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Leo Trotzki 19380520 Es gilt denken zu lernen

Leo Trotzki: Es gilt denken zu lernen

(Freundschaftlicher Rat an gewisse Ultralinke)

[Nach Mitteilungsblatt der IKD, Nr. 3, (September 1938), S. 1-4]

Einige berufsmäßige Verfechter der ultralinken Phrase versuchen um jeden Preis. die Thesen des Internationalen Sekretariats der Vierten Internationale über den Krieg ihren eingefleischten Vorurteilen entsprechend zu „korrigieren". Besonderen Angriffen ist die Stelle der Thesen ausgesetzt, wo es heißt. dass die revolutionäre Partei, während sie in allen imperialistischen Ländern während des Krieges in unversöhnlicher Opposition zur eigenen Regierung verharrt, in jedem einzelnen Lande jedoch ihre praktische Politik mit der innenpolitischen Lage und den imperialistischen Gruppierungen in Einklang bringen werde, wobei sie streng zwischen einem proletarischen und einem bürgerlichen Staat, zwischen einem kolonialen und einem imperialistischen Land unterscheidet.

Das Proletariat des im Bündnis mit der UdSSR* stehenden Landes behält seine unversöhnliche Feindschaft der imperialistischen Regierung des eigenen Landes gegenüber voll und ganz bei“, sagen die Thesen. „In diesem Sinne wird es keinen Unterschied geben von der Politik des Proletariats des die UdSSR bekämpfenden Landes. Doch im Charakter der praktischen Aktionen können sich beachtliche Unterschiede ergeben, hervorgerufen durch die konkrete Kriegslage". (These 44).

Die Ultralinken meinen, diese These, deren Richtigkeit durch den gesamten Verlauf der Entwicklung erwiesen wurde, sei Ausgangspunkt … des Sozialpatriotismus.** Da die Haltung zur imperialistischen Regierung in allen Ländern „gleich" sein soll, so verbieten diese Strategen, jenseits der Grenzen des eigenen imperialistischen Landes irgendwelche Unterschiede zu sehen. Die theoretische Grundlage ihres Fehlers liegt darin, dass sie es versuchen, für die Politik während des Krieges eine prinzipiell andere Grundlage zu etablieren als für die Politik in Friedenszeiten.

Nehmen wir an, in der französischen Kolonie Algerien bricht morgen unter der Flagge der nationalen Befreiung ein Aufstand aus und die italienische Regierung schickt sich von ihren eigenen imperialistischen Interessen getrieben an, den Aufständischen Waffen zu liefern. Welches soll in diesem Falle die Haltung der italienischen Arbeiter sein? Ich nehme absichtlich das Beispiel des Aufstandes gegen einen demokratischen Imperialismus und der Intervention eines faschistischen Imperialismus zugunsten der Aufständischen. Sollen die italienischen Arbeiter die Absendung des Schiffes mit den Waffen für die Algerier verhindern? Möge irgendein Ultralinker es wagen, diese Frage mit ja zu beantworten. Jeder Revolutionär wird zusammen mit den italienischen Arbeitern und den aufständischen Algeriern diese Antwort mit Entrüstung zurückweisen. Und selbst wenn zu dieser Zeit im faschistischen Italien ein Generalstreik der Seeleute ausbräche, müssten die Streikenden in diesem Fall eine Ausnahme für die Schiffe machen, die den aufständischen Koionialsklaven Hilfe bringen, sonst waren sie klägliche Gewerkschaftler und keine proletarischen Revolutionäre.

