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Leo Trotzki 19390400 Über die Geschichte der Linken Opposition

Leo Trotzki: Über die Geschichte der Linken Opposition

[Nach Der Todeskampf der Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale. Essen 1975, S. 91-95, mit kleinen Korrekturen nach dem englischen Text]

[Anmerkung der Herausgeber: Die Diskussion über die Geschichte der Linken Opposition fand im April 1939 in Coyoacan statt. Die Zusammenfassung – es handelt sich nicht um ein detailliertes Stenogramm – wurden vom Gen. Johnson gemacht; sie wurde vom Gen. Trotzki nicht überprüft.

Anmerkung der Übersetzer: Aufgrund des unsystematischen Charakters der Diskussion waren wir der Verständlichkeit halber gezwungen, für den Zusammenhang nebensächliche bzw. unverständliche Passagen wegzulassen.]

Trotzki: Gen. Johnson hat dies Gebiet mit größter Aufmerksamkeit studiert und die zahlreichen Anmerkungen, die ich gemacht habe, zeugen von der Sorgfalt, mit der ich seine Denkschrift gelesen habe. Das. Manuskript ist teilweise sehr scharfsinnig, aber ich habe hierin denselben Fehler festgestellt wie in „Weltrevolution“ – ein sehr gutes Buch –‚ und dabei handelt es sich um ein Fehlen des dialektischen Herangehens, also um angelsächsischen Empirismus und Formalismus, der bloß die Kehrseite des Empirismus ist.

C. L. R. James macht sein ganzes Herangehen an den Gegenstand von einem Datum abhängig – dem Erscheinen von Stalins Theorie des Sozialismus in einem Lande im April 1924! Aber die Theorie erschien im Oktober 1924. Das macht die ganze Struktur fehlerhaft.

Im April 1924 stand noch nicht fest, ob die deutsche Revolution vorwärts oder rückwärts gehen würde. Im November 1923 forderte ich, alle russischen Genossen in Deutschland zurückzurufen. Neue Schichten mussten die Revolution auf eine höhere Stufe heben. Wenn nicht, müsste die Revolution zur Neige gehen. Ginge sie unter, so würde die Reaktion als erstes die Russen als ausländische Agenten der Unordnung verhaften. Stalin erwiderte mir: „Sie sind immer zu hastig. Im August meinten Sie, die Revolution sei nahe; nun sagen Sie, sie ist schon vorüber.“ Ich sagte gar nicht, dass sie vorüber sei, aber schlug vor, diesen vorbeugenden Schritt zu tun. Im Sommer 1924 hatte Stalin sich selbst davon überzeugt, dass die deutsche Revolution besiegt war. Da forderte er die roten Professoren auf, ihm etwas von Lenin herauszusuchen, was er dem Volk sagen könne. Sie suchten und fanden zwei oder drei Zitate, und Stalin veränderte die Passage in seinem Buch. Die deutsche Revolution hatte größeren Einfluss auf Stalin als Stalin auf die deutsche Revolution. 1923 befand sich die ganze Partei in einem Fieber angesichts der kommenden Revolution. Stalin hätte es nicht gewagt, mir im Zentralkomitee in dieser Frage zu widersprechen. Die Linke Opposition war in dieser Frage zu sehr in der Vorderhand.

Johnson: Brandler kam mit der Überzeugung nach Moskau, dass die Revolution erfolgreich sein werde. Was änderte seine Meinung?

Trotzki: Ich hatte viele Interviews mit Brandler. Er erzählte mir, nicht die Machtergreifung mache ihm Sorgen, sondern das, was danach zu tun sei. Ich sagte zu ihm: „Schauen Sie her, Brandler, Sie sagen, die Aussichten der Revolution sind gut, aber die Bourgeoisie hat die Macht bezüglich der Kontrolle des Staates, der Armee, Polizei usw. Das entscheidende ist, diese Macht zu brechen…“ Brandler machte sich viele Notizen während der Diskussion mit mir. Aber seine ganze Kühnheit war nur ein Deckmantel für seine geheimen Ängste. Es ist nicht einfach, einen Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft zu führen. Er ging nach Chemnitz, wo er die Führer der Sozialdemokratie traf, eine Ansammlung kleiner Brandlers. In der ganzen Art, in der er mit ihnen sprach, teilte er ihnen in seiner Rede seine geheimen Ängste mit. Natürlich machten sie einen Rückzieher und diese defätistische Stimmung fand Eingang in die Arbeiterklasse.

Während der russischen Revolution von 1905 fand im Sowjet ein Streit über die Frage statt, ob wir die zaristische Macht am Jahrestag des Blutsonntags mit einer Demonstration herausfordern sollten. Bis heute weiß ich nicht genau, ob es richtig gewesen wäre, es an dem Tag zu tun oder nicht.

