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Leo Trotzki 19270329 Brief an Alski

Leo Trotzki: Brief an Alski

[Nach Schriften 2.1, Hamburg 1990, S. 130-135, dort mit umfangreichen Fußnoten]

Lieber Genosse Alski!

Vielen Dank für das Buch, das Sie mir geschickt haben. Ich habe es im Laufe des heutigen Tages mit Interesse und Gewinn ganz gelesen. Ich glaube, Sie haben vollständig recht, wenn Sie Einwände gegen die Bezeichnung »Arbeiter-und-Bauern-Regierung« für die südliche Nationalregierung erheben. Eine solche Definition ist natürlich ein ernster Fehler, und das muss sich jetzt, nach der Einnahme von Shanghai mit seinen gewaltigen Klassengegensätzen, besonders deutlich zeigen.

Aber gerade deswegen glaube ich, dass Ihnen ein Fehler unterlaufen ist, besonders deutlich in der Formulierung auf S. 141, wo Sie davon sprechen, dass sich in China »zwei einander äußerst feindlich gesonnene Lager« gebildet haben: einerseits die Imperialisten und Militaristen und einige Schichten der chinesischen Bourgeoisie, andererseits »das Lager der Arbeiter, Handwerker, Kleinbürger, Studenten, der Intelligenz und einiger Gruppen der national gesinnten mittleren Bourgeoisie«... In der Tat gibt es in China drei Lager: die Reaktion, die liberale Bourgeoisie und das Proletariat, das um Einfluss auf die unteren Schichten des Kleinbürgertums und der Bauern kämpft. Zwar hat sich diese Aufteilung bis 1926 weniger deutlich gezeigt als jetzt, aber auch damals war sie schon ein Faktum. Ihr Buch ist 1927 erschienen, und es war im höchsten Maße notwendig, eben darauf aufmerksam zu machen. Gäbe es nicht Ihre Rezension des Buches von Mif, so könnte man Ihre Einschätzung in einer Reihe von Fällen, vor allem auf S. 141, als eine Unterstützung von Schlussfolgerungen werten, die m.E. völlig falsch und gefährlich sind.

Die Guomindang in ihrer jetzigen Gestalt schafft die Illusion zweier Lager, indem sie an der nationalrevolutionären Maskierung der Bourgeoisie mitwirkt und folglich deren Verrat erleichtert. Der Eintritt der KP in die Guomindang macht andererseits eine selbständige Politik des Proletariats unmöglich. Es wäre die reinste Scharlatanerie und ein Verrat am Marxismus, das ist sicher auch Ihre Meinung, wenn man auf den revolutionären Heroismus des Proletariats und auf die Erfolge der Kanton-Regierung verwiese, um zu beweisen, dass mit der proletarischen Politik alles zum besten stünde. Die Tatsache, dass Arbeiter und revolutionäre Soldaten Shanghai erobert haben, ist großartig. Aber noch bleibt die Frage bestehen: Für wen haben sie es erobert? Geht man davon aus, dass es in China »zwei einander äußerst feindlich gesonnene Lager« gibt, dann ist klar, dass Shanghai aus den Händen des einen in die des anderen übergegangen ist. Realisiert man aber, dass es in China drei Lager gibt, dann erhält die oben aufgeworfene Frage erst ihren vollen Sinn.

Das Problem des Kampfes für eine Arbeiter-und-Bauern-Regierung darf auf keinen Fall mit dem Problem der »nicht-kapitalistischen Entwicklungswege« Chinas identifiziert werden. Diese zweite Frage darf nur bedingt und nur unter der Perspektive der Entwicklung der Weltrevolution gestellt werden. Nur ein völliger Ignorant von der Gattung der Sozialreaktionäre kann glauben, das heutige China mit den gegebenen technischen und ökonomischen Bedingungen sei in der Lage, aus eigener Kraft die kapitalistische Phase zu überspringen. Eine derartige Auffassung wäre die bösartigste Karikatur auf die Theorie des Sozialismus in einem Lande, führte sie ad absurdum und erwiese der Komintern einen Dienst, als deren Tätigkeit auf solche Weise ein für allemal von diesem Unsinn befreit wäre. Wenn also die Frage nach dem Übergang der chinesischen Revolution in eine sozialistische heute von nur fakultativer Bedeutung ist, der Entwicklung der proletarischen Weltrevolution gänzlich untergeordnet, so ist die Frage nach dem Kampf um eine Arbeiter-und-Bauern-Regierung sowohl für den Gang der chinesischen Revolution als auch für die Erziehung des Proletariats und seiner Partei zur Revolution von unmittelbarer Bedeutung.

