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Leo Trotzki 19390610 Zehn Jahre

Leo Trotzki: Zehn Jahre

[Nach Der Todeskampf der Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale. Essen 1975, S. 97-100]

Das „Bulletin der Russischen Opposition“ besteht jetzt zehn Jahre. Zur Zeit seiner Gründung stand bereits fest, dass die thermidorianische Reaktion in der UdSSR aushalten würde, bis sie auf entscheidenden Widerstand trifft. Mit einheimischem Widerstand konnte kaum gerechnet werden, insoweit die Revolution schon ein großes Maß seiner kämpfenden Ressourcen verbraucht hatte. Die internationale Situation jedoch war und schien günstiger zu sein als heute. Mächtige Arbeiterorganisationen gediehen in Deutschland. Man konnte durchaus annehmen, dass die deutsche Kommunistische Partei unter dem Einfluss der schrecklichen Lektionen der Vergangenheit den Weg des Klassenkampfes einschlagen und dass das französische Proletariat mitziehen würde. Zwei Jahre, nachdem unsere Publikation vom Stapel gelassen war, brach die Spanische Revolution aus, die zum Ausgangspunkt für eine ganze Serie von Revolutionen in Europa hätte werden können. Im Bewusstsein der Redaktion des ‚Bulletin‘ war das Schicksal der UdSSR immer unlöslich mit dem Schicksal des Weltproletariats verbunden. Jeder revolutionäre Konflikt öffnete zumindest die theoretische Möglichkeit, die Organisation zu regenerieren, die einst die Kommunistische Internationale gewesen war. Aber auf jeder Stufe der Entwicklung musste eine Grabplatte auf diese Erwartungen gedeckt werden.

Wir wurden oft angeklagt, die Moskauer Internationale zu spät zu einem Leichnam erklärt zu haben. Was dies betrifft, sind wir nicht bereit zu widerrufen. Es ist besser, ein Begräbnis zu verzögern, als einen Nicht-Toten zu beerdigen. Sobald es sich darum handelt, lebende Kräfte zu behaupten, kann man von vornherein den allgemeinen Trend der Bewegung voraussehen; aber es ist äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich, ihre Stadien und zeitlichen Abschnitte vorherzusagen. Erst als offenbar wurde, dass keine offene Entrüstung in den Reihen der Kommunistischen Internationale entstanden war, nachdem letztere die wichtigste Position in Deutschland aufgegeben hatte, wurde klar, dass keine Hoffnungen auf Regeneration dieser Organisation übrig blieben. Kraft dieser Tatsache schlug die Stunde nicht zum Wanken und Zögern, wie es die Auffassung der Teilnehmer des verstorbenen Londoner Büros war, – sondern für die systematische Arbeit unter dem Banner der IV. Internationale.

So waren unsere Hoffnungen und Erwartungen auch in Bezug auf den Sowjetstaat in zehn Jahren einer Entwicklung unterworfen, die nicht von unserem subjektiven Gefallen oder Missfallen bestimmt war, sondern vom allgemeinen Verlauf der Entwicklung. Politische Vorhersagen sind nur eine Arbeitshypothese. Sie müssen ständig überprüft werden, präziser gefasst werden und der Wirklichkeit näher gebracht. Es war gänzlich unmöglich, von vorneherein zu messen, wie stark der Widerstand innerhalb der Bolschewistischen Partei gegenüber dem Angriff des Thermidor sein würde. Trotz der Desillusionierung und Ermüdung der Massen legte dieser Widerstand Zeugnis für sich ab. Beweis sind dafür die zahllosen Säuberungsaktionen und Massaker ganzer revolutionärer Generationen. Aber unter Bedingungen der Niederlagen des Weltproletariats erwies sich die thermidorianische Reaktion in der UdSSR stärker als der Widerstand des Bolschewismus. 1929, als das ‚Bulletin‘ erschien, war diese Variante an Perspektiven bereits eine Wahrscheinlichkeit. Aber diese Variante vorweg als einzige Möglichkeit zu wählen, hätte die Aufgabe einer Position ohne Kampf bedeutet, das heißt verräterische Kapitulation. Nur die vollständige und offenkundige Erwürgung der Bolschewistischen Partei gemeinsam mit der vollständigen Prostitution der Komintern beseitigte die Grundlage für das Programm der „Reformation“ des Sowjetstaates und setzte stattdessen die antibürokratische Revolution auf die Tagesordnung.