Gleichzeitig wären die französischen Seeleute, selbst wenn bei ihnen keinerlei Streik auf der Tagesordnung stände, verpflichtet, alle Anstrengungen darauf zu richten, die Entsendung von Waffen gegen die Aufständischen zu verhindern. Nur eine solche Politik der italienischen und der französischen Arbeiter wäre eine Politik des revolutionären Internationalismus,

Heißt das nicht aber, dass die italienischen Arbeiter im gegebenen Fall ihren Kampf gegen das faschistische Regime mildern? Nicht im geringsten. Der Faschismus kann den Algeriern nur „Hilfe" gewähren, um seinen Feind Frankreich zu schwächen und dann seine Räuberhand nach dessen Kolonie auszustrecken. Die revolutionären italienischen Arbeiter werden das keine Minute lang vergessen. Sie werden die Algerier aufrufen, dem perfiden „Bundesgenossen“ nicht zu trauen, und werden selber gleichzeitig unversöhnlich ihren Kampf gegen den Faschismus, den „Hauptfeind im eigenen Lande", fortsetzen. Auf diese Weise können sie sich das Vertrauen der Aufständischen erwerben; den Aufstand selbst unterstützen und ihre eigenen revolutionären Positionen stärken.

Ist das Gesagte in Bezug auf die Friedenszeit wahr, warum sollte es in Kriegszeiten falsch werden? Allen ist der Satz des berühmten deutschen Militärtheoretikers Clausewitz bekannt: Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik, nur mit anderen Mitteln. Dieser tiefe Gedanke führt ganz natürlich zu der Schlussfolgerung: der Kampf gegen den Krieg ist die Fortsetzung des allgemeinen proletarischen Kampfes in Friedenszeiten. Soll etwa das Proletariat im Frieden alle Handlungen und Maßnahmen der bürgerlichen Regierung ablehnen und sabotieren? Selbst während eines Streiks, der eine ganze Stadt umfasst, ergreifen die Arbeiter Maßnahmen, damit es in ihren eigenen Wohnvierteln nicht an Lebensmitteln mangle, dass das Wasser nicht ausgehe und die Krankenhäuser nicht zu leiden haben usw. Derartige Maßnahmen sind nicht von Opportunismus der Bourgeoisie gegenüber diktiert, sondern von der Sorge um die Interessen des Streiks selbst, um bei den unteren Schichten der städtischen Bevölkerung Sympathie für ihn zu wecken usw. Diese Elementarregeln der proletarischen Strategie in Friedenszeiten bleiben auch während des Krieges voll in Kraft.

Unversöhnliches Verhalten zum bürgerlichen Militarismus bedeutet durchaus nicht, dass das Proletariat in allen Fällen mit seiner „nationalen" Armee in Kampf tritt. Die Arbeiter werden jedenfalls Soldaten, die mit der Löschung eines Brandes oder bei einer Überschwemmung mit der Rettung Ertrinkender beschäftigt sind, nicht in den Arm fallen, sondern werden vielmehr Seite an Seite mit den Soldaten handeln und sich mit ihnen verbrüdern. Aber die Sache beschränkt sich nicht nur auf Naturkatastrophen. Würden die französischen Faschisten heute einen Umsturz zu veranstalten versuchen, und sähe sich die Daladierregierung gezwungen, gegen die Faschisten Truppen einzusetzen, so würden die revolutionären Arbeiter bei Wahrung völliger politischer Selbständigkeit an der Seite dieser Truppen gegen die Faschisten kämpfen. Auf diese Weise sind die Arbeiter in einer ganzen Reihe von Fällen gezwungen, praktische Maßnahmen einer bürgerlichen Regierung nicht nur zuzulassen und au dulden, sondern auch aktiv zu unterstützen.

In neunzig von hundert Fällen setzen die Arbeiter tatsächlich ein Minuszeichen dort, wo die Bourgeoisie ein Pluszeichen setzt. In zehn Fällen aber sind sie gezwungen, dasselbe Vorzeichen zu setzen wie die Bourgeoisie, jedoch setzen sie ihren eigenen Stempel, und darin drückt sich ihr Misstrauen gegenüber der Regierung aus. Die Politik des Proletariats ist nicht automatisch, nur mit einem Minuszeichen versehen, aus der der Bourgeoisie abzuleiten – in diesem Falle wäre jeder Sektierer ein großer Stratege, – nein, die revolutionäre Partei muss sich jeweils selbständig in der inneren und der internationalen Lage orientieren und die Losungen finden, die den Interessen des Proletariats am besten entsprechen. Diese Regel gilt für die Periode des Krieges ebenso wie für die des Friedens.