Wir wissen, wie kompliziert und widersprüchlich der Verlauf einer Revolution ist, zumal in einem so gigantischen und überwiegend rückständigen Land wie China. Die Revolution kann noch manche Ebbe und Flut erleben. Wofür wir unbedingt im Lauf der Revolution sorgen müssen, ist eine selbständige Partei des Proletariats, die die Revolution unter dem Aspekt der drei Lager einschätzt und um die Hegemonie im dritten Lager und damit in der ganzen Revolution zu kämpfen vermag.

Ich muss sagen, dass mir vollkommen unverständlich ist, warum in China nicht die Räte-Losung ausgegeben wird. Gerade der Kurs auf die Räte könnte zu einer Kristallisation der Klassenkräfte führen, entsprechend der neuen Etappe der Revolution und nicht der organisatorisch-politischen Tradition von gestern, für die die jetzige Guomindang steht. Wie sich die Guomindang umgestalten würde, wenn sich die KP von ihr trennte, ist ein besonderes Problem, das für uns erst an zweiter Stelle steht. Die Voraussetzung für alles weitere ist die Selbständigkeit der proletarischen Partei. Die Form ihrer engsten Zusammenarbeit mit dem Kleinbürgertum in Stadt und Land sind die Räte als Organe des Kampfs um die Macht. Da ein Großteil der chinesischen Revolutionstruppen noch immer sehr amorph und unter den Kommandeuren der Einfluss der Bürger- und Gutsbesitzersöhnchen sehr stark ist – mit allen sich daraus ergebenden Gefahren für die Zukunft der Revolution –, sehe ich keine andere Möglichkeit, diesen Gefahren entgegenzuwirken, als dadurch, dass man den Arbeiterräten Soldatenräte zur Seite stellt.

Natürlich müsste das Verfahren bei der Wahl der Räte strikt den Bedingungen und Besonderheiten der Stadt oder des Dorfes der entsprechenden Region bzw. der Armee usw. angepasst werden, um nicht reaktionären Elementen ein zufälliges Übergewicht zu geben oder die Revolutionstruppen zu desorganisieren. Doch ich wiederhole: Ich sehe keine andere Möglichkeit, die revolutionäre Bewegung und die aus ihr erwachsende revolutionäre Macht zu erproben und zu organisieren, als das Rätesystem. Warum wird nicht darüber gesprochen? Erklären Sie mir das bitte! Ich verstehe es einfach nicht.

Anstatt klar und deutlich die Frage des Kampfes für eine Arbeiter-und-Bauern-Regierung in Form von Arbeiter-und-Bauern- (und Handwerker-und-Soldaten-)Deputiertenräten aufzuwerfen, befasst man sich mit der künstlichen und deshalb reaktionären Verewigung einer Organisation von gestern – der Guomindang; man zwingt die KP, sich der Disziplin einer bürgerlichen Organisation zu unterwerfen und tröstet sie zugleich mit nicht-kapitalistischen Entwicklungswegen.

