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Leo Trotzki 19400627 Wir ändern unsern Kurs nicht

Leo Trotzki: Wir ändern unsern Kurs nicht

[Nach Unser Wort. Halbmonatszeitung der IKD, Jahrgang 8, Nr. 3 (101), Dezember 1940, S. 8]

Einer Anzahl anderer und kleinerer europäischer Staaten folgend, wird jetzt auch Frankreich zum unterdrückten Land umgeformt. Der deutsche Imperialismus hat sich zu noch nie dagewesenen militärischen Höhen erhoben, mit all den daraus sich ergebenden Gelegenheiten für einen Weltraub, Was also folgt daraus?

Von Seiten aller Arten Halbinternationalisten darf man ungefähr die folgende Linie der Argumentation erwarten: Erfolgreiche Erhebungen in eroberten Ländern sind unter dem Nazistiefel unmöglich, weil jede revolutionäre Bewegung von den Eroberern sofort in Blut ertränkt werden wird. Noch weniger Grund ist vorhanden, jene erfolgreiche Erhebung im Lager der totalitären Sieger zu erwarten. Günstige Bedingungen für die Revolution könnten nur durch die Niederlage Hitlers und Mussolinis geschaffen werden. Daher bleibt nichts übrig, als England und den Vereinigten Staaten zu helfen. Sollte die Sowjet-Union sich uns anschließen, dann würde es möglich sein, Deutschlands militärischen Erfolgen nicht nur ein Halt zuzurufen, sondern ihm schwere militärische und wirtschaftliche Niederlagen beizubringen. Die weitere Entwicklung der Revolution ist nur auf diesem Wege möglich. Und so weiter und so fort.

Nichts Neues in diesem Argument.

Diese Argumentation, die auf der Oberfläche von der neuen europäischen Landkarte eingegeben scheint, ist in Wirklichkeit nur eine Anpassung der neuen europäischen Karte an die alten Argumente des Sozialpatriotismus, d.h. des Klassenverrats. Hitlers Sieg über Frankreich hat vollkommen die Korruption der imperialistischen Demokratie, sogar in der Sphäre ihrer eigenen Aufgaben offenbart. Sie kann nicht vor dem Faschismus „gerettet" werden. Sie kann nur durch die proletarische Demokratie ersetzt werden. Würde die Arbeiterklasse ihr Geschick im jetzigen Krieg mit dem der imperialistischen Demokratien verbinden, so würde sie nur eine neue Reihe von Niederlagen versichern.

Um des Sieges willen" hat sich England bereits gezwungen gesehen, die Methoden der Diktatur einzuführen, wofür der Verzicht der Labour Party (Arbeiterpartei) auf irgendwelche politische Unabhängigkeit die Voraussetzung war. Wenn das internationale Proletariat, in der Form aller seiner Organisationen und Richtungen, sich auf denselben Weg begeben würde, so würde das nur den Sieg des totalitären Regimes im Weltmaßstabe erleichtern und beschleunigen. Unter Bedingungen, in denen das Weltproletariat auf eine unabhängige Politik verzichtet, würde ein Bündnis zwischen der Sowjet-Union und den imperialistischen Demokratien den Wuchs der Allmacht der Moskauer Bürokratie bedeuten; deren weitere Umbildung in eine Agentur des Imperialismus, und unvermeidlich folgende Konzessionen an den Imperialismus in der Wirtschaftssphäre. Höchstwahrscheinlich würde die militärische Lage der verschiedenen imperialistischen Länder auf der Weltarena dadurch bedeutend verändert werden; aber die Lage des Weltproletariats, vom Standpunkte der Aufgaben der sozialistischen Revolution, würde sich sehr wenig ändern.

Die Revolution muss vorbereitet werden.

Um eine revolutionäre Situation zu schaffen, sagen die Sophisten des Sozialpatriotismus, muss man Hitler einen Schlag versetzen. Um Hitler zu besiegen, muss man notwendig die imperialistischen Demokratien unterstützen. Aber, wenn das Proletariat um der Rettung der „Demokratien" willen auf eine unabhängige revolutionäre Politik verzichtet, wer würde dann eine revolutionäre Situation ausnützen, die aus Hitlers Niederlage sich erhöbe? An revolutionären Situationen hat es im letzten Vierteljahrhundert nicht gemangelt. Wohl aber an einer revolutionären Partei, die fähig ist, eine revolutionäre Situation auszunützen. Auf die Trainierung einer revolutionären Partei zu verzichten, um eine „revolutionäre Situation" hervorzurufen, heißt die Arbeiter blind zu ihrer Abschlachtung führen.

Vom Standpunkte einer Revolution in seinem eigenen Lande ist die Niederlage der eigenen imperialistischen Regierung zweifellos ein „kleineres Übel". Pseudo-Internationalisten aber weigern sich dieses Prinzip auf die geschlagenen demokratischen Länder anzuwenden. Dafür aber interpretieren sie Hitlers Sieg nicht als ein relatives sondern absolutes Hindernis für die Revolution in Deutschland. Sie lügen in beiden Fällen.

Was den Nazis jetzt bevorsteht.