Stellen wir uns vor, im Laufe eines neuen europäischen Krieges erobere das belgische Proletariat die Macht früher als das französische. Hitler wird ohne Zweifel versuchen, das proletarische Belgien niederzuwerfen. Die französische bürgerliche Regierung wird sich, um ihre eigene Flanke zu decken, genötigt sehen, der belgischen Arbeiterregierung mit Waffen beizustehen. Die belgischen Räte werden selbstverständlich diese Waffen mit beiden Händen packen. Sind die französischen Arbeiter nun aber, geleitet vom Prinzip des Defätismus, vielleicht verpflichtet, ihre Bourgeoisie an der Entsendung der Waffen an das proletarische Belgien zu verhindern? Nur ausgemachte Verräter oder komplette Idioten könnten so urteilen.

Die französische Bourgeoisie kann dem proletarischen Belgien Waffen nur aus Furcht vor schärfster Kriegsgefahr senden, und in der Hoffnung, nachher mit ihren eigenen Waffen der proletarischen Revolution den Garaus zu machen. Für die französischen Arbeiter hingegen wäre ein proletarisches Belgien eine mächtige Stütze in ihrem Kampf gegen die eigene Bourgeoisie. Der Ausgang des Kampfes würde in letzter Hinsicht durch das Kräfteverhältnis entschieden werden, wobei eine richtige Politik ein sehr wichtiger Faktor in diesem Kräfteverhältnis wäre. Die nächstliegende Aufgabe der revolutionären Partei würde sein, den Gegensatz zwischen den beiden Imperialismen, dem französischen und dem deutschen, zur Rettung des proletarischen Belgiens auszunutzen.

Die ultralinken Scholastiker denken nicht mit konkreten Begriffen, sondern mit leeren Abstraktionen. In eine solche leere Abstraktion haben sie auch die Idee des Defätismus verkehrt. Sie stellen sich weder den Gang des Krieges noch den der Revolution lebendig vor. Sie suchen nach einer hermetisch verstöpselten Formel, die ja keine frische Luft durchlasse. Aber eine derartige Formel vermag der proletarischen Avantgarde keinerlei Richtlinie zu geben.

Die Politik des Defätismus hat die Aufgabe, den Klassenkampf bis zu seiner höchsten Form zu führen, dem Bürgerkrieg. Doch diese Aufgabe kann nur durch revolutionäre Massenmobilisierung gelöst werden, d.h. durch Verbreiterung, Vertiefung, Verschärfung der revolutionären Methoden, die den Inhalt des Klassenkampfes im „Frieden" ausmachen. Die proletarische Partei greift keineswegs zu irgendwelchen künstlichen Methoden wie Anzündung von Depots, Sprengaktionen, Eisenbahnkatastrophen usw. um die Niederlage der eigenen Regierung herbeizuführen. Selbst wenn sie dabei Erfolg haben könnte, würde die militärische Niederlage in diesem Fall durchaus nicht auch zum revolutionären Erfolg führen, der nur durch die selbständige Bewegung des Proletariats errungen werden kann. Der revolutionäre Defätismus bedeutet nur, dass die proletarische Partei in ihrem Klassenkampf nicht vor irgendwelchen „patriotischen" Rücksichten halt macht, denn die durch die verschärfte revolutionäre Massenbewegung bewirkte Niederlage der eigenen imperialistischen Regierung ist bei weitem das kleinere Übel gegenüber einem Sieg, der mit der nationalen Einheit, d.h. mit der politischen Entkräftung des Proletariats, erkauft worden wäre. Darin liegt der ganze Sinn des Defätismus, und dieser Sinn genügt vollauf.