In seiner Rede hat Genosse Rafes davon gesprochen, dass man die jetzige Guomindang als »Transmissionsriemen« erhalten müsse. Wann immer Leute vom Marxismus abweichen, ersetzen sie den Klassenbegriff durch leere Bilder aller Art. Ein Transmissionsriemen ist eine gute Sache. Man muss nur wissen, was damit auf wen übertragen wird. Die Guomindang weist der KP einen strikt definierten Platz in der Organisation zu, unterwirft sie der ideologischen Disziplin des Sunyatsenismus und wird so unvermeidlich die Macht den einflussreichsten, gewichtigsten und gebildetsten Elementen des »vereinigten« nationalen Lagers übertragen, d.h., schlicht gesagt, der liberalen Bourgeoisie. So ist also die Guomindang unter den jetzigen Bedingungen ein »Transmissionsriemen« der Bourgeoisie, mit dessen Hilfe sie sich die revolutionären Volksmassen politisch unterwerfen kann. Jede andere Interpretation ist Dummheit oder Scharlatanerie.

Die Vertreter der Guomindang (diejenigen mit Köpfchen) verlangen von den Kommunisten nicht nur, dass sie sich der »revolutionären Disziplin« bedingungslos unterwerfen, sondern verweisen dabei auch auf die Erfahrungen der Oktoberrevolution mit ihrer Einparteidiktatur. Wir unterstützen unsererseits diese Sicht der Dinge, indem wir die chinesische KP gegen ihren Willen dazu zwingen, in die eine Guomindang einzutreten und sich deren Disziplin zu unterwerfen. Dabei eliminieren wir eine »Kleinigkeit« in unserer Rechnung: dass sich nämlich in China nicht ein sozialistischer Umsturz vollzieht, sondern eine bürgerlich-nationale Revolution, die »zu Ende« geführt, nicht die Diktatur einer Partei bedeutet, sondern die Garantie für ein Maximum an Demokratie, also unserer Ansicht nach vor allem die volle Freiheit für die Partei des Proletariats. Jetzt, wo die Wogen hochgehen, gibt es nichts Leichteres, als das Lied vom nicht-kapitalistischen Entwicklungsweg anzustimmen. Doch gleich bei der ersten größeren Stockung der Revolution, um so mehr noch bei einer Ebbe, wird sich zeigen, dass in China das wichtigste Instrument des revolutionären Kampfes und des revolutionären Erfolges fehlt: eine selbständige kommunistische Partei, die Erfahrungen sammelt und die Situation versteht.

P.S. In Ihrer Broschüre heißt es, das Streikkomitee von Hongkong-Kanton sei die »chinesische Version eines Rats von Arbeiterdeputierten«. Das ist vollkommen richtig, wenn man unter »chinesischer Version« nicht irgendwelche ausschlaggebenden nationalen Besonderheiten versteht, sondern die Charakteristik eines Entwicklungsstadiums des Rätesystems: es sich also um einen Deputiertenrat der Art handelt, wie es ihn im Sommer 1905 in Iwanowo-Wosnessensk gegeben hat. Warum kann dieses System nicht weiterentwickelt werden? Was steht dem im Wege? Ich behaupte: die Tatsache, dass die KP an Händen und Füßen gebunden ist. Wenn man sie dazu aufruft, offen um ihren Einfluss auf die Arbeiter und durch die Arbeiter auf die Bauern zu kämpfen, und zwar unter dem Banner des Marxismus, nicht des Sunyatsenismus, und gleichzeitig die Zusammenarbeit mit allen revolutionären Elementen, Gruppen und Schichten des Kleinbürgertums in Stadt und Land zu suchen, dann lässt sich keine bessere Form für diesen Kampf und diese Zusammenarbeit denken als die der Räte.

P.P.S. Ich hätte Ihren Worten von den »zwei Lagern« nicht so große Bedeutung beigemessen, wenn nicht am Anfang Ihres Buches eine Widmung an die Guomindang und an die KP stünde. Eine solche Widmung halte ich für einen schwerwiegenden Fehler. Die Guomindang und die KP – das sind die Parteien zweier verschiedener Klassen. Man kann nicht beiden zugleich ein und dasselbe Buch widmen. Man kann mit der Guomindang ein Bündnis schließen, doch muss man diesen Verbündeten beobachten wie einen Feind: Sentimentalität ist bei diesem Verbündeten fehl am Platz.

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