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Leo Trotzki 19380830 Ein großer Erfolg

Leo Trotzki: Ein großer Erfolg

[Unser Wort. Halbmonatszeitung der IKD, Jahrgang 6, Nr. 6-7 (90-91), Mitte Dezember 1938, S. 1]

Wenn diese Zeilen im Druck erscheinen, hat die Konferenz der 4. Internationale ihre Arbeit wahrscheinlich schon beendet. Die Abhaltung dieser Konferenz repräsentiert einen großen Erfolg. Eine intransigente revolutionäre Richtung, die Verfolgungen ausgesetzt ist, wie sie zweifellos keine andere politische Richtung in der Weltgeschichte je erduldet hat, hat von neuem ihre Kraft gezeigt: alle Hindernisse überwindend, hat sie unter den Schlägen mächtiger Feinde ihre internationale Versammlung abgehalten. Diese Tatsache ist ein untrügliches Zeugnis der hohen Vitalität und der unerschütterlichen Hartnäckigkeit der Bolschewiki-Leninisten aller Länder. Die Möglichkeit des Erfolgs der Konferenz wurde vor allem durch den Geist des revolutionären Internationalismus gesichert, der alle unsere Sektionen erfüllt. Man muss in der Tat der internationalen Verbindung der proletarischen Avantgarde einen sehr hohen Wert beimessen, um einen revolutionären Generalstab der Welt zu versammeln, während Europa und die ganze Welt in Erwartung des herannahenden Kriegs leben. Die Ausdünstungen des Nationalhasses und der Rassenverfolgungen bilden gegenwärtig die Atmosphäre unseres Planeten. Faschismus und Rassismus sind nur der extremste Ausdruck dieses chauvinistischen Bacchanals, dessen Ziel es ist, die unerträglichen Klassengegensätze zu verwischen oder zu ersticken. Das Wiederaufleben des Sozialpatriotismus in Frankreich und anderen Ländern, genauer dessen neue, offene und schamlose Offenbarung, gehört in dieselbe Kategorie wie der Faschismus und ist nur der demokratischen Ideologie oder ihren Trümmern angepasst.

Zur selben Gruppe von Erscheinungen gehört die Tatsache, dass in der SU der Nationalismus offen betrieben wird in den Versammlungen, in der Presse, in den Schulen. Es handelt sich keineswegs um den „sozialistischen Patriotismus“, d.h. die Verteidigung der Errungenschaften der Oktoberrevolution gegen den Imperialismus. Nein, es handelt sich nur darum, die patriotischen Traditionen des alten Russland zu erneuern. Die Aufgabe besteht auch hier darin, übersoziale, über den Klassen stehende Werte zu schaffen, mit deren Hilfe man die Arbeiter um so besser disziplinieren und den gierigen bürokratischen Kanaillen unterwerfen kann. Die offizielle Ideologie des heutigen Kreml beruft sich auf die Heldentaten des Prinzen Alexander Newski, auf den Heroismus der Armee von Suwarow-Rimnikski oder Kutusow-Smolenski, und schließt die Augen vor der Tatsache, dass dieser „Heroismus“ auf der Leibeigenschaft und Unwissenheit der Volksmassen beruhte, und dass aus eben diesem Grunde die alte russische Armee nur in den Kämpfen gegen noch zurückgebliebenere asiatische Völker oder schwache und zerfallende Nachbarstaaten siegreich war. In Konflikten mit den vorgeschrittenen Ländern Europas hat sich die tapfere zaristische Armee immer als schwach erwiesen. Es ist klar, dass man im Kreml die Erfahrung des imperialistischen Krieges schon begraben hat, genau so wie man die nicht unwichtige Tatsache vergaß, dass die Oktoberrevolution direkt aus der Niederlage hervorgegangen ist. Was bedeutet das alles für die Thermidorianer und Bonapartisten? Sie brauchen nationale Fetische. Alexander Newski soll Nikolaus Jeschow zur Hilfe kommen.