Das Komitee konnte sich nicht entscheiden, so dass der Sowjet zu Rate gezogen wurde. Ich hielt eine Rede, in der ich die beiden Alternativen objektiv darstellte, und der Sowjet entschied mit überwältigender Mehrheit, nicht zu demonstrieren. Aber ich bin sicher, wenn ich gesagt hätte, dass es nötig sei zu demonstrieren und entsprechend gesprochen hätte, hätten wir eine große Mehrheit zugunsten der Demonstration gehabt. Bei Brandler war es dasselbe. Was in Deutschland 1923 nötig war, war eine revolutionäre Partei…

Johnson: Sie würden Victor Serge nicht zustimmen, dass die Bürokratie die chinesische Revolution sabotierte, mit anderen Worten, dass ihre Haltung gegenüber der chinesischen Revolution dieselbe war wie gegenüber Spanien?

Trotzki: Keineswegs. Warum sollte sie sie sabotieren. Ich nahm an einem Komitee (mit Tschitscherin, Woroschilow und einigen anderen) über die chinesische Revolution teil. Sie standen sogar im Gegensatz zu meiner Haltung, die als pessimistisch beurteilt wurde. Sie sorgten sich über den Erfolg der chinesischen Revolution.

Johnson: Über den Erfolg der bürgerlich-demokratischen Revolution. Entsprach ihre Opposition zur proletarischen Revolution nicht der Opposition einer Bürokratie, die sehr bereit war, eine bürgerlich-demokratische Revolution zu unterstützen, aber von der Tatsache ihrer Existenz ausgehend, konnte eine Bürokratie eine proletarische Revolution nicht unterstützen?

Trotzki: Formalismus. 1917 hatten wir die größte revolutionäre Partei der Welt. 1936 erwürgt sie die spanische Revolution. Wie entwickelte sie sich von 1917 bis 1936? Das ist die Frage. Ihrer Argumentation zufolge müsste die Degeneration im Oktober 1917 begonnen haben. In meiner Sicht begann sie in den ersten Jahren der Neuen Ökonomischen Politik. Aber sogar 1927 erwartete die Partei noch gespannt den Ausgang der chinesischen Revolution. Was passierte, war, dass die Bürokratie gewisse bürokratische Denkweisen annahm. Sie schlug vor, die Bauern jetzt zurückzuhalten, um die Generäle nicht zu erschrecken. Sie glaubte, die Bourgeoisie nach links zu drängen. Sie sah die Kuomintang als eine Körperschaft von Amtsinhabern und dachte, sie könnte Kommunisten in die Ämter einsetzen und auf diese Art und Weise den Verlauf der Ereignisse ändern… Und wie würden Sie den Wechsel erklären, den eine Kommune von Kanton verlangte?

Johnson: Victor Serge meint, nur für den VI. Weltkongress brauchten sie die Kommune „und wenn nur für eine Viertelstunde“.

Trotzki: Es geschah eher für die Partei im Innern als für die Internationale. Die Partei war erregt über die chinesische Revolution. Nur im Verlauf des Jahres 1923 hatte sie einen intensiveren Grad erreicht gehabt.

Nein, Sie möchten mit der vollkommenen Degeneration ansetzen. Stalin und Co. glaubten in der Tat, dass die chinesische Revolution eine bürgerlich-demokratische sei und versuchten die Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft zu errichten.

Johnson: Sie meinen, Stalin, Bucharin, Tomski, Rykow und die übrigen verstanden den Verlauf der russischen Revolution nicht?

Trotzki: Sie verstanden ihn nicht. Sie nahmen teil und die Ereignisse überwältigten sie. Ihre Haltung gegenüber China war dieselbe, die sie im März 1917 vor Lenins Ankunft eingenommen hatten. In verschiedenen ihrer Schriften werden Sie Passagen finden, die zeigen, dass sie niemals verstanden haben. Eine andere Daseinsweise und schon steckten ihre bürokratischen Gewohnheiten ihr Denken an und sie kehrten zu ihrer vormaligen Position zurück. Sie verewigten sie sogar im Programm der Komintern: proletarische Revolution für Deutschland, Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft für halb-koloniale Länder usw.

(Trotzki bittet V., eine Kopie des Programmentwurfs zu holen und der Auszug wird verlesen.)

Ich verdammte es in meiner „Kritik des Programmentwurfs“.

Johnson: Wie steht es mit Bucharins Aussage von 1925, dass die Revolutionäre im Falle des Krieges den bürgerlich-sowjetischen Block unterstützen sollten?

Trotzki: Nach Lenins Testament wollte Bucharin unbedingt beweisen, dass er ein wirklicher Dialektiker sei. Er studierte Hegel und versuchte bei jeder Gelegenheit zu zeigen, dass er Realist sei. Deshalb: „Bereichert euch selbst“. „Sozialismus im Schneckentempo“. Und nicht nur Bucharin, auch ich und alle von uns schrieben zu verschiedenen Zeiten absurde Sachen, das will ich Ihnen zugestehen.

Johnson: Und Deutschland 1930-33?