Wir wurden oft und werden immer noch angeklagt, bis zum heutigen Tage die UdSSR nicht zu einem Nicht-Arbeiterstaat erklärt zu haben. Unsere Kritiker haben sich aber enthalten, ihre eigene Definition des Sowjetstaates zu geben, wenn wir die Bezeichnung „Staatskapitalismus“ außer acht lassen, die von ihnen in gleicher Weise auf die UdSSR, Deutschland und Italien angewandt wird. Wir haben diese Bezeichnung zurückgewiesen und weisen sie noch immer zurück, weil sie zwar gewisse Züge des Sowjetstaates richtig kennzeichnet, nichtsdestoweniger aber seine grundlegende Verschiedenheit von den kapitalistischen Staaten ignoriert: nämlich das Fehlen der Bourgeoisie als einer Klasse von Produktionsmittelbesitzern, die bestehende staatliche Form des Eigentums an den wichtigsten Produktionsmitteln und zuletzt die Planwirtschaft; Tatsachen, die durch die Oktoberrevolution ermöglicht wurden. Weder in Deutschland noch in Italien existiert obiges. Das Proletariat, das die bonapartistische Oligarchie hinwegfegt, wird sich auf dieses soziale Fundament stützen.

Das vergangene Jahrzehnt war ein Jahrzehnt der Niederlagen und Rückzüge des Proletariats, ein Jahrzehnt des Sieges der Reaktion und Konterrevolution. Dieses Zeitalter ist nicht zu Ende: die größten Übel und Bestialitäten stehen noch bevor. Aber gerade die ungeheure Spannung lässt die herannahende Erneuerung ahnen. In den Internationalen Beziehungen heißt diese Erneuerung Krieg. Abstrakt gesprochen, wäre es natürlich besser gewesen, wenn die proletarische Revolution dem Krieg zuvorgekommen wäre. Aber dies geschah nicht und wir müssen geradezu sagen, dass die übrig gebliebenen Chancen gering sind. Die Gefahr des Krieges steigt schneller als die Rate, in der neue Kader der proletarischen Revolution herangezogen werden. Nie zuvor hat der historische Determinismus eine so fatalistische Form angenommen wie heutzutage. Alle Kräfte der alten Gesellschaft Faschismus, Demokratie, Sozialpatriotismus und Stalinismus – befinden sich gleichermaßen in Angst vor dem Krieg und steuern ihm entgegen. Nichts wird ihnen helfen. Sie werden den Krieg führen und von ihm hinweggeschwemmt werden. Sie haben es voll und ganz verdient.