Die Theorie des Sozialismus in einem Lande, die das Programm des proletarischen internationalen revolutionären Kampfes liquidiert, konnte nicht verfehlen, mit einer nationalen Flut in der SU zu enden und eine entsprechende Flut in den „kommunistischen“ Parteien der anderen Länder hervorzurufen. Noch vor zwei oder drei Jahren behauptete man, dass die Sektionen der Komintern ihre Regierungen einzig in den so genannten „demokratischen“ Ländern unterstützen sollten, die bereit waren, der SU Beistand anzubieten. Die Aufgabe, den Arbeiterstaat zu verteidigen, sollte die Rechtfertigung des Sozialpatriotismus sein. Nun hat Browder, der nicht mehr und nicht weniger prostituiert als die übrigen Häupter der Stalintern ist, vor der Senatsuntersuchungskommission soeben erklärt, dass er, Browder, und seine Partei sich im Falle eines Krieges zwischen den Vereinigten Staaten und der SU sich auf der Seite ihres demokratischen Vaterlandes befinden würden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Antwort von Stalin angeregt wurde. Aber das ändert nichts an der Sache. Der Verrat hat seine Logik. Nachdem sie sich auf den Weg des Sozialpatriotismus begeben hat, entgleitet die 3. Internationale jetzt offenbar den Händen der Kremlclique. Die „Kommunisten“ sind Sozialpatrioten geworden und unterscheiden sich von ihren sozialdemokratischen Verbündeten und Konkurrenten nur durch größeren Zynismus.

Der Verrat hat seine Logik: Die 3. Internationale ist, nach der 2., als Internationale endgültig gestorben. Sie ist nicht mehr fähig, irgendeine Initiative auf dem Gebiet der internationalen Politik des Proletariats zu übernehmen. Die Tatsache ist gewiss nicht zufällig, dass die Komintern nach 15 Jahren fortschreitender Demoralisierung ihre endgültige innere Fäulnis gerade in dem Augenblick enthüllt, in dem sich der Weltkrieg nähert, d.h. gerade, wenn das Proletariat mehr als je seines internationalen revolutionären Zusammenhangs bedarf.

Die Geschichte hat vor der 4. Internationale ungeheure Schwierigkeiten aufgehäuft. Die tote Tradition erhebt sich gegen die lebendige Revolution. Nach 1½ Jahrhunderten dient die Ausstrahlung der großen französischen Revolution der Bourgeoisie und ihrer kleinbürgerlichen Agentur – der 2. Internationale – noch immer dazu, den revolutionären Willen des Proletariats einzuengen und zu paralysieren. Die 3. Internationale beutet jetzt mit demselben Ziel die unvergleichlich frischeren und mächtigeren Traditionen der Oktoberrevolution aus. Die Erinnerung an die erste siegreiche Erhebung des Proletariats gegen die bürgerliche Demokratie dient jetzt in den Händen der Usurpatoren dazu, die bürgerliche Demokratie vor der Erhebung des Proletariats zu retten.

Angesichts des herannahenden neuen imperialistischen Krieges haben die sozialpatriotischen Organisationen ihre Kräfte mit denen des linken Flügels der Bourgeoisie unter dem Namen der Volksfront vereinigt, der nichts anderes als einen Versuch darstellt, sich das Proletariat von neuem unterzuordnen, wie es die revolutionäre Bourgeoisie zu Beginn des Kapitalismus getan hatte. Was einst eine fortschrittliche historische Erscheinung war, erscheint heute vor uns als eine schändliche reaktionäre Farce. Aber wenn die „Volksfronten“ ohnmächtig sind, selbst die militärische Offensive des Faschismus im Zaume zu halten – das Beispiel Spaniens ist voll symbolischer Bedeutung! – so sind sie trotz allem mächtig genug, in den Reihen der Arbeiter Illusionen zu säen, ihren Kampfwillen zu paralysieren und zu zerstören, und gerade dadurch der 4. Internationale die größten Schwierigkeiten in den Weg zu legen.

Die Arbeiterklasse befindet sich, besonders in Europa, noch immer im Zustand des Rückzuges oder bestenfalls des Abwartens. Die Niederlagen sind noch zu frisch und ihre Serie hat sich noch nicht erschöpft. Ihre schärfste Form haben sie in Spanien angenommen. Unter diesen Bedingungen entwickelt sich die 4. Internationale. Ist es da erstaunlich, dass ihr Wachstum langsamer fortschreitet als wir es möchten? Dilettanten, Scharlatane und Schwachköpfe, die nicht fähig sind, in die Dialektik der historischen Ebben und Fluten einzudringen, haben mehr als einmal versucht, ihr Urteil zu fällen: „Die Ideen der Bolschewiki-Leninisten sind vielleicht richtig, aber sie sind unfähig, eine Massenorganisation aufzubauen“. Als ob eine Massenorganisation unter beliebigen Bedingungen entstehen könnte! Als ob ein revolutionäres Programm in einer Reaktionsepoche nicht verpflichtete, in der Minderheit zu bleiben und gegen den Strom zu schwimmen! Nichts wert ist der Revolutionär, der die Rhythmen seiner Epoche an seiner eigenen Ungeduld misst. Noch niemals war der Weg der internationalen revolutionären Bewegung durch so ungeheure Hindernisse verrammelt wie gegenwärtig, am Vorabend einer neuen Epoche furchtbarer revolutionärer Erschütterungen. Doch zwingt eine genaue marxistische Einschätzung der Situation den Schluss auf, dass wir trotz allem in den letzten Jahren unschätzbare Erfolge errungen haben.