Trotzki: Ich bin nicht damit einverstanden, dass die Politik der Internationale nur eine Verkörperung der Befehle aus Moskau war. Man muss die Politik in ihrer Gesamtheit sehen, vom internen und internationalen Standpunkt, von allen Seiten. Die Außenpolitik Moskaus und die Orientierung der Sozialdemokratie auf Genf konnten eine Rolle spielen. Aber es bestand ebenso die Notwendigkeit einer Wendung bezüglich der Partei innerhalb Russlands, die dem verhängnisvollen Effekt ihrer vorherigen Politik zuzuschreiben war. Immerhin geht die Bürokratie mit 160 Millionen Menschen um, die drei Revolutionen durchgemacht haben. Was sie sagen und denken, wird gesammelt und klassifiziert. Stalin wollte zeigen, dass er kein Menschewik ist. Daher diese heftige Linkswendung. Wir müssen die Sache in ihrer Gesamtheit sehen, in allen ihren Aspekten.

Im Jahre 1924 entsprach Stalins Politik vom Sozialismus in einem Lande der Stimmung der jungen Intellektuellen ohne Erziehung und ohne Tradition …

Aber trotz allem: als Stalin die spanische Revolution erwürgen wollte, war er gezwungen, Tausende von alten Bolschewiki auszurotten. Der erste Kampf begann mit der Frage der Permanenten Revolution, die Bürokratie suchte Ruhe und Frieden. In diese Situation kam die deutsche Revolution von 1923. Stalin wagte sogar nicht, mir offen zu widersprechen. Wir erfuhren erst hinterher dass er heimlich einen Brief an Bucharin geschrieben hatte, in dem er anordnete, die Revolution zurückzuhalten. Dann, nach der deutschen Niederlage, kam der Kampf über die Gleichheit. Im Interesse der Verteidigung der Privilegien der Bürokratie wurde Stalin ihr unbestrittener Führer…

Russland war ein rückständiges Land. Diese Führer hatten marxistische Konzeptionen, aber nach dem Oktober kehrten sie bald zu ihren alten Ideen zurück. Woroschilow und andere fragten mich: „Aber wie soll es möglich sein, dass die chinesischen Massen, die so zurückgeblieben sind, die Diktatur des Proletariats errichten können?“

In Deutschland hofften sie nun auf ein Wunder, um das Rückgrat der Sozialdemokratie zu brechen; in ihrer Politik hatten sie absolut versäumt, die Massen von ihr zu lösen! Daher dieser neue Versuch, die Sozialdemokratie loszuwerden… (Sozialfaschismus)

Stalin hoffte, dass die deutsche Kommunistische Partei einen Sieg davontragen würde, und zu glauben, er hätte einen „Plan“ gehabt, der dem Faschismus die Machtübernahme erlaubte, ist absurd. Das ist eine Vergötterung Stalins.

Johnson: Er veranlasste, ihre Opposition zum Roten Volksentscheid zu beenden, er veranlasste Remmele zu sagen: „Nach Hitler wir“, er veranlasste sie, mit der Bekämpfung der Faschisten auf den Straßen aufzuhören.

Trotzki: „Nach Hitler – wir“ war Prahlerei, ein Bekenntnis des Bankrotts. Sie widmen dem zu viel Aufmerksamkeit.

F [Oskar Fischer alias Otto Schüssler]: Sie hörten auf, in den Straßen zu kämpfen, weil ihre Abteilung kleine Abteilungen der KP waren. Gute Genossen wurden fortwährend erschossen, und insofern die Arbeiter als Gesamtheit nicht beteiligt waren, brachen sie den Kampf ab. Das war Teil ihres Zickzacks.

Trotzki: Sehen Sie! Sie taten allerlei Sachen. Manchmal boten sie sogar die Einheitsfront an.

Johnson: Duranty sagte 1931, dass sie die spanische Revolution nicht wollten.

Trotzki: Nimm das, was Duranty sagt, nicht als bare Münze. Litwinow wollte zum Ausdruck bringen, dass sie nicht verantwortlich seien für das, was in Spanien vor sich geht. Da er es nicht selbst sagen konnte, sagte es Duranty. Vielleicht wollten sie gar mit Spanien nicht beunruhigt werden, wo sie selbst zu Hause in Schwierigkeiten waren… Aber ich würde behaupten, dass Stalin den Sieg der deutschen Kommunistischen Partei in Deutschland 1930-33 wünschte…

Außerdem können Sie sich die Komintern nicht als bloßes Instrument von Stalins Außenpolitik vorstellen.

In Frankreich hatte sich die Kommunistische Partei 1934 von 80.000 auf 30.000 verringert. Man brauchte eine neue Politik. Wir kennen die Archive der Komintern nicht, welche Korrespondenz geführt wurde usw. Zur gleichen Zeit suchte Stalin eine neue Außenpolitik. Von der einen und von der anderen Seite gehen diese Tendenzen aus, die dann die neue Wendung vollziehen. Sie sind verschiedene Leiten desselben Prozesses … Die Französische Kommunistische Partei ist nicht nur eine Agentur von Moskau, sondern eine nationale Organisation mit Parlamentsabgeordneten usw.

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