Die Sozialdemokratie und die Komintern schließen Händel mit dem Imperialismus „gegen Faschismus“ und „gegen Krieg“. Aber gerade ihr „kleineres Übel“ weicht unentrinnbar vor einem größeren Übel zurück. Sollte es dem Kapitalismus mithilfe der zwei Internationalen gelingen, sich für ein neues Jahrzehnt zu halten, dann werden die Methoden des Faschismus nicht länger angemessen sein. Militärische Eroberungen können nur eine Verschiebung der Armut von einem Land zum anderen vollbringen, während gleichzeitig sie die Basis schmälern, auf der alle Länder ruhen. Ein Super-Faschismus wird notwendig werden, mit solchen Gesetzen, die zurückgreifen auf die Zeiten des Herodes und die Abschlachtung unschuldiger Babies, um die Diktatur der Trusts zu bewahren. In der Situation werden die verrotteten Internationalen zweifelsohne das Bündnis mit dem Faschismus als heilige Pflicht erklären ein geringeres Übel angesichts eines Herodes, der nicht nur die Zivilisation bedroht, sondern die gesamte Existenz der Menschheit. Für Sozialdemokraten und Stalinisten gibt es keine und kann es keine Bedingungen geben – weder in China, noch in Deutschland, Spanien, Frankreich oder sonst wo in der Welt –‚ die dem Proletariat das Recht geben, eine unabhängige Rolle zu spielen; das einzige, wofür die Arbeiter gut sind, ist die Unterstützung einer Banditerei gegen eine andere. Es gibt innerhalb des Kapitalismus selbst keine Schranken für die Tiefe, zu der er absinken kann; das gilt ebenso für seine Schatten: die Zweite und Dritte Internationale. Sie werden die ersten sein, die vorn Krieg zermalmt werden, den sie selbst vorbereiten. Die einzige Weltpartei, die unerschrocken dem Krieg und seinen Folgen gegenübersteht, ist die IV. Internationale. Wir hätten einen anderen Weg bevorzugt; aber wir werden zuversichtlich auch den Weg beschreiten, auf den die gegenwärtigen Herren die Lage der Menschheit stoßen.

Das ‚Bulletin‘ steht nicht allein. Publikationen im selben Geiste erscheinen in einem Dutzend von Ländern. Viele Artikel des ‚Bulletins‘ wurden während des letzten Jahrzehnts in ein dutzend Sprachen übersetzt. Wahr genug, so bleiben immer noch ein paar linke Philister, die erhaben ihre Nase rümpfen über unsere kleinen Publikationen und ihre geringe Verbreitung. Aber wir würden unser ‚Bulletin‘ nicht mit der Moskauer Prawda eintauschen mit allen ihren Rotationsdrucken und Lastwagen. Weder die Zweite noch die Dritte Internationale haben eine einzige Idee hinterlassen. Sie spiegeln nur die tödlichen Ängste der herrschenden Klassen wider. Die Ideen, die das Erbe der IV. Internationale umfasst, tragen eine kolossale dynamische Kraft in sich. Die bevorstehenden Ereignisse werden alles, was abgelebt, faulend und überlebt ist, vernichten und die Arena freimachen für ein neues Programm und eine neue Organisation.

Aber sogar heute, auf dem Gipfel der Reaktion, gewinnen wir unschätzbare Befriedigung aus dem Wissen, dass wir den historischen Prozess mit offenen Augen beobachtet haben, jede neue Situation realistisch untersucht haben, ihre möglichen Folgen vorhergesehen haben, vor ihren Gefahren gewarnt und den richtigen Weg gewiesen haben. In allen wesentlichen Punkten wurde unsere Analyse und unsere Vorhersage von den Ereignissen bestätigt. Wir vollbrachten keine Wunder. Im Allgemeinen gehören Wunder nicht zu unseren Spezialität. Aber zusammen mit unseren Leserfreunden haben wir gelernt, wie wir als Marxisten zu denken haben, wenn es darum geht, als Revolutionäre zu handeln. Das ‚Bulletin‘ tritt in sein zweites Jahrzehnt mit einem unwandelbaren Glauben an den Sieg seiner Ideen.

Fast neun Jahre lag die Herausgabe des ‚Bulletin‘ in den Händen von L. L. Sedow. Den besten Teil seiner Jugend gab er für diese Sache. Standhaft der Revolution ergeben, wich Sedow nicht einmal in den harten Jahren vor der Reaktion zurück. Er lebte immer in Erwartung eines neuen revolutionären Erwachens. Es gehörte nicht zu seinem Schicksal, es selbst mitzuerleben. Aber wie alle echten Revolutionäre arbeitete er für die Zukunft.

Die Herausgabe des ‚Bulletin‘ wäre ohne die Hilfe loyaler Freunde unmöglich gewesen. Ihnen sprechen wir unseren brüderlichen Dank aus. Wir bauen fest auf ihre Hilfe in der Zukunft, die wir heute nötiger brauchen als je zuvor.

Redaktion des Russischen Bulletin

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