Die russische „Linksopposition“ ist vor 15 Jahren entstanden. Die wirkliche Arbeit in der internationalen Arena ist noch nicht 10 Jahre alt. Die Vorgeschichte der 4. Internationale teilt sich auf natürliche Weise in drei Etappen ein. Während der ersten Etappe rechnete die „Linksopposition“ noch mit der Möglichkeit einer Regenerierung der Komintern und betrachtete sich als ihre marxistische Fraktion. Die schändliche Kapitulation der Komintern in Deutschland, stillschweigend akzeptiert von allen Sektionen, stellte offen die Frage der Notwendigkeit, die 4. Internationale aufzubauen. Jedoch: unsere Organisationen, zahlenmäßig schwach, durch individuelle Auslese im Prozess der theoretischen Klärung entstanden, fast außerhalb der wirklichen Arbeiterbewegung stehend, waren noch nicht vorbereitet, um selbständig handeln zu können. Die zweite Periode ist charakterisiert durch Bemühungen, für diese isolierten Propagandagruppen ein reales politisches Milieu zu finden, sei es selbst um den Preis eines zeitweiligen Verzichts auf die formelle Unabhängigkeit. Der Eintritt in die sozialistischen Parteien hat mit einem Schlag unsere Reihen verstärkt, wenn er auch trotz allem unter dem Gesichtspunkt der Quantität weniger ergeben hat, als man erwarten konnte. Aber dieser Eintritt hat einen außerordentlich wichtigen Abschnitt für die politische Erziehung unserer Sektionen bedeutet, die sich zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht mit den Realitäten des politischen Kampfes und seinen Erfordernissen gemessen und dabei ihre Ideen überprüft haben. Das Resultat der gemachten Erfahrung war, dass unsere Kader um einen ganzen Kopf gewachsen sind. Auch das ist keineswegs eine unwichtige Errungenschaft, dass sich die unverbesserlichen Sektierer, die Konfusionisten und Taschenspieler von uns getrennt haben, die sich gewöhnlich zu Beginn an jede neue Bewegung anschließen, um sie nach Maßgabe ihrer Kräfte zu diskreditieren und zu paralysieren.

Wohlverstanden, die Entwicklungsphasen unserer Sektionen in den verschiedenen Ländern können chronologisch nicht übereinstimmen. Aber man kann trotzdem die Gründung der amerikanischen Sozialistischen Arbeiterpartei als das Ende der 2. Periode betrachten. Von jetzt an steht die 4. Internationale den Aufgaben einer Massenbewegung gegenüber. Der Reflex dieser wichtigen Wendung ist das Übergangsprogramm, dessen Bedeutung darin besteht, nicht einen theoretischen Plan a priori zu geben, sondern die Bilanz der schon gesammelten Erfahrungen der nationalen Sektionen zu ziehen und auf der Basis dieser Erfahrungen eine breite internationale Perspektive zu eröffnen.

Die Annahme dieses Programms, vorbereitet und gesichert durch eine lange vorhergehende Diskussion – oder genauer durch eine ganze Reihe von Diskussionen –, stellt unsere Haupterrungenschaft dar. Die 4. Internationale ist heute die einzige internationale Organisation, die sich nicht nur klare Rechenschaft über die treibenden Kräfte der imperialistischen Epoche ablegt, sondern auch mit einem System von Übergangsforderungen ausgerüstet ist, die geeignet sind, die Massen für den revolutionären Kampf um die Macht zu sammeln! Wir sind weit entfernt davon, uns selbst zu täuschen. Das Missverhältnis zwischen unseren gegenwärtigen Kräften und den morgigen Aufgaben ist uns viel klarer als unseren Kritikern. Indessen werden die bis zum äußersten Grad der Erbitterung und Empörung getriebenen Massen keinen anderen Weg finden als den, welchen ihnen die 4. Internationale vorschlägt.

Coyoacan, DF, 30. August 1938

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