschismus Einhalt zu gebieten – das Beispiel Spaniens ist voll symbolischer Bedeutung! – erweisen sie sich dennoch als machtvoll genug, um Illusionen in den Reihen der Arbeiter zu säen, ihren Kampfeswillen zu paralysieren und zu brechen, und schaffen auf diese Weise die größten Schwierigkeiten auf dem Weg der IV. Internationale.

Die Arbeiterklasse, besonders in Europa, ist noch im Rückzug oder bestenfalls in einem Zustand der Erwartung. Die Niederlagen sind noch zu frisch und ihre Zahl längst nicht erschöpft. In Spanien haben sie ihre schärfste Gestalt angenommen. Das sind die Bedingungen, in denen sich die IV. Internationale entwickelt. Ist es ein Wunder, dass ihr Wachstum viel langsamer vor sich geht, als wir es gerne hätten? Dilettanten, Scharlatane und Dummköpfe – unfähig, die Dialektik der historischen Ebbe und Flut zu untersuchen – haben schon mehr als einmal ihre Meinung eingebracht: „Die Ideen der Bolschewiki-Leninisten mögen vielleicht richtig sein, aber sie sind unfähig, eine Massenorganisation zu bilden.“ Als ob eine Massenorganisation unter jeglichen und allen Bedingungen entstehen könnte! Als ob ein revolutionäres Programm von uns nicht erfordern würde, in der Minderheit zu bleiben und in einer Epoche der Reaktion gegen den Strom zu schwimmen! Der Revolutionär ist wertlos, der seine eigene Ungeduld als Messrute für das Tempo einer Epoche benutzt. Nie zuvor wurde der Weg der revolutionären Weltbewegung von solch riesigen Hindernissen blockiert, wie es heute am Vorabend einer neuen Epoche größter revolutionärer Ausbrüche der Fall ist. Eine richtige marxistische Einschätzung kommt zu dem Schluss, dass wir – trotz allem – unschätzbare Erfolge in den vergangenen Jahren erzielt haben.

Die Entstehung der „Linken Opposition“ ist 15 Jahre her. Richtige Arbeit auf internationaler Ebene dauert noch nicht einmal volle zehn Jahre. Die Vorgeschichte der IV. Internationale zerfällt in drei Stadien. Im Verlaufe der ersten Periode setzte die „Linke Opposition“ noch Hoffnung auf die Möglichkeit der Regeneration der Komintern und betrachtete sich selbst als seine marxistische Fraktion. Die empörende Kapitulation der Komintern in Deutschland, taktisch von allen Sektionen angenommen, stellte uns offen vor die Notwendigkeit, die IV. Internationale aufzubauen. Dennoch erwiesen sich unsere kleinen Organisationen, die durch individuelle Auswahl im Prozess des theoretischen Kritizismus praktisch außerhalb der Arbeiterbewegung gewachsen waren, als unvorbereitet für unabhängige Aktivität. Die zweite Periode wird durch die Anstrengung gekennzeichnet, ein tatsächliches politisches Milieu für diese isolierten Propagandagruppen zu finden, sogar um den Preis eines zeitweiligen Verzichts auf formale Unabhängigkeit. Der Eintritt in die sozialistischen Parteien verstärkte sofort unsere Reihen, obwohl die Ereignisse in Bezug auf die Qualität nicht so groß waren, wie sie hätten sein können. Aber dieser Eintritt bedeutete ein äußerst wichtiges Stadium in der politischen Erziehung unserer Sektionen, testete sie selbst und ihre Ideen, die zum ersten Mal den Realitäten des politischen Kampfes und seinen lebendigen Erfordernissen gegenüberstanden. Als Ergebnis der gemachten Erfahrung wurden unsere Kader um einen Kopf größer. Eine nicht unwichtige Errungenschaft war auch die Tatsache, dass wir die Gemeinschaft mit unverbesserlichen Sektierern, Wirrköpfen und Tricksern aufkündigten, die gewohnt sind, sich jeder neuen Bewegung in ihren Anfangsphasen anzuschließen, nur um alles in ihrer Macht stehende zu tun, um sie zu kompromittieren und paralysieren.

Natürlich können die Stadien der Entwicklung unserer Sektionen in den verschiedenen Ländern nicht chronologisch übereinstimmen. Nichtsdestotrotz kann die Bildung der amerikanischen SWP als Endpunkt der zweiten Periode angesehen werden. Seitdem ist die IV. Internationale direkt mit den Aufgaben der Massenbewegung konfrontiert. Das Programm der Übergangsperiode ist eine Widerspiegelung dieser wichtigen Wendung. Seine Bedeutung liegt darin, dass es – anstatt einen von Anfang an gegebenen theoretischen Plan zu liefern – die Bilanz aus der schon gesammelten Erfahrung unserer nationalen Sektionen zieht und auf der Basis dieser Erfahrung weitere internationale Perspektiven eröffnet.

Die Annahme dieses Programms, die von einer langen vorausgegangenen Diskussion oder besser, einer ganzen Reihe von Diskussionen vorbereitet und abgesichert wurde, stellt unsere größte Errungenschaft dar. Die IV. Internationale ist jetzt die einzige internationale Organisation, die nicht nur die treibenden Kräfte der imperialistischen Epoche klar in Rechnung stellt, sondern mit einem System von Übergangsforderungen gewappnet ist, die fähig sind, die Massen für einen revolutionären Kampf um die Macht zu vereinigen. Wir brauchen keine Selbstbetrügereien. Die Diskrepanz zwischen unseren heutigen Kräften und den Aufgaben von morgen wird von uns klarer gesehen als von unseren Kritikern. Aber die grausame und tragische Dialektik unserer Epoche arbeitet zu unseren Gunsten. Auf dem Höhepunkt ihrer Erbitterung und Empörung werden die Massen keine andere Führung finden als diejenige, die ihnen die IV. Internationale bietet.

30. August 1938

Kommentare