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Leo Trotzki 19390307 Nochmals zur „Krise des Marxismus"

Leo Trotzki: Nochmals zur „Krise des Marxismus"

[Nach Unser Wort. Halbmonatszeitung der IKD, Jahrgang 7, Nr. 6-7 (97-98), Ende Juni – Anfang Juli 1939, S. 5]

Wenn man in der guten alten Zeit über die Krise des Marxismus redete, verstand man darunter ganz bestimmte Ansichten Marxens, die scheinbar nicht der Prüfung durch die Tatsachen standgehalten hatten, nämlich: die Theorie der Verschärfung des Klassenkampfes, die sogen. «Verelendungstheorie» und die sogen. «Theorie des kapitalistischen Zusammenbruchs». Gegen diese drei zentralen Punkte waren die Schläge der bürgerlichen und reformistischen Kritik gerichtet. Heutzutage ist ein Streit über dieses Thema einfach unmöglich. Wer wird es noch zu beweisen unternehmen, dass die sozialen Gegensätze sich nicht verschärfen sondern mildern? In den Vereinigten Staaten sind der Innenminister Ickes und andere hohe Würdenträger gezwungen, in ihren Reden offen zuzugeben, dass «60 Familien» die Kontrolle über die Wirtschaft des Landes in ihren Händen halten; andererseits schwankt die Zahl der Arbeitslosen zwischen 10 Millionen in den Jahren der «Wohlfahrt» und 20 Millionen in den Jahren der Krise. Die Zeilen des «Kapital», in denen Marx über die Polarisierung der kapitalistischen Gesellschaft, das Wachsen des Reichtums an dem einen und dem des Elends an dem anderen Pol spricht, jene Zeilen, die seinerzeit als «Demagogie» entlarvt wurden, erweisen sich heute einfach als eine Fotografie der Wirklichkeit.

Die alte liberal-demokratische Konzeption des stufenweisen und allgemeinen Steigens von Wohlfahrt, Kultur, Friede und Freiheit hat endgültig und unwiderruflich Schiffbruch erlitten. In ihrem Gefolge hat die sozial-reformistische Konzeption Bankrott gemacht, die ihrem Wesen nach nur eine Anpassung der Ideen des Liberalismus an die Bedingungen der Existenz einer Arbeiterklasse war. Alle diese Theorien und Methoden wurzeln in der Epoche des industriellen Kapitalismus, der Handels- und Konkurrenzfreiheit, d.h. in der unwiederbringlichen Vergangenheit, in der der Kapitalismus noch ein verhältnismäßig progressives Regime war. Heute ist der Kapitalismus reaktionär. Ihn kann man nicht heilen. Man muss ihn niederwerfen.

Kaum dürfte es noch Schwachköpfe geben, die ernsthaft glauben (die Blums glauben nicht, sie lügen), dass die ungeheuerliche Verschärfung der sozialen Gegensätze mit Hilfe einer parlamentarischen Gesetzgebung überwunden werden könne. In durchaus allen Elementen seiner Analyse sowie in seiner «Katastrophen»-Prognose hat Marx recht behalten. Worin besteht nun die «Krise» des Marxismus? Die heutigen Kritiker geben sich nicht einmal die Mühe, die Frage selbst deutlich zu formulieren.

Die Geschichte wird verzeichnen, dass der Kapitalismus, ehe er krepierte, eine gigantische Anstrengung für seine Selbsterhaltung gemacht hat, die eine längere historische Periode ausfüllte. Die Bourgeoisie will nicht sterben. Ihre gesamten aus der Vergangenheit ererbten Reserven hat sie in eine wütende Konvulsion der Reaktion verwandelt. Gerade in dieser Periode leben wir.

Die Gewalt siegt nicht nur, auf ihre Art überzeugt sie auch. Der Druck der Reaktion zerbricht nicht nur die Parteien physisch, sondern zersetzt auch die Menschen moralisch. Vielen der Herren Radikalen sinkt das Herz in die Hosen. Ihre Furcht vor der Reaktion übersetzen sie in gegenstandslose und allgemeine Kritizismen. «Etwas muss an den alten Theorien und Methoden falsch gewesen sein». «Marx irrte» … «Lenin hat nicht vorausgesehen» … Andere gehen noch weiter. «Die revolutionäre Methode hat Bankrott gemacht». «Die Oktoberrevolution führte zur bösartigsten Diktatur einer Bürokratie». Aber auch die Große französische Revolution endete mit der Restauration der Monarchie. Die Welt ist überhaupt schlecht eingerichtet: die Jugend führt zum Alter, die Geburt zum Tode, «alles was besteht, ist wert, dass es zugrunde geht».

Diese Herren vergessen merkwürdig leicht, dass der Mensch sich ohne Führer einen Weg bahnt vom Halbaffen-Zustand zur harmonischen Gesellschaft, dass die Aufgabe schwer ist, dass ein oder zwei Schritt nach vorwärts begleitet werden von einem halben, einem ganzen Schritt und manchmal auch zwei Schritten nach rückwärts, dass der Weg mit den größten Hindernissen besät ist und dass noch niemand ein Geheimnis erfunden hat und nicht erfinden konnte, das einen ununterbrochenen Aufstieg auf der historischen Stufenleiter gewährleistet hätte. Es ist tief bedauerlich, dass die Herren Räsonneure nicht zu Rate gezogen worden sind, als der Mensch gebaut wurde und die Bedingungen seiner Entwicklung bestimmt wurden. Allein, das ist nicht wieder gut zu machen …

Nun gut, die gesamte vergangene revolutionäre Geschichte und selbst die Geschichte im Allgemeinen war einfach eine Kette von Fehlern. Wie aber verhält es sich dann mit der heutigen Wirklichkeit? Wie verhält es sich mit der grandiosen Armee der chronischen Arbeitslosen, mit dem Ruin der Farmer, mit der allgemeinen Senkung des wirtschaftlichen Niveaus, mit dem heranrückenden Krieg. Die skeptischen Wesen versprechen, irgendwann in der Zukunft alle Apfelsinenschalen neu zu nummerieren. worüber die großen revolutionären Bewegungen gestolpert sind. Vielleicht aber werden uns die Herren sagen, was weiter, was heute, jetzt zu tun Ist?

Wir würden vergeblich auf Antwort warten. Die erschrockenen Räsonneure entwaffnen sich selbst angesichts der Reaktion, indem sie auf ein wissenschaftliches soziales Denken verzichten und sich selbst jedes Recht auf eine revolutionäre Revanche in der Zukunft entziehen. Inzwischen sind die Epigonen, die die heutige Reaktionswelle vorbereitet haben, äußerst instabil, widerspruchsvoll und unbeständig und bereiten eine neue Offensivbewegung des Proletariats vor. Seine Leitung wird mit Recht jenen gehören, die von den Räsonneuren als Dogmatiker und Sektierer bezeichnet werden, weil die Dogmatiker und Sektierer nicht willens sind die wissenschaftliche Methode beiseite zu werfen, wenn noch niemand – absolut niemand – an ihrer statt etwas Besseres vorgeschlagen hat.

T.

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