In den besiegten Ländern wird die Lage der Massen sofort sich äußerst verschlimmern. Zur sozialen kommt nun die nationale Unterdrückung hinzu, deren Hauptlast ebenfalls die Arbeiter zu tragen haben. Von allen Formen der Diktatur ist die totalitäre eines fremden Eroberers die am wenigsten erträgliche. Gleichzeitig werden die Nazis im selben Grade, in dem sie versuchen, die Naturreichtümer und die industrielle Maschinerie der besiegten Nationen sich nutzbar zu machen, unvermeidlich von den Bauern und Arbeitern dieser Länder abhängig werden. Erst nach dem Sieg beginnen immer die ökonomischen Schwierigkeiten. Es ist unmöglich, hinter jeden polnischen, dänischen, norwegischen, belgischen, holländischen, französischen Arbeiter und Bauern einen Soldaten mit einer Flinte zu stellen. Der Nationalsozialismus besitzt kein Rezept dafür, geschlagene Völker aus Feinden zu Freunden zu machen.

Die Erfahrung der Deutschen in der Ukraine im Jahre 1918 hat gezeigt, wie schwierig es ist, den Naturreichtum und die Arbeitskraft eines besiegten Volkes mit militärischen Methoden nutzbar zu machen; und wie schnell eine Besatzungsarmee in einer Atmosphäre allgemeiner Feindseligkeit demoralisiert wird. Diese selben Vorgänge werden sich in weit größerem Ausmaß auf dem europäischen Festland unter der Nazibesetzung entwickeln. Man kann mit Sicherheit die rasche Umwandlung aller eroberter Länder in Pulverfäßer erwarten. Die Gefahr ist eher die, dass die Explosionen zu bald, ohne hinreichende Vorbereitung ausbrechen werden und zu isolierten Niederlagen führen werden. Aber es ist überhaupt unmöglich, von der europäischen und der Weltrevolution zu sprechen, ohne Teilniederlagen in Rechnung zu ziehen.

Hitler, der Sieger, hat natürlich Wachträume, darüber wie er in jedem Teil Europas der Generalhenker der proletarischen Revolution sein wird. Aber das bedeutet ganz und gar nicht, dass Hitler stark genug sein wird, mit der proletarischen Revolution zu verfahren, wie er mit der imperialistischen Demokratie verfahren ist. Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, unwürdig jeder revolutionären Partei, Hitler in ein Fetisch zu verwandeln, seine Macht zu übertreiben, die objektiven Grenzen seiner Erfolge und Eroberungen zu übersehen. Hitler brüstet sich zwar, dass er die Herrschaft des deutschen Volkes auf Kosten ganz Europas und sogar der ganzen Welt „für tausend Jahre" errichtet. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach wird dieser Glanz nicht einmal zehn Jahre aushalten.

Wir müssen uns die Lehren der letzten Vergangenheit vor Augen halten. Vor 22 Jahren gingen nicht nur die besiegten Länder, sondern auch die Sieger mit einer gestörten Wirtschaft aus dem Kriege hervor und konnten nur sehr langsam, wenn überhaupt, die wirtschaftlichen Vorteile ausnützen, die ihnen aus ihrem Siege erwuchsen. Daher nahm die revolutionäre Bewegung auch in den Ländern der siegreichen Entente sehr große Proportionen an. Das einzige, was fehlte, war eine revolutionäre Partei, die die Bewegung führen konnte.

Auch in Deutschland Krise!

Der totale, d. h. allumfassende Charakter des gegenwärtigen Krieges schließt die Möglichkeit einer direkten „Bereicherung" auf Kosten der besiegten Länder aus. Sogar im Falle eines vollkommenen Sieges über England wäre Deutschland zur Aufrechterhaltung der Eroberungen in den nächsten Jahren zu solchen wirtschaftlichen Opfern gezwungen, dass sie die Vorteile weit überwiegen würden, die es aus seinen Siegen direkt ziehen könnte. Die Lebensbedingungen der deutschen Masse müssen sich in der nächsten Periode auf jeden Fall bedeutend verschlechtern. Die Millionen siegreicher Soldaten werden bei der Rückkehr in die Heimat eine noch größere Armut finden, als die, aus der sie zum Krieg ausgezogen waren. Ein Sieg der das Lebensniveau eines Volkes herabdrückt, stärkt das Regime nicht, sondern schwächt es. Das Selbstvertrauen der demobilisierten Soldaten, die die größten Siege errungen haben, wird äußerst gehoben sein. Ihre betrogenen Hoffnungen werden scharfe Unzufriedenheit und Erbitterung in ihnen erzeugen. Andererseits wird die Kaste der Braunhemden sich noch höher über das Volk erheben. Ihre Willkürherrschaft und Verworfenheit wird noch größere Feindseligkeit hervorrufen. Wenn im letzten Jahrzehnt das politische Pendel in Deutschland in Folge der Impotenz der verspäteten Demokratie und des Verrats der Arbeiterparteien scharf nach rechts ausschlug, so wird es nun infolge der Enttäuschung über das Kriegsresultat und das Naziregime sogar noch stärker und entschiedener nach links ausschlagen. Unzufriedenheit, Unruhe, Proteste, Streiks, bewaffnete Zusammenstöße werden für Deutschland wieder auf der Tagesordnung sein. Hitler wird zu viele Sorgen in Berlin haben, um die Rolle des Henkers mit Erfolg in Paris, Brüssel oder London ausüben zu können.

Daher besteht die Aufgabe des revolutionären Proletariats nicht darin, den imperialistischen Armeen zu helfen, eine „revolutionäre Situation" zu schaffen, sondern seine internationalen Reihen für revolutionäre Situationen, an denen kein Mangel sein wird, vorzubereiten, zusammenzuschmelzen und zu stählen.

Die neue Karte Europas macht die Grundsätze des revolutionären Klassenkampfes nicht ungültig. Die Vierte internationale ändert ihren Kurs nicht.

Ende Juni 1940.

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