Es kann jedoch während des imperialistischen Krieges Fälle geben, wo die revolutionäre Partei verpflichtet sein wird, zu militärtechnischen Maßnahmen Zuflucht zu nehmen, auch wenn diese sich noch nicht unmittelbar aus der revolutionären Bewegung des eigenen Landes ergeben. So können, wenn es sich um Waffen- oder Truppentransporte gegen einen Arbeiterstaat oder eine aufständische Kolonie handelt, nicht nur Boykott- und Streikmethoden, sondern auch Methoden der direkten Militärsabotage sich als durchaus zweckentsprechend und obligatorisch erweisen. Die Anwendung oder Nichtanwendung solcher Maßnahmen wird eine Frage der praktischen Möglichkeiten sein. Wenn die belgischen Arbeiter, die während des Krieges die Macht erobert haben, eigene Militäragenten auf deutschem Boden hätten, so wären diese Agenten verpflichtet, keine technischen Mittel zu scheuen, um Hitlers Truppen aufzuhalten. Es ist ganz klar, dass auch die deutschen revolutionären Arbeiter verpflichtet sind (wenn sie nur dazu in der Lage [sind]), diese Aufgabe im Interesse der belgischen Revolution zu erfüllen, auch unabhängig vom allgemeinen Gang der revolutionären Bewegung in Deutschland selbst.

Die defätistische Politik, d.h. die Politik des unversöhnlichen Klassenkampfes im Kriege, kann daher nicht in allen Ländern „gleich" sein, ebenso wenig wie die Politik des Proletariats im Frieden überall gleich sein kann. Erst die Komintern der Epigonen führte ein Regime ein, bei dem die Parteien aller Länder gleichzeitig das linke Bein anheben. Im Kampfe gegen diesen bürokratischen Kretinismus haben wir mehr als einmal darauf hingewiesen, dass die allgemeinen Prinzipien und Aufgaben in jedem Lande in Übereinstimmung mit diesen inneren und äußeren Bedingungen verwirklicht werden müssen. Dieser Grundsatz bleibt auch in Kriegszeiten vollauf gültig.

Die Ultralinken, die nicht marxistisch, d.h. konkret denken, werden vom Kriege überrumpelt werden. Ihre Politik wird eine verhängnisvolle Krönung ihrer Politik im Frieden sein. Die allerersten Kanonensalven werden die Ultralinken ins politische Nichts schleudern oder sie ins Lager des Sozialpatriotismus treiben, und zwar aus derselben Ursache, aus der heraus die spanischen Anarchisten, diese absoluten Verneiner des Staates, im Bürgerkrieg zu bürgerlichen Ministern wurden. Um im Krieg eine richtige Politik zu führen, gilt es im Frieden richtig denken zu lernen.

20. Mai 1938

Crux.

* Die Frage des Klassencharakters der USSR können wir hier beiseite lassen. Uns interessiert die Frage der Politik in Bezug auf den Arbeiterstaat überhaupt. oder auf ein Kolonialland, das um seine Unabhängigkeit kämpft. Was die Klassennatur der UdSSR betrifft, so können wir beiläufig den Ultralinken empfehlen, sich im Spiegel des Buches von A. Ciliga „Au Pays du grand Mensonge" (Im Lande der großen Lüge) zu beschauen. Der ultralinke Autor, der jeglichen marxistischen Fundaments entbehrt, hat seinen Gedanken zu Ende geführt, d.h, bis zur liberal-anarchistischen Abstraktion.

** Fr. Simone Weil schreibt sogar, unsere Einstellung sei dieselbe wie die Plechanows 1914-18. S. Weil hat natürlich das Recht, nichts zu verstehen. Doch sollte man dieses Recht schließlich nicht missbrauchen.

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